Sjón - Der Junge, den es nicht gab / Mánasteinn

  • Das gegenwärtige isländische Autoren nicht nur gute Krimis schreiben, dafür ist das kleine Buch des am 27. August 1962 geborenen Sjón, eigentlich Sigurjón Birgir Sigurðsson ein eindrücklicher Beweis.


    In "Der Junge, den es nicht gab" spielen das Kino und die dort im Jahr 1918 gezeigten Stummfilme eine große Rolle. Hauptsächlich im Präsens geschrieben, reicht der Roman über den Zeitraum vom Oktober bis zum Dezember 1918, als in Island nicht nur der Vulkan Katla ausbrach, sondern auch die Spanische Grippe das Land im Griff hatte, bevor es gegen Ende des Jahres 1918 von Dänemark unabhängig wurde.


    Vor diesem historischen Hintergrund erzählt Sjón die Geschichte von Máni Steinn .Der Sohn einer infolge ihrer Lepraerkrankung früh verstorbenen Mutter, im Hauptteil des Romans sechzehn Jahre alt, wohnt seit seinem sechsten Lebensjahr mit seiner Urgroßtante, Karmilla Maríusdóttir, einer eher derben, dennoch fürsorglichen Person, die außer Máni vor allem ihre Zigaretten liebt, in einer Dachkammer.


    Mani ist ein Einzelgänger, eher teilnahmslos, sehr wortkarg und homosexuell. Er hat die Schule im Alter von zwölf Jahren verlassen und treibt sich seither als Straßenjunge herum. Mit dem Geld, das er für sexuelle Dienstleistungen von Männern, den "Kunden", erhält, bezahlt er in erster Linie seine häufigen Besuche in den beiden Lichtspielhäusern, die Reykjavík zu bieten hat. Die Filme regen seine Fantasie an und inspirieren auch seine Träume.


    Als das Schiff Botia in Reykjavik einläuft, kommt auch die Spanische Grippe mit. Sjon beschriebt eindrucksvoll die Auswirkungen der Seuche auf die Menschen und ihren Alltag in einer wie gelähmt wirkenden und ungewöhnlich stillen Stadt, die einer Stummfilmkulisse gleicht. Auch Máni Steinn erkrankt. Doch er überlebt die Influenza und ist bei Kriegsende wieder gesund.


    Als Mani am Tag der Unabhängigkeit mit einem dänischen Matrosen beim Geschlechtsverkehr ertappt wird, wird er nach kurzer Gefangenschaft durch die Vermittlung eines ehemaligen Kunden nach London geschickt, wo sich an isländischer Theatermann seiner annehmen soll.


    In einem kurzen Epilog, der im Jahr 1929 spielt, kommt Mani als Assistent eines Filmteams wieder in die Stadt und Sjon verrät auch, was das alles mit ihm selbst zu tun hat.


    Ein außergewöhnlicher, kunstvoller Roman.

  • Die Beschreibung klingt, als wäre das ein Buch für mich. Aber ich habe den Eindruck, als wäre das Lesen unnötig, weil ich einen Großteil der Handlung schon kenne. Passiert denn nach dem, was hier beschrieben wurde, überhaupt noch etwas?


    Eine "Rezension" würde ich die Buchvorstellung auch nicht nennen. Die persönliche Einschätzung umfasst gerade mal einen Satz, der Rest ist Inhaltsangabe.


    @Winfried Stanzick , das Problem fällt mir bei deinen Buchvorstellungen öfter auf. Mehrmals habe ich schon einen Moderator um das Spoilern gebeten. Weil ich beschlossen habe, dass ich mich nicht mehr über etwas ärgern will, was nicht sein muss, bleibt mir nur eine Lösung: Ich lese deine Buchvorstellungen nicht mehr. Bedauerlicherweise, denn du stellst oft Bücher ein, die mich interessieren.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Verlagstext

    Island 1918: Die Spanische Grippe versehrt das Land, Vulkan Katla verdunkelt den Himmel und Island erhält endlich seine Unabhängigkeit. Zeiten des Aufruhrs und Aufbruchs. Mittendrin Máni Steinn: ohne Eltern, ohne Arbeit und zu allem Übel kann er weder lesen noch schreiben. Schlechte Voraussetzungen für einen jungen Mann in dieser Zeit. Aber Máni liebt das Kino und findet Rettung bei den Stummfilmen – und bei der schönen Sóla. Auf ihrem Motorrad entführt sie ihn aus der Dunkelheit und zeigt ihm, dass sich der Kampf lohnt, wenn man sich treu bleibt. In einer lyrischen, bildgewaltigen Sprache verwebt Sjón Historisches mit Phantastischem. Auch sein neuer Roman ist Weltliteratur.


    Der Autor

    Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers

    ›Dancer in the Dark‹ wurden für den Oscar nominiert. Für ›Schattenfuchs‹ erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Zuletzt erschien sein Roman ›Das Gleißen der Nacht‹. ›Der Junge, den es nicht gab‹ wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet.


