Volker Reinhardt - Alexander VI. Borgia

  • Worum es geht
    Der später als Alexander VI. berühmt-berüchtigte Papst wurde am Neujahrstag 1431 oder 1432 als Rodrigo de Borja (ital. Borgia) geboren. Die de Borjas waren eine weit verzweigte Sippe in Führungspositionen der Stadt Jativa in der Ebene von Valencia, und zählten sich zum niederen Adel. Einer Familienlegende zufolge waren sie der Meinung, um 1140 einer Seitenlinie des Herrscherhauses von Aragon entsprungen zu sein. Dieser Abstammungsmythos ist heute gründlich widerlegt, doch Alexander VI. glaubte fest an seine königlichen Wurzeln.
    Um 1449 wurde der junge Mann, der schon früh für den geistlichen Stand bestimmt worden war, von seinem Onkel, Kardinal Alfonso de Borja, nach Rom geholt. Vorerst betrieb Rodrigo das Studium der Rechtswissenschaften in Bologna. Glaubt man den erhaltenen Beschreibungen, war Rodrigo schnell in der Auffassung, geistig äußerst beweglich, begabt für Verwaltung und Herrschaft. Als der Onkel 1455 als Calixtus III. den Stuhl Petri bestieg, begann auch der unaufhaltsame Aufstieg des päpstlichen Günstlings. 1456 wurde Rodrigo Kardinal, erhielt weitere wichtige Ämter, und wurde sogar Feldhauptmann der päpstlichen Truppen in Italien. Selbst nach dem Tod des Papstes 1458, als alles Katalanische wegen der Angriffe des Verstorbenen auf das Königshaus von Aragon verhasst ist, kann Rodrigo nicht nur seine Stellung halten, sondern unter dem Schutze Papst Pius II. auch noch Pfründe gewinnen und seinen Reichtum vermehren. Dennoch wusste er, dass es eines langen Atems bedurfte, wollte er selber einst das Pontifikat bekleiden.
    Tatsächlich mussten noch 34 Jahre ins Land ziehen, und vier Päpste den Stuhl des Apostels besteigen (Pius II., Paul II., Sixtus IV. und Innozenz VIII.), ehe Rodrigo aus dem Konklave von 1492 als Papst Alexander VI. hervorgehen sollte.
    In den Jahrzehnten dazwischen hatte Alexander aber nicht nur an seiner kirchlichen Karriere gearbeitet, sondern auch Familienplanung betrieben. Die vier Kinder (Cesare, Giovanni, Lucrezia und Jofre) seiner Lieblingsmätresse Vannozza Cattanei ließ er von einem öffentlichen Notar anerkennen, wollte er sich doch nicht nur biologisch fortpflanzen, sondern seinen Namen auch weitergeben, um einen mächtigen Familienclan aufzubauen, der sich zu Lebzeiten um ihn scharrte, und nach seinem Tode in den Rängen der höchsten Aristokratie verwurzelt blieb.
    Mit Alexander saß nun ein Papst auf dem Thron, der bereit war, für seine Familie Italien mit Krieg zu überziehen, und seine geistliche Macht ausschließlich für familiäre Zwecke einsetzte. Bei den "politischen" Kardinälen weckte dieses Pontifikat durchaus Hoffnungen, sodass die Verherrlichung des Papstes überwog.
    Der wenig erfolgreiche Italienfeldzug König Karls VIII. stürzte Alexander zunächst zwar in eine schwere Krise, hing für die Borgia alles bisher Erreichte doch vom Ausgang der französischen Expedition nach Neapel ab. Alexanders Gegner warfen ihm Simonie vor, und verlangten eine Neubesetzung des Amtes. Das Wendejahr 1494 war für den Papst ein aufreibender Nervenkrieg, aus dem er jedoch gestärkt, und in seiner Position gefestigt, hervorging.
