Tom Perrotta - Die Verlassenen / The Leftovers

  • An einem 14. Oktober Anfang des 21. Jahrhunderts (das Jahr wird nicht genannt) verschwinden plötzlich Menschen, spurlos und unwiederbringlich. Sie werden nicht entführt oder gehen fort, sondern sie sind einfach von jetzt auf nachher nicht mehr da, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Niemand kennt den Grund für das Phänomen, es zeichnet sich auch kein Muster ab. Es verschwinden Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Kinder und Erwachsene, Gläubige und Atheisten, Reiche und Arme. Vorsorglich werden öffentliche Ereignisse abgesagt, Schulen geschlossen, der Bevölkerung wird geraten, möglichst zu Hause zu bleiben.


    Doch als keine weiteren Menschen mehr verschwinden, kehrt nach und nach wieder, soweit es geht, Normalität ein. Die Zurückbleibenden versuchen, mit ihren Verlusten klarzukommen und zu ergründen, was da genau geschehen ist. Kirchen und Sekten verzeichnen großen Zulauf, doch auch sie haben keine Erklärung für das Verschwinden so vieler. Die große Erlösung bzw. Himmelfahrt für gottgläubige Menschen kann es nicht gewesen sein, denn es trifft auch viele, die einer anderen – oder gar keiner – Religion angehören, ebenso wie Homosexuelle und andere Gruppen, die nach streng christlicher Lesart nicht in den Himmel gelangen dürften.


    Kevin Garvey ist der Bürgermeister einer beschaulichen Kleinstadt. Auch an ihm ist der 14. Oktober nicht spurlos vorübergegangen. Seine Familie ist praktisch zerfallen, auch wenn Frau und Kinder nicht verschwunden sind. Seine Frau Laurie schließt sich einem neu gegründeten Schweigekult an, in dem sich Hinterbliebene zusammenfinden, die wegen ihres Überlebens Schuldgefühle haben; sein Sohn Tom wandelt auf ähnlichen Pfaden und läuft einem dubiosen Heiler mit sektenartigem Gefolge nach, der behauptet, durch Umarmungen Krankheiten kurieren zu können; und seine Tochter Jill lebt zwar noch zu Hause, hat sich von ihrem Vater aber völlig entfremdet und macht, beeinflusst von einer neuen Freundin, was sie will.


    Nora Durst ist wohl diejenige, die es in Mapleton am schlimmsten getroffen hat, denn ihre komplette Familie ist verschwunden, und sie leidet nicht nur unter dem Verlust von Ehemann und Kindern, sondern auch darunter, dass niemand so richtig zu wissen scheint, wie man mit ihr umgehen soll.


    Ausgehend von einer ziemlich abstrusen Grundidee strickt Tom Perrotta eine gesellschafts- und religionskritische Geschichte, die mich nicht zuletzt durch die gelungene Charakterzeichnung und den Blick für Alltagsszenen angesprochen hat. Durch die fünf verschiedenen Erzählstimmen (die der vier Garveys und Nora Dursts) und somit auch fünf Arten, mit einer stark veränderten Welt und Gesellschaft zurechtzukommen, gewinnt der Roman an Vielschichtigkeit und deckt eine Fülle von Themen ab, ohne überfrachtet zu wirken.


    Insbesondere bei den (pseudo)religiösen Welten, in die sich Tom und Laurie flüchten, zeigt Perrotta auf glaubhafte Weise, wie verzweifelte, überforderte Menschen sich oft auf reichlich fragwürdige Regeln und Strukturen einzulassen bereit sind, weil sie sich davon Trost und Zuflucht erhoffen. Da schwingt auch ein Gutteil Kritik an institutionalisierter Religion mit.


    Perrottas Charaktere sind wie aus dem Leben gegriffen und mit viel Einfühlungsvermögen gezeichnet, auch wenn es sicher hier und da zu kleinen Überzeichnungen kommt. Und obwohl das Buch einen ernsten und auch ein wenig melancholischen Grundton hat, gibt es doch immer wieder Szenen mit viel trockenem, ironischem Humor, die ein wenig auflockern.


    Wer beim flüchtigen Lesen des Klappentextes glaubt, es hier mit irgendwelchem evangelikal angehauchten Endzeit-Quatsch wie der in USA so beliebten „Left Behind“-Serie zu tun zu bekommen, sollte noch einmal genauer hinschauen, denn er verpasst sonst womöglich einen sehr gelungenen Roman.