Viktor Pelewin - Snuff (Start: 29.05.15)

  • Teil 2 Kapitel 10 Spastika (Seite 421 – 438):


    Grimm konzentriert sich mittlerweile als Sommelier auf den Umgang mit dem „kreativen Schreibassistenten“, wie ihm in einem früheren Kapitel von Aljona-Libertina geraten worden war. Dabei lernt er, wie dieses hochentwickelte Textverarbeitungsprogramm auch seine krudesten Gedanken auf mannigfaltige Stil- und Ausdrucksformen und mit reichlichen Ausschmückungen wiederzugeben vermag. Dafür erhält Grimm Punkte bzw. „Manitus“ – je besser seine Textfragmente ankommen, desto mehr Punkte gibt es für ihn. Auf mich wirkt dies wie ein Zwischending aus sozialem Medium und einem Computerspiel.
    Grimm macht dabei die Erfahrung,

    Zitat von Viktor Pelewin

    dass er seine besondere Nische in der Welt entdeckt hatte. Und dies war, soviel hatte er bereits begriffen, das Wichtigste für einen jeden Menschen.
    (sh. S. 424)

    Man könnte fast behaupten, er sei im Begriff, sich voll und ganz in das System des Big Byz zu integrieren.


    Doch Grimm macht sich Gedanken, warum man gerade ihn zur Textgestaltung benötige, wo doch der kreative Schreibassistent eigentlich viel besser schreiben kann als er selbst:

    Zitat von Viktor Pelewin

    … und kommt zum Ergebnis, dass es wohl um die authentische orksche Intention, um den knorrigen verbalen Embryo und um die speziellen Giftspritzer ging, die er sich entlocken konnte – denn die Herrschaften waren dazu nicht mehr in der Lage.
    (sh. S. 424)

    Das liegt möglicherweise am Syndrom der Abstumpfung durch Globalisierung von Geschmack und Stil. Dabei geht es ja auch im Grunde in unserer "Realität" darum, den Menschen eine Individualisierung, und zwar ausgerechnet durch Massenprodukte vorzugaukeln - bestes Beispiel: wer sich, wie Abermillionen andere, Möbel ins Haus holt, die im Lande des goldenen Elchs entworfen wurden, oder Produkte aus dem digitalen Anwendungsbereich der „i-gitt“-Marke verwendet, glaubt tatsächlich an seinen eigenen individuellen (und auch noch „guten“) Geschmack und seine angebliche „Coolness“. smile15.gif Nochmal: was ist individuell an meinem Geschmack, an meiner Wesensart, was ist mir eigen, wenn ich mich gerade durch den Besitz von Massenprodukten profilieren will und mitteilen möchte, wer ich bin? … Genau: ich bin einer von denen, der sich nicht von Millionen und Abermillionen anderen unterscheidet, ich gehöre zur Mainstream-Masse der Möchtegern-Coolen … nee, sonst nix, nur Masse, einfach Einheitsbrei-Personalität. Wir beweisen doch gerade damit, dass nichts Individuelles an uns dran ist, null und gar keine Individualität.


    Und doch: auch wenn Grimm meint, seine „Nische“ gefunden zu haben … irgendwas scheint nicht richtig zu laufen. Je stärker seine Einsichten werden, desto weniger Punkte bekommt er. Klare Sache: je näher er an der Wahrheit dran ist, je stärker er auf die Verlogenheit des Big Byz Bezug nimmt, desto weniger Manitus verdient er. Grimm hatte ja, im Gegensatz zu Chloe, schon immer Probleme mit dem Lug und Trug , mit dem ganzen Fake dort oben. Textentwürfe zum Thema „Wahrheit der Lebensroutine“ kommen im Big Byz gar nicht an. Naja, das kennen wir, es gibt schließlich auch andere Orte, die nicht in der Fiktion angesiedelt sind, in denen die Frage nach dem Sinn nicht gut ankommt …


    Auch auf Partys, die Grimm mit Chloe besucht, wird klar, dass er mit ihr nichts gemein hat. Chloe fühlt sich in Schein und Glamour gut, vor allem in zugedröhntem Zustand, während Grimm damit nichts anfangen kann. Ein „Schriftsteller“ erklärt ihm auf einer dieser Partys, dass man sich, um finanziellen Erfolg zu haben, mit der Lage identifizieren und gleichzeitig individuell und prägnant daherkommen muss. An „Individuell und prägnant“ fehlt es Grimm sicherlich nicht, aber die Sache mit der „Identifikation mit der Lage“ dürfte in seinem Fall wohl eher aussichtslos sein.
    Chloe verlässt ihn schließlich ganz und gar, für ein Versprechen einer Rolle in einem Snuff-Film zieht sie zu einem Regisseur.


