Georg Klein - Roman unserer Kindheit

  • Der Autor (nach Buchinfo und Wikipedia): Über den Schriftsteller Georg Klein, der Ende März 1953 in Augsburg geboren wurde und nach dem Abitur Germanistik, Geschichte und Soziologie studierte, kursieren neben Angaben zu seinen Veröffentlichungen und Auszeichnungen (z.B.Ingeborg-Bachmann-Preis 2000 und Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse 2010) wenige Informationen im Internet. 1984 erschienen erste Erzählungen in deutschen Literaturzeitschriften. Seine erste Buchveröffentlichung, der Agentenroman Libidissi, wurde 1998 als eines der besten deutschsprachigen Bücher des Jahres gefeiert. Weitere Werke sind unter anderem der Erzählungsband Anrufung des Blinden Fisches von 1999, die Detektivgeschichte Barbar Rosa von 2001 und die Romane Die Sonne scheint uns von 2004, Sünde Güte Blitz von 2007, Roman unserer Kindheit von 2010 und Die Zukunft des Mars von 2013.


    Inhalt (nach Amazon): Ein scheinbar ewiger Sommer umfängt Neubaublöcke, amerikanische Kasernen, ein verlassenes Wirtshaus unter uralten Kastanien und die Laubenkolonie, wo die Kinder der Neuen Siedlung sich die großen Ferien vertreiben. Langsam, kaum merklich, sickert das Unheimliche ein: Ein Mord wird angekündigt, dann kommen die Boten, buchstäblich aus einer anderen Welt. Und es sieht aus, als könnten sie zumindest eines der Siedlungskinder auf die Nachtseite dieses Sommers hinüberziehen.


    Der in recht artifizieller, dafür aber auch perfekt beherrschter Sprache geschriebene Roman fängt wirklich grandios einige typische Erinnerungsorte einer Neubau-Kindheit ein, wie sie für die Fünfziger-, Sechziger- und meiner Erfahrung nach wenigstens auch noch Siebzigerjahre und darüberhinaus Bestand haben sollten: Rumhängen auf dem Spielplatz, Aufpassen auf die kleine, nervige Schwester, Stürze und Verletzungen beim Radfahren, Erwachsene, die einem schlüpfrige Witze erzählen oder über die Haare streichen, Klettern auf Bäume und Laubendächer, durch Schuppen stromern, im Zeitschriftenladen rumblättern, Süßigkeiten kaufen und Wundertüten auf ihren möglichen Inhalt abtasten oder das scheele Beäugen der mit der eigenen Bande irgendwie verfeindeten Kinder aus dem heruntergekommenen Häuserblock, die die Gehwege mit ihren Rädern blockieren und einem schon wiederholt mit Prügel gekommen sind - vorpubertärer Standesdünkel. Der Leser kann sich daran erinnern, wie es war, eine Kletterstange anzufassen, von deren Metall der Rost abblättert, an Affenschaukeln kopfüber an Teppichklopfstangen, an Sand zwischen den Zehen und über alles sich legend die große Langeweile in schwüler Hitze, das Abwarten, bis einem Mitglied der Kinderbande ein rettender Gedanke kommt, wohin man abzischen kann, um sich die freien Stunden zu vertreiben. Die Mütter linsen aus den Fenstern in den Hof, während sie die Hausarbeit machen, die Väter sind auf Arbeit oder vertreiben sich auf dem Fußballplatz die Sonntage. Es gibt Mauscheleien und Treppenklatsch. Die Frauen tragen Kittelschürzen und trinken Löskaffee. Frühsechziger-Spießeridylle eben.


    Dann zieht der geheimnisvolle "Mann ohne Gesicht" in die Siedlung (in oder bei Oberhausen), der bisher anscheinend einsam im Wald gewohnt hat, wo er nur hin und wieder mit Waldarbeitern und den Mäusen ein Gespräch geführt hat. Er ist ein offensichtlich Kriegsversehrter mit verbrannten Ohren und ohne Nase, der die untere Hälfte seines Gesichtes hinter einem Molltontuch verbirgt. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht allzu lange her. Der neue Mieter scheint nicht böse zu sein. Die Kinder beäugen ihn, das Ereignis, sehr interessiert, das Mädchen der Kinderbande besucht ihn sogar zuhause, was von den Eltern nicht gerne gesehen wird. Lauert hier eine Gefahr? Er scheint irgendetwas auszuhecken, immerhin ritzt er in seinen Küchentisch einen Lageplan der Siedlung ein und bastelt sich Modellhäuschen der Wohnblöcke. Um in die Siedlung ziehen zu können, deren Wohnungen für Verheiratete und Familien reserviert sind, hat er sich sogar einen Trauschein fälschen lassen und eine bald nachziehende Familie ersponnen. Bald tauchen noch zwei weitere Invaliden auf. Ist es ihre Absicht, eines der Kinder vor einer bösen Gefahr zu bewahren?