    In den Verwicklungen des Italienfeldzuges hatte sich auch der Konflikt zwischen dem Dominikaner Savonarola, Prior des Klosters San Marco in Florenz, und Alexander angebahnt. Als Sprachrohr Gottes stellte der wortgewaltige, charismatische Bußprediger nicht nur die Papstwahl in Frage, sondern forderte eine grundlegende Reform der Kirche. Da weder das Verbot zu predigen, noch die Exkommunikation Wirkung zeigten, drohte der Papst Florenz schließlich mit dem Interdikt, der schwersten aller Kirchenstrafen, die nicht nur kirchliche Handlungen betraf, sondern auch in die Wirtschaft der gebrandmarkten Gemeinde eingriff; für die Handelsstadt Florenz die Katastrophe schlechthin. In der aufgeheizten Stimmung wurde Savonarola am 23. Mai 1498 erwürgt und dann verbrannt.
    Der Kampf um den Staat der Borgia, dem alle Mittel des Papstamtes zuflossen, hatte in der römischen Campagna begonnen. Skrupellos zog Alexander alle Register seiner Macht, und wagte es 1497 sogar, seinem Sohn Giovanni kirchliche Lehen zu übertragen. Damit hatte er den Bogen aber überspannt, denn wenige Tage danach wurde Giovannis Leichnam aus dem Wasser gezogen. Tatsache ist, dass der Tod seines Lieblingssohnes, dessen Mörder nie gefunden wurden, Alexander in so große Trauer stürzte, dass er nahe daran war, abzudanken. Nach einer kurzen Phase der depressiven Verstimmung, in der der Papst sogar an eine umfassende Reform im Kirchenstaat dachte, die dem maßlosen Streben nach Pfründen Einhalt gebieten sollte, schien er alle Hemmungen verloren zu haben.
    So plante er mit seinem ältesten Sohn Cesare den Borgia-Staat in der Romagna aufzubauen, ein riskantes Unternehmen, da die Ansiedlung der Nepoten im überfüllten Herrschaftsraum unweigerlich zu Machtkämpfen mit den ansässigen Familien führen musste. Alexander wird auch klar gewesen sein, wie schwierig, wenn nicht unmöglich, die Machterhaltung nach seinem Tode sein würde. Als der bisher fehlende mächtige Verbündete am Horizont auftauchte, ging Alexander das Wagnis ein. König Karl VIII. war völlig unerwartet und kinderlos im Alter von nur 28 Jahren gestorben. Sein Nachfolger wurde Ludwig XII., der die Witwe seines Vorgängers heiraten musste, wollte er deren Erbe, die Bretagne, weiter für das Reich erhalten. Für seine bestehende Ehe benötigte Ludwig deshalb einen Dispens vom Papst. Alexander forderte im Gegenzug für Cesare ein einträgliches französisches Fürstentum, Truppen für die Eroberung der Romagna und eine hochgeborene Braut.
    Die Jahre bis zum Tode Alexanders waren allein von der Errichtung eines Borgia-Staates geprägt. Unersättlich in seinen Wünschen nahm ein unglaubliches Ränkespiel um Besitz und Macht seinen Lauf. Blutig zog sich der Eroberungsweg der Borgias durch die Geschichte. Feinde, die ihrem Expansionsdrang im Wege standen, endeten regelmäßig im Fluss, sogar Kardinäle wurden aus Habgier vergiftet, um sich deren Vermögen anzueignen.
    Bis zum Herbst 1502 befanden sich große Teile Latiums und der Romagna in den Händen der Nepoten. Als die Macht des französischen Königs zu sinken begann, legten die Familieninteressen der Borgia eine Ausrichtung nach Spanien nahe. Doch ehe es zu einem Kurswechsel kommen konnte, schlug der Tod unerwartet zu.