    Und so bleiben zwei verkrachte Existenzen zurück: Grimm mit seiner Anpassungs-Unfähigkeit, Damilola mit seinem Kummer, weil er von Kaya sitzen gelassen wurde. Damilola rät Grimm vom Entwurf sozialkritischer Textfragmente ab:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Für die Errichtung der Demokratur haben die besten Pornoschauspieler von Big Byz ihr Leben gelassen. Wenn du in unserer Gesellschaft lebst, musst du ihr Andenken in Ehren halten.


    (sh. S. 434)

    Pelewin spielt in diesem Kapitel ziemlich viel mit Anspielungen sowohl auf soziale als auch auf politische Zwänge, z.B.: ein Polit-Technologe ist


    Zitat von Viktor Pelewin

    ein Wahl-Sommelier in Gesellschaften ohne freie Wahlen
    (sh. S. 434)


    Damilola trägt sich bereits mit Plänen, mittelfristig eine neue Sure zu erwerben, wofür er deshalb bereits an allen Ecken und Enden spart.
    Grimms letztes Textfragment, das in einem Snuff-Film verarbeitet wurde, ist so aggressiv und direkt, dass es dort nur noch als „Beispiel für kriminelle Hate-Speech“ verwendet werden konnte. (sh. S. 438) Eindeutig: Grimm schafft die Anpassung ins System des Big Byz nie und nimmer. Dafür ist er (glücklicherweise) zu integer, zu authentisch.



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    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Hallo,


    ich will nur mal rasch zwei aktuelle Beispiele aus den Zeitungsmeldungen der letzten Woche posten, in denen sich zeigt, wie sehr sich unsere "Wirklichkeit" der "Fake-Welt" des Off-Globes "Big Byz(antium)" bereits gleicht, obwohl man doch beim Lesen eigentlich den Eindruck einer entschiedenen Extrapoation gewinnt. Vielleicht haben wir unsere Kunst der Verdrängung mittlerweile schon so sehr intensiviert, dass wir gar nicht mehr zwischen Realität und Illusionstotale unterscheiden können ...? :-k

    • Beispiel: Wir haben die Aussichten aus den Gebäuden und der Umgebung der öffentlichen Plätze im Big Byz als 3D-Projektion kennengelernt, als fake und künstlich also. Ich hatte bereits diese grausigen Las Vegas-Hotels erwähnt - immerhin kehren die Menschen dort nach einem Kurz-Aufenthalt dort in ihre "richtige" Umgebung zurück. Doch für das, was momentan in China gebaut wird, scheint mir sogar die Bezeichnung "fake" als zu euphemistisch: In der Sektion Finanzen/Immobilien auf der Seite von welt.de vom 22.10.2015 kann man auf sechs Abbildungen sehen, dass Chinesen in Zukunft in nach europäischen Vorbildern nachgebauten Häuservierteln leben können, in Shanghai z.B. kann man in einem pseudo-holländischen Häuserviertel nein, da steht: in einem originalgetreuen Nachbau (Bild 1 von 6), oder in einer dem kleinstädtischen Dorset nachempfundenen Umgebung (Bild 6 von 6) wohnen. In Peking gibt es jetzt ein französisches "Chateau Zhang Laffitte" (BIld 5 von 6). Ich zitiere aus dem Text zu Bild 4: "Für knapp eine Milliarde Euro wird im Süden Chinas das österreichische Örtchen Hallstatt komplett und originalgetreu nachgebaut." Und in Hangzhou gibt es ein Mini-Venedig und ein Mini-Paris mit Eiffelturm ... das ist doch zum allgemeinen Einstimmen in Kollektiv-Kotzen, oder kann es tatsächlich Menschen geben, die bei so einem 'Rumgefake nicht depressiv werden vor lauter Entsetzen?!
      Und es kommt noch besser: In diesem Artikel, auch auf welt.de zu finden, kann man eine Bilderserie anklicken, derzufolge China auch vor einer Kopie von Schloss Neuschwanstein nicht halt machen wird :lol:
    • Ich hatte in meinem letzten Beitrag zu Teil 2, Kapitel 10, vom 20.10.2015, erwähnt, dass Damilola bereits die Anschaffung einer neuen Sure plant. Wie er glaubt, dass dies möglich wird, sagt er auf S. 436:
    Zitat von Viktor Pelewin