    Die ganze Stimmung wird immer unheimlicher. Außerdem umgibt den weißen Wohnblock - in der Siedlung haben die Wohnblöcke jeweils unterschiedliche Farben - ein großes Geheimnis: Er ist unbewohnt, leer, nie fertig gebaut und versiegelt. Keines der Kinder war jemals in seinem Inneren. Wieso scheint aber bei einem zufällig erhaschten Blick in ein Zimmer im ersten Stock eine grüne Tapete an der Wand zu sein, die dort nicht sein dürfte, da diese Etage quasi noch im Rohbauzustand sein müsste? Und was haben die ganzen Vögel in dem menschenleeren Wohnblock zu suchen? Wohin führt der unterirdische Gang, der in der hohlen Buche beginnt? Was ist in der plötzlich im Hof aufgetauchten Sperrmüll-Couch versteckt? Und vor allem: Warum verhält sich die kleine Schwester plötzlich so seltsam, nachdem sie spätabends einmal verschwunden war, und nach verzweifelter Suche dann ohne Schuhe und Socken wiederaufgetaucht ist? Ihre Schuhe werden die Kinder später an eine Wand angenagelt wiederfinden ...


    Zunächst heißen alle Kapitel entweder "Sonnentag" oder "Regentag". In der zweiten Hälfte mischen sich plötzlich "Sommernächte" hinzu ... Bis dahin war ich sehr berrauscht von dem Buch und dem Erzählstil, dessen genaue Wortwahl es erst ermöglicht, Vorgänge, Sachverhalte und Stimmungen zu beschreiben, die von lausigeren Schreibern niemals so stimmig festgehalten werden könnten, die sie vielleicht noch nicht einmal als relevant für die Erzählung oder das Wecken einer bestimmten Erinnerung beim Leser ausgemacht hätten: Geräusche von rausfloppenden Thermoskannenstöpseln, der Geruch von der Wärme erhitzten Gummis, das Gefühl nach hinten überdehnter Schultern, um Rucksäcke abzusetzen - solche Dinge.


    Leider hat mich die zweite Buchhälfte, wenn die Kinderbande fast in Enid-Blyton-Manier auf Entdeckungsreise ins Ungewisse geht, gewissermaßen hinter die Fassade geblickt wird und - vielleicht etwas banal - gezeigt wird, dass alles Helle auch eine dunkle Seite hat, erstaunlich kalt gelassen. Oder ist es alles vielleicht nur „ein Roman“ einer Kindheit, ausgedacht von der jugendlichen Hauptfigur, die das Erzählen so liebt? Ist der zweite Teil die ins Katastrophale gekippte Variante des im Grunde beschränkten, langweiligen Kinderalltags, erzählt vom "Älteren Bruder" (am ehesten ein Alter Ego Georg Kleins), den alle Jüngeren immer um Geschichten anhauen? Eine kindliche Sichtweise, die die Brüche im Gebälk der Erwachsenenwelt bloßlegt? Die Kinder und die an den Rand gedrängten Invaliden, die an einem Strang ziehen? Eine kindliche Weltsicht und Kinderwissen, was die meisten im Zuge des Erwachsenwerdens vergessen? Aber wer ist dann die andere Erzählstimme, die sich dann und wann wie von oben beobachtend ins Geschehen einmischt? Ich werde den Teufel tun, und es verraten! :P


    "Roman einer Kindheit" ist ein sehr anregendes, vielschichtiges und komprimiertes Lesevergnügen, das ich bei allen Einwänden nicht missen will, dazu haben sich mir die Figuren und Orte zu intensiv eingebrannt: Ich folgte gebannt den Vorgängen, immer in latenter Ungewissheit, wohin mich der Erzähler lotsen will, bis ich dann etwas ratlos dem Zerfallen jeglicher Ordnung zuschauen konnte. Wer sich dann aber über seine Ratlosigkeit oder etwa den Autor ärgert, anstatt sich selbst Gedanken zu machen, ist natürlich selber schuld! Ich sage: Rausch, mit kleinem Kater. Die vorhandenen Abschiedsschmerzen ruinieren nicht die Qualität der gemachten Erlebnisse. Unheimlich und gut, gewissermaßen abstrakt, aber im Grunde weniger intellektuell, als es zunächst scheint.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)