Harry Crews - Der Fluch / The Gypsy's Curse

  • Der Autor (laut Wikipedia): Harry Eugene Crews war ein US-amerikanischer Autor von Romanen, Theaterstücken, Kurzgeschichten und Essays, der am 7. Juni 1935 in Bacon County, Georgia, geboren wurde, in ärmlichen Familienverhältnissen unter Farmern während der Großen Depression aufwuchs, der früh seinen Vater verlor, mit seiner neu verheirateten Mutter nach Florida umzog, als Marine im Koreakrieg kämpfte, an der University of Florida studierte, heiratete und sich scheiden ließ, als Schriftsteller schon 1968 mit seinem Debütroman „The Gospel Singer“ Aufmerksamkeit erzielte und Erfolge feierte, zum Alkoholiker wurde, 30 Jahre als Dozent für Kreatives Schreiben arbeitete, 1997 in den Ruhestand ging, um sich völlig dem Schreiben zu widmen, und am 28. März 2012 in Gainesville, Florida, starb. In seinen teilweise autobiografischen Büchern beschrieb er oftmals düster-groteske Figuren, in „Car“ von 1972 zum Beispiel einen Mann, der sein Auto in kleinen Portionen verspeiste, und „A Feast of Snakes“ von 1976, das von einem alljährlich stattfindenden Klapperschlangen-Rodeo handelt, das einen ganzen Ort gefangennimmt. Er gilt als ein wichtiger Vertreter der beißend-satirischen Südstaaten-Literatur, als Kultautor des „Southern Gothic“.


    Die wenigen Werke in deutscher Übersetzung sind: Naked in Garden Hills (1969, dt. Nackig in Garden Hills, 2009), The Gypsy's Curse (1974, dt. Der Fluch, 2006), Scar Lover (1992, dt. Scar Lover, 2009), Celebration (1998, dt. Florida Forever, 2015).


    Der Roman "The Gypsy's Curse" von 1974 erschien im Jahr 2006 in deutscher Übersetzung von Stefan Ehlert als "Der Fluch" im Bremer Kleinstverlag "Mox und Maritz", mit an Egon Schiele erinnernden Illustrationen Asbjørn Skou - und leider relativ vielen Rechtsschreibfehlern.


    Um es vorneweg zu sagen: Ein so toller Autor ist mir lange nicht mehr untergekommen. Wie er es schafft, in diesem ruppigen Buch voller gesellschaftlicher Außenseiter mit so großer Würde und Zärtlichkeit eine so allgemeingültige Geschichte über menschliche Leidenschaften, über Liebe und Wut, Scheitern und Weitermachen, über Langeweile, Todessehnsüchte, Traurigkeit und Lebensträume zu erzählen, ist mir fast unbegreiflich. Eine wilde Schönheit, ein Blick in neue Abgründe, ein Schlag ins Kontor, eine Befreiung von ähnlicher Wirkung wie für manche der erste Kontakt mit Gedichten von Bukowski oder den großen Romanen von Jim Thompson.


    Der Roman handelt von dem ungefähr 20-jährigen Marvin Molar, einem taubstummen Artisten, der mit verkümmerten Beinen geboren wurde. Während des Tages oder während seiner Auftritte bindet er sie sich an den Körper und läuft auf seinen Händen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Kraftmensch und Balance-Künstler, der auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und bei Auftritten in Shopping Malls seine Fertigkeiten zur Schau stellt: Blitzschnell klettert er aufgetürmte Steinberge in die Höhe oder stemmt sich mühelos in den Zweifingerstand. Manchmal schafft er es auch, seine 45 Kilogramm auf nur einem Finger in die Luft zu drücken und sich um die eigene Achse zu drehen.
    Als Dreijähriger wurde er von seinen Eltern verlassen und auf der Treppe eines heruntergekommenen Fitnessstudios abgelegt. Mit drei Jahren wohlgemerkt, nicht als Neugeborener! Wer ein blutendes Herz hat, wird wissen, dass das einen Unterschied macht. Aber böse Menschen sind seine Eltern trotzdem nicht gewesen: Auf dem beigelegten Zettel voller Schreibfehler stand, sie hätten es versucht, aber konnten es einfach nicht mehr schaffen.


    Das Box- und Fitnessstudio „Fireman's Gym“ wird von dem über 70 Jahre alten, schweigsamen Kraftmenschen Al Molarski geführt, dessen Kopf bei einer Bühnennummer einst von einem Auto überrollt wurde und der von sich immer in der dritten Person redet. Neben Marvin leben dort in den Hinterzimmern noch ein etwas unbedarfter Sechzehnjähriger aus Georgia namens Leroy, der die Räume sauber hält und glaubt, er trainiere für seinen nächsten großen Kampf, und ein 70-jähriger ehemaliger, schwarzer Preisboxer namens Pete, der in seinem Leben schon zuviel auf die Birne bekommen hat, aber freundlich, lebensklug und hilfsbereit ist.


    Eines Tages bietet Marvin seiner heißen Freundin Hester an – sie ist nicht taubstumm, aber ihre Eltern sind es -, fürs erste im Fireman's Gym unterzukommen, als sie von Zuhause ausziehen will. Er ahnt, dass das Auftauchen einer jungen Frau für Unruhe im Männerhaushalt sorgen wird. Aber so wird sie wenigstens nicht auf das Boot ihres griechischen Exfreundes und Schwammfischers Aristoteles ziehen, dem ärgsten Konkurrenten um ihre Gunst. Und tatsächlich nimmt das Geschehen eine immer dunklere, unschöne Wendung, da Hester die Männer in ihrer Nähe, beabsichtigt oder nicht, dazu anspornt, schon aufgegebene Träume wieder anzupacken, „es noch mal wissen zu wollen“, auch auf die Gefahr hin, sich zum Affen zu machen. Alle scheinen aufzublühen im Schatten Hesters – doch schießen sie dabei leider über das Ziel hinaus! Hester, eine Frau, die sich schnell langweilt – und dann die Dinge umkrempeln will, sie interessanter machen will. Eine Frau, die jemanden sucht, der sie so sehr liebt, dass er sie umbringen wird. Das kann nicht gutgehen …


    Ein düsteres, verdrehtes Buch über Dinge, die man tun muss, auch wenn man weiß, dass sie einen fertigmachen werden, voll zweitklassiger Boxer, Eisenfreaks und fanatischer Bodybuilder (allein die Nebenfigur Russell the Muscle lohnt den Kauf des Buches), eine Ansammlung von Freaks, Versagern und Enttäuschten. Ein fantastischer Roman, hart und melancholisch, der alle seine Figuren liebt und ernst nimmt, sie niemals vorführt oder lächerlich macht, und in ihre verschwitzte, heruntergekommene Welt ein Höchstmaß an Herz und Aufrichtigkeit hineinpackt. Melodramatisch sehr hochgefahren, anrührend und packend, voller Saft und Kraft und Überlebenswillen. Es gibt nichts an diesem Buch, das ich nicht abgrundtief liebe. Ein unvergessliches Meisterwerk! :pray:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Eine englische Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 1976.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)