    »Zwei Jahre lang werde ich mir Derps reinziehen«, sagte er, »dann nehme ich einen Kredit auf und kaufe sie mir Man sagt, bald wird man für die Orks viel Geld drucken und dann wird man den alten Kredit umschulden können ...«

    • Das hat mich einfach zu stark an Mario Draghi mit seinem Penchant für Vollauslastung der €uro-Druckerpresse erinnert, als dass ich dies hier im Thread unter den Tisch fallen lassen könnte. Nachzulesen z.B. bei Spiegel online vor einer Woche (18.10.2015)


    Da muss ich wieder einmal darauf zurückkommen, dass sich "SNUFF" von den früheren Viktor Pelewin-Romanen dadurch unterscheidet, dass er zwar ebenso fiktiv klingt wie alle anderen, jedoch viel stärker die Sicht des Lesers auf unsere "Realität" ins Wanken bringt und stattdessen auf den Durch-und-durch-Fake unserer angeblichen Wirklichkeit bringt. Das ist schlimm und schwer zu lesen - ich nehme an, es wirkt deshalb so düster, weil man sich als Leser dieser Einsicht nur schwer entziehen kann. Aber mal ehrlich: da muss man durch, da darf man nicht so ein Leser-Weichei sein und lieber in diesem ewigen Betroffenheits- und Gefälligkeits-Realismus schwelgen. Es ist nun mal so, wie es ist. (Das ewige Schönreden bei gleichzeitigem Vollversagen unserer Kanzlerin macht schließlich auch früher oder später jeden einzelnen aggressiv). Besser also, man benennt die Dinge / Situation so treffend und deutlich wie möglich, denn irgendwann bricht der "Schutzwall" der Verdrängung und des Schönredens sowieso.

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  • Da sich der Barde aus Zeitmangel leider aus dieser Minileserunde verabschieden musste, bin ich hier alleine zurückgeblieben. Im Roman fehlen nur noch zwei Kapitel und ein kurzer Epilog, weshalb ich die Zusammenfassungen jedoch in den nächsten Tagen zu Ende zu führen und hoffentlich noch einen kurzen abschließenden Kommentar zu verfassen gedenke.


    Deshalb hier schon mal die Zusammenfassung vom nächsten Kapitel:



    Zu Teil 2 Kapitel 11 Big Byz (Seite 439 - 460):


    Die Sure Kaya scheint für Damilola unwiederbringlich verloren. Es gibt keine Unterstützung seitens des Herstellers mit Verweis darauf, dass durch die von Damilola vorgenommenen Maximaleinstellungen (Hinterfotzigkeit, Spiritualität, Verführung etc.) zum Erlöschen der Herstellergarantie geführt haben.


    Er und Grimm rutschen gleichzeitig in eine finanzielle Misere.
    Bei Grimm läge der Grund zum einen in den hohen Ausgaben von Chloe und zum anderen in dessen Unfähigkeit, sich dem Erfolgssystem im Big Byz zu beugen; sein stures Beharren auf seiner Integrität habe sogar dazu geführt, dass man ihm das Warmwasser abgestellt habe. Auf S. 441 meint Damilola hierzu:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Ich entsinne mich, wie er zu mir kam, um mir eine merkwürdige Beobachtung mitzuteilen: Dieser Scherzkeks hatte einen interessanten Zusammenhang entdeckt. Die Zahlen in der oberen rechten Ecke seines Manitus wurden rot und um ein negatives Vorzeichen ergänzt und gleichzeitig kam nur noch kaltes Wasser aus dem Wasserhahn. Er hatte offenbar noch nicht herausgefunden, was die Ursache und was die Wirkung war.

