Witold Gombrowicz – Pornographie / Pornografia

  • Autor (nach Wikipedia): Der aus dem polnischen Landadel stammende Witold Marian Gombrowicz (1904-1969) war einer der bedeutendsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unternahm er eine Reise nach Buenos Aires, wo er fürs Erste auch blieb. Seit seinem 34. Lebensjahr lebte er im Exil in Argentinien. 1963 kehrte er nach Europa zurück, wenn auch nicht in die Volksrepublik Polen, und lebte in Westberlin und Vence in Südfrankreich, wo er an den Folgen von Asthma starb.


    Seine oft absurden und sehr philosophischen Werke erschienen seit 1951 in Paris, seit 1959 auch in Deutschland, in Polen aber erst seit 1986.


    Werke: Die Romane "Ferdydurke" (1938), "Opętani" (dt. Die Besessenen) (1939), "Trans-Atlantyk" (dt. Trans-Atlantik) (1953), "Pornografia" (dt. zuerst als Verführung, später als Pornographie) (1960), "Kosmos" (dt. zuerst als Indizien, später als Kosmos) (1965). Außerdem erschienen Erzählungen, Theaterstücke, Opern, Essays, Tagebücher, Reisenotizen und Interviewbücher.

    Der Roman „Pornographia“ wurde 2003 in der Regie von Jan Jakub Kolski (Pornografia) verfilmt. 1971 dreht der Regisseur Peter Lilienthal nach Motiven des Romans seinen Fernsehfilm Die Sonne angreifen.


    Inhalt (nach Amazon und Klappentext): Der Hauptstadt Warschau überdrüssig kommen Witold und Friedrich auf das Landgut des Adligen Hippolyt. Die beiden älteren Herren meinen, dort zwischen der junge Henia und dem Burschen Karol erotische Spannungen wahrzunehmen und inszenieren einen frivolen Schwank. Henia soll ihren Verlobten Wacław, einen langweilen Advokaten, verlassen und dem unschuldigen Karol in die Arme fallen. Das vermeintlich harmlose Spiel endet mit einem raffiniert eingefädelten politischen Mord.

    In einer etwas einseitigen, wenn auch lobenden Amazon-Rezension des Romans wird kritisiert, der Titel sei „etwas irreführend“, da es in dem Buch doch gar „nicht zur Sache gehe“. Das ist zwar an sich richtig, führt aber doch am Eigentlichen vorbei, nähert sich dieser kurze, unverschämte und bösartig gewitzte Roman doch ziemlich genau dem Kern der Pornografie: dem Spiel mit Macht und der Sehnsucht nach Jugend.


    In diesem Fall: Ältere, langsam sich eher unansehnlich entwickelnde Männer, die längst aus dem zwischenmenschlichen Rennen um Attraktivität und Verliebtsein ausgeschert scheinen – oder anders gesagt: die von der jungen Generation überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden, auf rein äußerlicher Ebene, falls sie nicht mit Einfluss punkten können – versuchen den Kontakt mit der virilen Jugend herzustellen, der ihnen eigentlich gar nicht mehr gebührt. Sie werden dabei nicht nur zu Voyeuren, sondern vor allem zu Regisseuren, die das erotische Tun erst begründen und inszenieren. Sie versuchen, „vorhandene Spannungslinien“ zwischen ihren Mitmenschen bloßzulegen, deuten Blicke, Worte, den Tonfall der Stimme, oft reine Atmosphären in ihrem Sinne neu, schließen auf Hintergedanken und setzen die Menschen ihrer Umgebung gewissermaßen neu zusammen und in andere Relationen.


    Alle Ränke, alle Annäherung, jedes erotische Spiel erfolgt wegen ihnen und wird gewissermaßen für sie dargeboten, wenn sie sich in die Verlobung der 16-jährigen Henia einmischen und partout versuchen, sie statt mit dem viel älteren Langweiler Wacław mit dem fast gleichaltrigen Karol zu verkuppeln. Oder anders: Sie versuchen zunächst, den Anschein einer Beziehung zu erwecken, leise Bande zu knüpfen, um das zu verbinden, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusammengehören müsste, was zumindest wahrscheinlicher ist als die kurz vor der Besiegelung stehende Verbindung der jungen Henia mit dem alten Wacław.