    Am 18. August 1503 starb Alexander VI. nach wenigen Tagen an einer fiebrigen Erkrankung, und Cesares Macht stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Nach dem kurzen Pontifikat Pius III. gelangte ein Todfeind Cesares aus dem Hause della Rovere als Julius II. auf den Papststuhl. Cesare wurde nach Spanien ausgeliefert, und fiel 1507 in einem Kampf. Bei seinem Tod war er in Italien schon fast vergessen. Geblieben ist vom Staat der Borgias nichts, außer einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Feinden in fast jeder großen Familie Italiens.


    Wie es mir gefallen hat
    Volker Reinhardt, geboren 1954, ist Professor für Allgemeine und Schweitzer Geschichte der Neuzeit, und hat mich nicht nur mit seinem großen Fachwissen, sondern auch mit seinen erzählerischen Fähigkeiten sehr beeindruckt.
    An der Hand dieses kundigen Führers kann sich der Leser unbesorgt in jenes unglaubliche Zeitalter am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit begeben, und wird am Ende mit vielen interessanten Informationen versorgt, gewiss gerne in die Gegenwart zurückkehren.
    Es sind nicht nur die vielen Namen, die eventuell für Verwirrung sorgen könnten, sondern vor allem das in Republiken, Herzogtümer und Königreiche zersplitterte Italien, deren Familien in wechselnden Beziehungen standen. Dazu kommen Einflüsse von außen, und so erfordert die Lektüre vom interessierten Laien doch ein gehöriges Maß an Konzentration, um den roten Faden, der sich fraglos durch das Buch zieht, nicht zu verlieren. Manche Kapitel musste ich auch ein zweites Mal lesen, um die Quintessenz herausarbeiten zu können.
    Der Autor verweist auf die schwierige Quellenlage, waren Schriftstücke im fraglichen Zeitraum doch festgelegten Floskeln unterworfen, sodass die Texte kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind. Außerdem betont Professor Reinhardt, dass es nicht Aufgabe des Historikers sein kann, zu werten, sondern möglichst objektiv darzulegen, was aus dem Dunkel der Geschichte ans Tageslicht befördert werden kann. Für diese Objektivität bin ich dankbar, erleichtert sie doch eine eigene Meinungsbildung, die dem unvoreingenommenen Leser gewiss zusteht.
    Mein Bild vom Borgia-Papst hat sich mit dieser Biografie nicht zum Positiveren gewandelt, sondern eher noch mein Unverständnis verstärkt, wie sich die Kirche mit ihrem geistigen Hintergrund und den hohen moralischen Ansprüchen überhaupt derartige Oberhäupter, von denen Alexander gewiss einer der übelsten war, leisten konnte. Waren doch schon die prächtigen Kardinalspaläste, die manchem weltlichen Besucher den Atem verschlugen, nichts anderes als gemauerte Anwartschaften auf den Thron Petri.
    Fördert unbeschränkte Macht wirklich nur die schlechteste Seite der menschlichen Rasse zutage, die sich über jedes Gefühl von Anstand und Moral bedingungslos hinwegsetzt? Oder spielte im Falle Alexanders auch das Vorbild eine Rolle? Anschauungsunterricht hätte ihm das Pontifikat Sixtus IV. jedenfalls zur Genüge geliefert.
    Alexander brachte Simonie, Nepotismus, Ausschweifung in jeder denkbaren Form, Kriege und Gewalt aller Art, und viele fragten sich, ob man mit diesem Papst überhaupt noch ins Himmelreich gelangen konnte. Erstaunlicherweise verlor die Bevölkerung dennoch nicht den Glauben, sondern zog vielmehr den Schluss, dass eine Religion wohl besonders heilig sein müsse, wenn sie trotz eines solchen Oberhirten Bestand hatte.
    Der Behauptung, dass Alexander auf seine Art ein frommer Christ gewesen sein soll, dessen Marienverehrung tief und aufrichtig war, kann ich allerdings keinen Glauben schenken, es sei denn, der Papst hätte eine speziell auf ihn zutreffende Definition von Aufrichtigkeit gefunden.