    Obwohl Grimm als Sommelier anfangs recht gut verdient hatte, scheint er nun nicht zu kapieren, dass er mit seinen

    Zitat von Viktor Pelewin

    jugendlichen Phantasien über den Sinn des Lebens (siehe S. 441)

    im Big Byz überhaupt nicht gut ankomme.
    Deshalb hat sich Grimm entschlossen, seinen Unterhalt von nun an als „Kinderkrämer“ zu verdienen. Dazu bereist er unterschiedliche Gegenden bei den Orks und kauft dort genetisch geeignete Kinder gemäß Adoptionswünschen im Big Byz auf. Das offizielle sexuelle Schutzalter von 46 Jahren erschwert nun mal Schwangerschaften mit gesunden Föten beträchtlich.


    Damilola, der selbst ziemlich knapp an Manitus ist, musste ebenso zu Notlösungen greifen. S.444:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Mich rettete nur ein klitzekleiner Kredit, für den ich mit Hannelore bürgte. (Wie meine Kollegen zu scherzen belieben: Beim Kauf deiner Sure bürgst du mit der Telekamera,beimKauf der Telekamera bürgst du mit der Sure. Und bezahlen müssen es am Ende die Orks, denen man jeden Frühling fünf Tonnen frische grüne Manitus druckt.

    Ha – Mario Draghi braucht keinen Off Globe wie das Big Byz, der macht das bei uns in Frankfurt am Main. Überhaupt erinnert die finanzielle Ethik im Big Byz, wie Damilola sie zeigt, irgendwie auch stark an unsere Bankenkrise 2008: grotesk überhöhte und gänzlich unverdiente Vorstandsboni bei gleichzeitigem megadreisten Herauslangen der Spareinlagen an die übelsten und dubiosesten Kreditnehmer des gesamten Planeten, und das Volk muss dafür zahlen (Die „Orks“ sind also wir und die kleinen griechischen Bürger, auch die kleinen Portugiesen, Spanier und die Letten müssen hier dazu gezählt werden).


    Zur weiteren Aufbesserung seiner eigenen finanziellen Situation muss Damilola per Hannelore des Nachts Feuerwerkskörper über den Gärten und Parks der in obszönem Reichtum schwelgenden Superreichen der oberen Hemisphäre des Big Byz zünden. Ganz klar: diese Superreichen sind gealterte Pornoschauspieler und Banker. Richtig nett ist hierbei, dass Damilola während seiner Drohnenflüge feststellt, dass auch die Superreichen nicht vor kleinlichen nachbarschaftlichen Feindseligkeiten gefeit sind.


    Aber warum befindet sich Damilola eigentlich in einer derart prekären Situation?
    Wie sich herausstellt, hat Kaya sich in einem unbemerkten Augenblick, als Damilola sich einmal nicht ordnungsgemäß vom Surenkontrollsystem abgemeldet hatte, Zugang zu sämtlichen seiner Passwörter verschafft. Jetzt ist also genau der Fall eingetreten, über den wir am Anfang der Leserunde schon einmal nachgedacht hatten – nämlich ob die Sure bei eigenem Zugriff und Manipulation ihrer Kontrolldaten so etwas wie einen freien Willen bezeige, und damit ein „Ich“ manifestiere. Aber das „Ich“ steht mittlerweile, da die Geschehnisse so weit fortgeschritten sind, gar nicht mehr in Zweifel. Kaya scheint tatsächlich subjektiv zu agieren und zu reagieren.
    Jedenfalls hat Kaya die Passwörter benutzt, um mit Käufen von seltsamen Jurten-Konstruktionsmaterialien und diversen Ausrüstungsgegenständen sowie deren Einlagerung bei den Orks das Konto ihres Besitzers leer zu räumen. Diese Erkenntnisse sowie einige rätselhafte Nachrichten zwischen Grimm und Kaya auf Bernard-Henris ehemaligem Manitu lassen Damilola vermuten, dass Kaya irgendwo bei den Orks abgetaucht sei. Es geht ihm ein Licht auf: Grimm und Kaya müssen sich gemeinsam bei den Orks befinden!