    Insofern geht es ihnen darum, ihre Mitmenschen zu lenken und auch darum, Zwietracht zu sähen: Wacław soll den Zweifel nicht mehr loswerden, ob die kleinen Blicke aus dem Augenwinkel, minimale Gesten und Hinwendungen von Henia hin zum Bauernburschen Karol, die sich beide rein freundschaftlich aus Kindertagen kennen – und wirklich kein erotisches oder sexuelles Interesse aneinander haben – nicht vielleicht doch „etwas mehr“ bedeuten, als geschwisterliche Nähe! Unter anderem inszenieren die beiden Hauptfiguren wie als Stellprobe für eine Filmszene in einem lauschigen Winkel auf einer Waldlichtung mit Henia und Karol eine kleine Choreografie aus Blicken, seltsam gleichförmigen Handbewegungen, Zubodenwerfen und Wiederaufstehen. Und all das vor Wacławs Augen, der zwar die eigentliche Harmlosigkeit des Tuns erkennt, aber über das Geheimnisvolle der Szene mit der Zeit dann doch ins Grübeln gerät - und schließlich verzweifelt.


    Der Roman, der in der Endphase des Zweiten Weltkrieges in Polen spielt – was ein sinnvolles Zeitbild ist, haben die geschilderten Vorgänge doch selbst etwas Kriegerisches und Strategisches an sich -, dehnt die erotische Kampfzone der Begierden zum Ende hin noch auf den Bereich des Tötens aus, wenn es um das „endgültige“ Erlegen eines Opfers und die absolute Machtdemonstration geht, die einen anderen Menschen dazu verleitet, zum Mörder zu werden: Die beiden Hauptfiguren sind zu Gast im Herrenhaus von Wacławs Familie, wo sich die Verlobten und ihre Eltern eingefunden haben. Überraschend taucht ein Widerstandskämpfer auf, der durch ungeschickte Aussagen in den falschen Verdacht geraten ist, ein Verräter zu sein. Da es seiner abwesenden Widerstandsgruppe nicht möglich ist, als strafende und richtende Instanz aufzutreten, soll ihn einer der edlen Herren der anwesenden Gesellschaft umbringen. Alle zieren sich. Geschickt wird von den beiden Hauptfiguren Karol als Mordbube ins Rennen gebracht, der für den „schwachen“ Wacław das Opfer zur Strecke bringen soll. Doch soll damit erneut der potente Jugendliche dem Alten die Schau stehlen?


    Der fiese Roman, in dem keine annähernd sexuelle Handlung auch nur in der Ferne vorkommt, spielt mit philosophischer (oder sollte man sagen: mathematischer) Logik erneut ein Lieblingsthema von Witold Gombrowicz durch: Der Mensch, der erst dadurch zum selbstbewussten Subjekt wird, wenn er von anderen zum Objekt gemacht wird. Menschsein, was soviel bedeutet, wie niemals man selber zu sein, sondern immer ein Für-andere-Sein. Ein durch Sartres existenzialistische Thesen festgeschriebenes Dilemma des modernen Menschen, auch wenn sich Witold Gombrowicz schon in seinem Debütroman „Ferdydurke“ damit beschäftigte, der noch vor Sartres „Das Sein und das Nichts“ entstand. Gombrowicz' Roman „Pornographie“ ist zwar nicht so irre und hysterisch wie sein ähnlich gelagerter Nachfolgeroman „Kosmos“, aber dennoch eine mehr als stimmige Darstellung der bösen Umtriebe, die die menschliche Gesellschaft zusammenhalten: Anziehung, Abstoßung, Begierde und Machtstreben. Er zeigt, wie Wirklichkeit durch Fälschung geschaffen werden kann. Ein erhellendes Vexierspiel über Menschen, die ihrer Umwelt auf obszöne Weise ihren Stempel aufdrücken.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

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  • Eine polnische Ausgabe, im Oktober 2011 beim Verlag "Wydawnictwo Literackie" erschienen.

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  • Eine englischsprachige Ausgabe, übersetzt von Alastair Hamilton, im September 1994 erschienen bei Marion Boyars Publishers Ltd.

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  • Und als Neuausgabe bei Penguin Books in der Reihe "Twentieth Century Classics" von 1991.

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  • Danke für die interessante Rezi.
    Mich überrascht irgendwie auch die wirklich SEHR unterschiedliche Covergestaltung.
    Welche würdest du als die passendste empfinden @Jean van der Vlugt?

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


    Warnhinweis:
    Lesen gefährdet die Dummheit

    :study:

  • @terry: Den collagenartigen Stil der Fischer-Taschenbücher finde ich sehr passend für Gombrowicz. So in diesem futuristisch-expressionistischen (oder wie man das akkurat nennen müsste) Stil der Kunst-Moderne rund um den Ersten Weltkrieg. Das passt gut: Lauter Versatzstücke und Verweise, alles etwas verschobene Perspektiven. Die Penguin-Ausgabe sieht zwar schön aus, ist aber zu klassisch.

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