    Inhalt

    Nach dem Tod seiner Mutter hat man Máni zu seiner Urgroßtante Karmilla gegeben, mit der auf einem Dachboden lebt. Der 16-Jährige verdient ab und zu Geld als Stricher, für die Verhältnisse im Jahr 1918 erzielt er damit hohe Einnahmen. 1918 erlebt Island durch die Einschränkung des Schiffsverkehrs als Folge des Ersten Weltkriegs eine Wirtschaftskrise. Im Dezember des Jahres wird die Insel unabhängig von Dänemark werden, das Land mit knapp 100 000 Einwohnern gehört damals zu den ärmsten Ländern Europas. Von einem Schiff im Hafen Reykjaviks aus breitet sich die Influenza aus, die Spanische Grippe. In kurzer Zeit ist die Stadt wie leergefegt. Angesichts der vielen Kranken bricht die Versorgung (auch der gesunden Bevölkerung) zusammen; es wird nicht mehr gebacken und gewaschen. Da zur Zeit der Handlung der Vulkan Katla ausgebrochen war, lag durch die Aschewolke die Stadt im Dunkeln. In einer Art trotzigem Widerstand gehen die jungen Leute trotz der Ansteckungsgefahr durch die Grippewelle weiter ins Kino. Mánis erste Sucht, das Rauchen, wird schon bald von der Sucht nach Kinofilmen abgelöst. Es ist die Zeit des Stummfilmes und Reykjavik (mit damals gerade 15 000 Einwohnern) hat zwei Kinos. Als Máni aus üblen Alpträumen erwacht, sitzt ein völlig erschöpfter Arzt an seinem Bett, von seiner schweren Erkrankung hat der Junge nichts mitbekommen. Máni hilft beim Abtransport der vielen Grippetoten. Als Mánis Homosexualität offensichtlich wird, führt Dr Garibaldi die sexuelle Orientierung des Jungen auf den schlechten Einfluss der Filme zurück. Schließlich ist er sowieso gegen Kinofilme und ruht nicht, davor zu warnen. Jahre später kommt ein Filmteam nach Reykjavik, und in Mánis Vorgeschichte klärt sich überraschend, was mit seiner Mutter geschehen war.


    Fazit

    Sjón erzählt in seiner Novelle von knapp 150 Seiten kühl und distanziert das Schicksal eines elternlosen Jungen in Reykjavik im Jahr 1918. Der historische Hintergrund (mit Ausbruch der „Spanischen Grippe“ und Ausbruch des Vulkans Hekla) ist authentisch. Schon bald nach Ausbruch der Pandemie erkannten Ärzte die Rolle von Hafenstädten für die Verbreitung der schweren Grippeerkrankung, eine Schließung von Häfen zur Verhinderung weiterer Grippetoten konnten sie jedoch nicht durchsetzten. Die Verdichtung der Ereignisse auf die Stadt Reykjavik und auf die Person des betroffenen Jungen liest sich beeindruckend und hat meine Neugier für das historische Thema Influenza geweckt. Sjón, bekannt für seine knappe Sprache, erzielt mit diesem kurzen Text eine eigenartige Distanz zur Homosexualität seines jungen Protagonisten. Mánis Sexualität (außerhalb der Stricherszenen) wirkt wie etwas, das ihm zustößt, an dem er kaum beteiligt ist.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Sjon – Der Junge, den es nicht gab


    Original: Isländisch, 2013


    Beide voangehenden Besprechungen gehen doch quasi bis ans Ende des kurzen Romans, Ist vielleicht auch kaum anders möglich? Inhaltlich brauche ich nicht soo viel anzufügen, dennoch einige Bemerkungen:


    Der Roman ist extrem strukturiert. 10 Teile entsprechen zehn Perioden. Davon liegen die ersten neun zwischen Oktober und Dezember des Jahres 1918, und der letzte, jener Epilog, im Juli 1929. Innerhalb dieser Teile jeweils drei Kapitel. Diese wiederum von nahezu identischer Länge! Das ist schon irgendwie gewollt, gibt dem Ganzen etwas “Systematisches”. In der Hinsicht finde ich auch die Memerkung von Buchdoktor treffend, dass es einerseits eine “eigenartige Distanz” in diesem Text gibt. Dann wiederum gibt es gleichzeitig mit den mir zu expliziten Beschreibungen homosexueller Dienstleistungen Passagen auch voller Poesie. Dazu gehören auch die Bezüge zum Kino, das Verhältnis zur Grosstante, das “Sehen” von Ferne der Motorradfahrerin…. Da aber leise. Denn dieser Junge, auch Bursche, oder der Kleine genannt, ist doch mehr als ein Strichert. Die Dienstleistungen an meist ältere Männer werden dann hier eher als Gelderwerb verstanden? Wo aber wird es persönlich?


    Es gibt direkt mehrere historische Anspielungen und Bezüge:

    - Ende des I.Weltkrieges

    - Ausbruch des Vulkans Katla

    - Ausbruch der spanischen Grippe

    - ein weiterer Schritt auf dem Wege zur Unabhängigkeit Islands von Dänemark.


    Zumindest was die ersten drei Ereignisse anbetrifft, stehen wir vor katastrophalen Geschehnissen, die die Menschen nahezu in das Gefühl eines apokalyptischen Endzeitgeschehens werfen können. Mir ging da einiges durch den Kopf, wie eventuell jede Generation immer wieder Grund genug gehabt hätte um die ihrige als besonders betroffen und bedroht darzustellen. Geht das nicht bis heute weiter? Das Szenarion des Covids erinnert in einigen Beschreibungen Sjons überraschend dem Ausbruch der Spanischen Grippe! Der Verweigerung von Verantwortung, aber auch dem teils unermüdlichen Einsatz von zB dem medizinischen Personal. Kurz: wir sollten wohl unsere eigene so ungeheuer bedrohliche Situation auch in diesen geschichtlichen Wiederholungen wiederfinden?


    Ich schwanke innerlich bei der Bewertung und dem Letzteindruck. Eigentlich müsste ich das noch sacken lassen...