    Aufgrund der komplizierten Identifikationsvorschriften wird Damilola Kaya nur dann lokalisieren können, wenn er Grimm ausfindig machen kann, den er schließlich in einer gottverlassenen Gegend aufspürt, die so verstrahlt ist, dass Grimm dort unmöglich in seiner Eigenschaft as Kinderkrämer unterwegs sein kann. Damilola beobachtet den jungen Ork über seine Hannelore dabei, wie er an etwas Große zu basteln scheint und sich mit einem orkschen Bauern in Gesprächen über Wahrheitstäuschung und –verdrängung in den Nachrichten und über die subjektive Unfähigkeit der Wahrheitserkennung führt.
    Aber keine Kaya. Nirgends.
    Das einzige, was Damilola in der Gegend dort findet, ist ein verlassenes Bergwerk, bei dem es sich um den Ort handeln könnte, den Kaya als den Ort erwähnt hatte, an dem sich die sogenannten „Filmverbrenner“ versteckt haben mochten. Beim weiteren Umhersuchen entdeckt Damilola eine direkt an ihn gerichtete Großbotschaft, mit der dieses Kapitel schließt:

    Zitat von Viktor Pelewin

    DAMILOLA!
    KAYA IST SCHON SEIT LANGEM NICHT MEHR HIER.
    SIE IST IN DEN SÜDEN GEFLOGEN.
    EHRLICH. GRIMM.

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  • Ich muss erst einen kleinen Nachtrag posten:

    Ich muss jedoch bemängeln, dass Herr Žižek anscheinend überall sehr ausschweifend und extrem indirekt ein Thema angeht; ich habe oft Mühe zu verstehen, was seine Thesen und Argumentationen mit dem zentralen Thema zu tun haben sollen. (In dieser Hinsicht erinnert er mit seinem ausschweifenden Geschwafel tatsächlich stark an Bernard-Henri in SNUFF, wie Herr Scheck treffenderweise bemerkt hat.

    Da hat Herr Scheck etwas nicht verstanden – und ich Idiot habe seinen Quatsch auch noch voll nachgeplappert – nicht Slavoj Žižek ist das Vorbild für die Figur des Bernard-Henri Montesquieu in SNUFF, sondern der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy. Den habe ich am Samstag nach dem Bataclan-Attentat in Paris nämlich zufällig im Fernsehen gesehen (zum allerersten Mal, wie ich zugeben muss – ich hatte nie zuvor von ihm gehört), wie er auf CNN zur Bedeutung dieser Ereignisse interviewt wurde. Wegen der blasigen Leere seines verbal aufgedonnerten, geschwätzigen Ergusses (und natürlich auch wegen seines Vornamens) habe ich im Netz nach ihm gegoogelt und mir auch zwei Youtube-Videos mit ihm angesehen … so weit reicht mein paukerähnliches Schulfranzösisch (ziemlich gute Grammatik, kein allzu schlechtes Gehör, aber leider zu wenig Wortschatz) gerade noch, dass ich ihn als unverkennbare Vorlage für unseren Diskurs-Krämer aus dem Off-Globe zweifelsfrei identifizieren kann. Pelewin scheint ihn wirklich gut nachgeäfft zu haben, man kann sofort erkennen, wie es ihm in den Fingern gejuckt haben muss, diesen „Oberphilosophen“ zu karikieren – was heißt hier „zu karikieren“? Lévy ist in natura und in sich selbst bereits eine Karikatur …





    Teil 2 Kapitel 12 Big Byz (Seite 461 – 476):


    Damilola entdeckt Grimm, als dieser in einem selbstgebastelten Heißluftballon gen Süden fliegt, und zwar über das gigantische Gebiet einer immensen Müllhalde – ein Gebiet, das außerhalb des bewohnbaren Bereichs liegt und deshalb nie von jemandem oder etwas überflogen wird. Grimm abzuschießen ist für Damilola keine Option, da er die einzige Möglichkeit darstellt, Kaya ausfindig zu machen. Damilola vertreibt sich die Zeit der viele Stunden dauernde Ballonverfolgung mit genüsslichen Rachefantasien ganz im Sinne seiner „Dialektik der Ekstase“:


    Zitat von Viktor Pelewin

    Vermutlich lag es daran, dass mein Gehirn die meiste Zeit des Fluges zwischen drei Zuständen hin und her schwankte: Ich überschlug meine Verluste, dachte darüber nach, wie ich Grimm umbringen, und stellte mir vor, wie ichKaya treffen würde. Am Ende plante ich diese drei Aufgaben gleichzeitig zu lösen, inde ich mich mit Kaya versöhnte, dadurch Grimm tötete und mit seinem Blut einen neuen Kreditvertrag unterschrieb.
    (siehe S. 465)


    Als Grimm nach erfolgter Überquerung der riesigen Müllwüste eine natürlich grüne und friedliche Zone erreicht hat, wird Damilola auf einmal bewusst, dass seiner Hannelore nur noch ganz wenig Energie verbleibt in keinem Fall genug zu einer Rückkehr über die Müllwüste, denn erst auf der anderen Seite gäbe es wieder die Möglichkeit, sie abschleppen zu lassen. D.h. , dass Damilola jetzt also der Verlust der zweiten der einzigen beiden Dinge droht, die ihm etwas bedeuten:


    Zitat von Viktor Pelewin

    Jetzt war es unausweichlich. Es waren lediglich einige Stunden geblieben, bis Hannelore endgültig den Geist aufgeben würde. … Ich konnte mir partout nicht vorstellen, dass ich einfach so mein zweites Ich verlieren würde – oder eher meinen ersten Körper. Der Schmerz war genauso groß wie an dem Tag, als mich Kaya verließ.
    (siehe S. 467)


    Doch Damilola gibt nicht kampflos auf: wenn er schon seine Hannelore verlieren wird, so solle sie wenigstens auch Kaya und Grimm in den Untergang mitnehmen.
    Damilola beobachtet, wie Grimm nach der Landung von bunt gekleideten Orks einer relativ primitiven Zivilisation in Emfang genommen und in ein kleines Dorf gebracht wird, in der er – endlich – Kaya wiedersieht. Sie hält den Dorfbewohnern gerade einen Vortrag, der sich zwar wieder auf das menschliche Verhalten qua chemisch-hormonelle Reaktionen / Ausschüttungen im Körper bezieht, aber jetzt einen esoterisch-wirren Knick hat. --- Soll man hier als Leser folgern, dass auch ein „Ich-Maschinchen“ wie Kaya sich zu einer Knackesoterik-Prediger-Figur entwickeln würde? Dass also alle ((pseudo-)wissenschaftlichen) Erkenntnisse in die Esoterik und damit in „Gläubigkeit“ münden? Ich weiß nicht genau, aber ich habe das Gefühl, dass ich dieser Ansicht / Folgerung tendenziell und aus dem Bauch heraus zustimmen würde (Was wohl auch der Grund sein dürfte, dass mich diese Stelle im Buch zu exakt dieser Fragestellung geführt hat, bzw. ich mich selbst geführt habe …).
    Damilola richtet mit Hannelores allerletzten Akkureserve-Minuten ihre Scheinwerfer sowie das Fadenkreuz ihres Zielfernrohrs auf die sich gerade an einer Waldlichtung im Kopulationsakt befindlichen Grimm und Kaya. Dann drückt er den Auslöser für diein der Hannelore noch verbleibenden Raketen, um das Pärchen zu vernichten.


    . . .


    Ich kann beim besten Willen nicht verraten, was dann passiert.
    Viktor Pelewin ist meines Erachtens einer der begnadetsten Erzähler unserer Zeit, weil er
    1. den Blick hat, auf welche Fragen es im Leben ankommt,
    2. er eine Phantasie hat wie nur ganz, ganz wenige Schriftsteller unserer Zeit, und er
    3. verdammt gute Schlüsse schreibt - so auch hier.
    Kurz: was dann passiert, ist des Lesens genauso wert wie der Rest des Romans. Und: man darf nicht vergessen: es gibt ja auch noch ein Ende nach dem Ende, es gibt es nämlich noch einen Epilog. (Ich hoffe, ich brauche dafür nicht wieder so lange zum Posten.)