    Aber auch andere Regeln galten für ihn und die Seinen nicht. Die Papsttochter Lucrezia wurde geschieden und wiederverheiratet, wie es dem Vater gerade nützlich schien, und Cesare entband er vom Kardinalsamt ohne mit der Wimper zu zucken, während er einem anderen Würdenträger, der seine Tage in Abgeschiedenheit und im Gebet beschließen wollte, diese Gunst nicht gewährte. Das Kardinalat ende erst mit dem Tode, hieß es in der Begründung; dieses Purpurrot sei nicht abzuwaschen.
    Dass es einen Martin Luther angesichts dieser Frevel nicht länger in seinem Kloster hielt, ist nur allzu verständlich.
    Dennoch habe ich über das Papstamt auch Neues erfahren. So adelte es nicht nur das Individuum, sondern erhöhte die ganze Familie. Die Nepoten des Papstes fühlten sich den vornehmsten Fürsten Italiens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, gleichgültig, welch niederer Abstammung sie auch waren. Die wahren Antriebe des Nepotismus bestanden also nur darin, die dauerhafte Größe der Familie herbeizuführen.
    Aber auch den Familienbegriff dieser Zeit, der sich vom heutigen Verständnis deutlich unterscheidet, erklärt der Autor ausführlich. Emotionen waren in diesen fernen Zeiten anders, und so richtete sich Elternliebe angesichts der großen Kindersterblichkeit wohl weniger auf das Individuum, sondern war eher kollektiv zu verstehen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war dadurch sehr stark, und konzentrierte sich auf den Aufstieg der Familie, sowie die Abwehr des sozialen Todes, der das Absinken in Armut und Verachtung bedeutete.
    Ein eigenes Kapitel ist auch Alexanders Einstellung zur Familienplanung. Die Ehelosigkeit wurde in der Kurie zwar heftig und kontrovers diskutiert, doch war die allgemeine Auffassung, wenn schon sündigen, dann ohne Aufsehen zu erregen. Rodrigo übertrat diese Regel ebenfalls besonders auffällig, indem er seine Kinder legitimierte, und ihnen seinen Namen gab. Nicht nur der Tochter Lucrezia, auch deren Mutter übertrug er immer wieder administrative Aufgaben im Kirchenstaat. In einer eheähnlichen Gemeinschaft lebte er allerdings nie, hatte er doch stets neue Favoritinnen, von denen nur Giulia Farnese aus der Anonymität heraustrat.
    Über Alexanders Privatleben, intellektuelle oder kulturelle Interessen (falls er solche hatte) und Vorlieben (außer für das weibliche Geschlecht) dürfte das Quellenmaterial nichts verraten, zumindest finden sich im Buch keine Hinweise.
    Eine menschliche Seite habe ich am Papst trotzdem entdeckt. Als sein Lieblingssohn Giovanni ermordet wurde, hatte ihn dieser Schicksalsschlag so tief erschüttert, dass er nahe daran war, alles aufzugeben, was bei einem Charakter wie Alexander sicher tief blicken lässt. Dass es danach noch schlimmer kommen sollte, ist ein tragischer Umkehrschluss der Geschichte.
    Am Ende hat mich die Sinnlosigkeit dieses Lebens, das so viel Unheil über unzählige Menschen gebracht hatte, dennoch sehr traurig gestimmt. Immer wieder habe ich mir vorzustellen versucht, wie aufreibend eine Existenz sein muss, die nur von Lügen, Verrat, Hinterlist, Argwohn, Macht und Gier beherrscht wird, in der die Feinde von gestern die Freunde von heute sind und umgekehrt. Nicht umsonst glaubten wohl viele Zeitgenossen, mit Alexander sei der Antichrist höchstpersönlich in den Vatikan eingezogen.
    Gerne empfehle ich dieses großartig geschriebene und wohlstrukturierte Buch jedem, der sich für den unheimlichen Papst und seine Zeit interessiert, und sich dem Phänomen Alexander VI. auf möglichst objektive Weise zu nähern versucht.