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  • Jetzt will ich mal endlich meine Gedanken zu diesem Buch abschließen, so viel schulde ich mir selbst (und ich schleppe sie nicht wieder in den nächsten Monat hinüber):



    Epilog (Seite 477 – 492):


    Damilola erzählt, dass Chloe als eine Art Statistin es mittlerweile in den Snuff-Filmen zu einiger Bekanntheit im Big Byz gebracht hat.
    Die Hannelore ist nun endgültig futsch, sodass Damilola jetzt wieder mit gemieteten Kameradrohnen arbeiten muss. Damit rückt auch die Möglichkeit eines Kredits für eine Sure aus dem Bereich des grundsätzlich Machbaren, da Damilola keine eigene Telekamera als Garantie für einen Kredit bieten kann.


    Wie es mit dem Big Byz weitergeht und was dort am Ende passiert, werde ich leider für mich behalten müssen, obwohl ich auch diesen Abschluss als extrem gelungen finde, weil er einerseits überrascht, aber andererseits absolut schlüssig erscheint. Es wäre jedoch zu schade, das Ende hier im Thread zu verraten und die Geschichte aufzulösen.
    Nur noch ein Zitat von Seite 481:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Man sollte Hunde nie in die Ecke jagen, selbst die nicht, die in eigenen Diensten stehen. Sonst beginnen sie zu beißen. Doch jetzt ist es zu spät, sich an diese alte Weisheit zu erinnern.

    Damilola geht noch einmal die möglichen Gründe durch, die Kaya dazu gebracht haben könnten, ihn für einen kräftigen, jungen und gut aussehenden Ork wie Grimm zu verlassen. Es fallen ihm gleich mehrere mögliche Motive ein, doch für ihn lautet die Ursache letztendlich:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Einfach deshalb, weil sie so programmiert ist. (S. 486)

    Seine Bitterkeit kennt keine Grenzen:

    Zitat von Viktor Pelewin

    Eine Frau ist kein Mensch. Das einzige, was einen Menschen von der Frau erretten kann, ist eine Nutte. (S. 487)

    Auch in seiner Ansicht über die Liebe schlägt diese Bitterkeit voll durch:


    Zitat von Viktor Pelewin

    Ich sehe darin nichts Erhabenes. Die Liebe ist ein ekelhaftes, egoistisches und unmenschliches Gefühl, denn die Besessenheit von ihrem Gegenstand geht einher mit einer mitleidlosen Gleichgültigkeit allem anderen gegenüber. Jedenfalls macht es jetzt auch keinen Unterschied mehr. (S. 487/488)

    Schon irgendwie bezeichnend, dass ausgerechnet der mitleidlose Damilola von „mitleidloser Gleichgültigkeit“ redet – oder spricht er diese sogar ganz bewusst an, nicht obwohl, sondern weil er weiß, dass seine Kaya-Besessenheit bzw. seine gesamte besitzorientierte Besessenheit, die ein Big-Byz-konformes Leben mit sich bringt, sich ebenso auf ihn selbst anwenden lässt?



    Leider kann ich Damilolas Gedanken bezüglich Grimm hier nicht preisgeben, ohne den Ausgang der Handlung zu verraten. Aber was Pelewin seinem Damilola hier in den Mund legt, ist einfach klasse! Damilolas Figur im Buch ist insgesamt ein sehr gut ausgearbeiteter „unzuverlässiger Erzähler“ – vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als das, mit einem Extra-Twist, weil man Damilola in seiner moralisch fragwürdigen Argumentation in der hintersten Ecke des eigenen Bewusstseins womöglich doch zugestehen müsste, dass er sogar ein kleines bisschen Recht haben könnte!


    Die letzte Seiten sind einfach wieder mal typische letzte Pelewin-Seiten: wo andere Autoren einen Roman mit philosophischen Fragen und platten Antworten daherkommen (sh. Donna Tartt in „Distelfink“, der auch noch mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde …), da bohrt sich Pelewin noch einmal tief ins Ich (meinetwegen tief ins „philosophische Subjekt“) – denn wenn er mithilfe solcher Fragen das Ich geradewegs in Frage zu stellen scheint, möchte ich doch wetten, dass jeder Leser gerade auf diesen letzten Seiten sein eigenes Ich so tief wie selten zu verspüren mag.





    Mein Fazit zu Viktor Pelewins "Snuff":
    alles in allem ein ziemlich triftiges Buch unserer Zeit.


    Eine Riesen-Geschichte mit einer ganz eigenen Fantasy-Welt – und doch ist anzunehmen, dass dieser Roman den typischen Lesern des üblichen Fantasygenres missfallen dürfte. Die Handlung und ihr Umfeld wirken in „Snuff“ wie absichtlich leser-abstoßend dargestellt, wobei das repulsive Element noch eine zweite Wirkung haben dürfte, nämlich dass es einen guten Hintergrund bildet, vor dem Pelewin auf ziemlich clevere Art und Weise seine Fragen nach dem „Ich“ (von mir aus nach dem „philosophischen Subjekt“), nach der Wahrheit/dem Realen (und damit einhergehend der subjektiven Wahrnehmung) und die zentrale Frage nach dem Glück (und im weiteren Sinn nach dem Sinn des Lebens?) stellen und ausarbeiten kann. Ich nehme sogar an, das Abstoßende als vorherrschendes Fantastik-Element in „Snuff“ macht es wahrscheinlich für den Leser leichter (oder öffnet ihm gar erst die Möglichkeit?), die Analogie zu unserer eigenen „Wirklichkeit“ sehen zu können.


    Für mich persönlich hat es Pelewin wieder einmal geschafft, ein richtig gutes Buch zu schreiben, auch wenn (oder gerade weil?) es kein gefälliger "Kuschelroman"ist. Wenn ich mir die Historie der Bücher und Geschichten ansehe, die bisher von diesem Autor in deutscher Sprache veröffentlicht worden sind, glaube ich eine beeindruckende innere Entwicklung des Autors zu erkennen. Außerdem scheint er sich immer drastischer von einer Lesererwartung auf gefällig zu lesende Geschichten loszulösen; diese immer stärker erkennbare Kompromisslosigkeit imponiert mir außerordentlich: ich denke, ein Schriftsteller, der wirklich etwas zu sagen hat, sollte nach Möglichkeit mit genau einer solchen unverhandelbaren Kompromisslosigkeit schreiben, auch sollte die Person des Autors bei solchen Büchern nicht in den Vordergrund rücken oder parallel zu seinen Büchern als der „Autor“, als der „Urheber“ in Erscheinung treten. Es erscheint mir als absolut konsequent, dass Pelewin weder Lesungen noch Interviews gibt und so wenig wie möglich als persönliches Fan-Erlebnis für seine Leserschaft fungiert.


    Nochmal zum Punkt der schriftstellerischen Entwicklung: Pelewin zeichnet sich in „Snuff“ ebenso wie in seinen vorherigen Büchern durch einen verrückten, hochgradig abgedrehten Plot, philosophische Fragen, Elementen aus Sagen und Legenden etc. und nicht zuletzt durch vielfältigen und schrägen Humor aus. Und doch erreicht Pelewin in „Snuff“ mit seinem Humor einen Grad, der in eine Art Bedrückung, fast schon Schmerzhaftigkeit, umschlägt. Warum? Zeigt Pelewin sich hier von einer misanthropischen Seite? Nein, nach viel Hin- und Her-Überlegen glaube ich das nicht, ich denke, diese Schmerzhaftigkeit bringt nur jemand zustande, der der Menschheit wirklich zugetan ist und ihr deshalb verdammt viel verzeiht. Aber um verzeihen zu können, muss man erst mal die Schuld erkennen können, die ein anderer auf sich geladen hat und sich zumuten, sie ganz konkret zu benennen. Und das tut Pelewin in Snuff: er erkennt, er benennt und er verzeiht.




    Hoffentlich wird in der nächsten Zeit eines der noch nicht übersetzten Bücher in deutscher Sprache erscheinen. Da gibt es nämlich schon wieder Titel wie Batman Apollo, Die drei Zuckerbrins, und zwei Bände aus einer Serie mit dem Titel Smotritel.

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