William Golding - Der Sonderbotschafter / The Scorpion God

  • Dieses Buch enthält drei Kurzromane, "Der Skorpion-Gott", "Clonk Clonk" und "Der Sonderbotschafter", die 1971 in dieser Form auch im Original erschienen sind (1974 auf Deutsch); allerdings trägt "Der Sonderbotschafter" das Copyright-Datum 1956, scheint aber damals nicht veröffentlicht worden zu sein.


    Inhalt (Klappentext): "Der Skorpion-Gott" führt zurück ins alte Ägypten, in eine Welt der geheimen Rituale und Mysterien, deren festgefügte hierarschische Ordnung aber schon vom kritischen Geist in Frage gestellt wird, verkörpert in der Figur des Hofnarren Liar. "Clonk Clonk" handelt von einer noch entlegeneren Zeit, imaginiert eine prähistorische, vom Matriarchat geprägte, afrikanische Kultur. Die Titelgeschichte endlich, "Der Sonderbotschafter", lässt die römische Kaiserzeit der ersten nachchristlichen Jahrhunderte zu neuem Leben erwachen, spielt abre andererseits auf eine höchst amüsante, versteckt ironische Weise mit dem Reiz des Anachronismus: Ein verrückt-genialer Grieche hat die Entdeckung der Dampfkraft gemacht, einen Dampfkochtopf, ein Dampfschiff und eine Kanone erfunden.


    Der Autor (nach Klappentext): Sir William Gerald Golding wurde 1911 in St. Columb Minor, Cornwall, geboren und begann widerwillig ein Studium der Naturwissenschaft, bis er seinen Studienschwerpunkt auf Englische Literatur verlagerte. Ab 1939 lehrte er in Salisbury Englisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er bei der Royal Navy diente, kehrte er in den Schuldienst zurück, von dem er sich 1962 zurückzog. Sein erster Roman "Der Herr der Fliegen" erschien 1954 und wurde 1963 von Peter Brook verfilmt. 1983 erhielt er den Literatur-Nobelpreis, wohl hauptsächlich für „Der Herr der Fliegen“. Er starb 1993 in Perranarworthal, Cornwall.


    Ich habe jetzt den ersten Kurzroman (er hat etwa 80 Seiten) halb durchgelesen. Es ist sehr hermetische Literatur, die nicht vor sich herträgt, was sie aussagen möchte. Es kommen vor: ein Pharao, der immer nur "Großes Haus" genannt wird, was Pharao ungefähr auch bedeutet. Außerdem sein jugendlicher Sohn, der nicht Pharao bzw. ein Gott werden möchte. Er sagt, vor seinen Augen wären Schleier. Er scheint zu erblinden, was er einem vertrauten Freund, einem Blinden erzählt. Er hofft, wegen der Blindheit nicht zum Gott werden zu müssen. Als der Blinde den Pharao über die Erblindung seines Sohnes, die der noch niemandem sonst mitgeteilt hat, informieren will, nennt ihn der Sohn allerdings einen Lügner. Dann gibt es noch die jugendliche Tochter des Pharao, die sehr schön ist, verführerische Nackttänze aufführt, allerdings eher schnippisch und gemein zu sein scheint. Sie und ihr Bruder scheinen demnächst einander heiraten zu müssen. Die nächste Figur ist "der Lügner", eine Art Hoffnarr. Der Pharao lässt sich gerne Lügen erzählen.


    Um dahin zu kommen, "was der Roman soll", ist es hilfreich, genau zu schauen, was geschildert wird. Und das sind hauptsächlich irgendwelche Rituale, die die Herrschaft stützen. Die Macht ausmachen und repräsentieren. Der Herrscher allerdings scheint eher schwach zu: Der Pharao fällt bei einem ritualisierten Lauf hin, er betrinkt sich maßlos. Er "tut nichts Mächtiges". Die Rituale stützen seine Schwachheit, bemänteln sie.


    Noch bin ich "nicht richtig dabei". Aber ich bin ziemlich gespannt, was noch passiert. Vor allem dann später: Wie die drei Kurzromane miteinander interagieren. Was sie in der Gesamtheit aussagen; ich schätze, dass sie alle einem ähnlichen Thema folgen...

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Hallo, Jean van der Vlugt!


    Danke für den Buchtipp! Da ich eine Schwäche für das Alte Ägypten habe, ist zumindest die erste Novelle für mich von sehr großem Interesse.


    Die Hieroglyphe für "Pharao" bedeutet tatsächlich "Großes Haus" und das "Große Haus" (also der Palast) wird mit demselben Zeichen ausgedrückt (nur am Rande).


    Die alten Pharaonen reizen mich ja, ich denke, sobald ich wieder "flüssig" bin, werde ich mir diese Novellensammlung auch zulegen.


    Herzliche Grüße
    Buchfresser

  • Hallo @Buchfresser! Das freut mich :wink: Ich kann (noch) nicht einschätzen, wie akurat Golding mit der Geschichte umgeht (auch, da ich mich nicht wirklich mit dem Alten Ägypten auskenne). Jedenfalls weiß ich, dass er sehr an Ägypten interessiert war. Später veröffentlichte er ja auch ein Reisetagebuch über eine Nil-Flussfahrt ("Ein ägyptisches Tagebuch"). Ich denke mal, dass er in dieser Novellensammlung an drei Orten zu drei Zeiten eine bestimmte Art und Weise zeigt, wie Macht ausgeübt wird, wie Hierarchien aufrechterhalten werden. Dafür eignet sich das Alte Ägypten ganz sicher, selbst wenn man es mit Fakten nicht so genau nehmen sollte ...

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  • Noch weitere Aspekte kommen im ersten Kurzroman dazu: eine drohende Überschwemmung durch den Nil; der Lügner berichtet von weißhäutigen Menschen, von Schnee, Kälte und Eisbergen, was als Ungeheuerlichkeit abgetan wird, was ihn in Ungnade fallen lässt; die Prinzessin bekommt vom Lügner zu hören, dass sie ihre Macht gebrauchen sollte, sie solle sie nicht ihrem Bruder überlassen; der alte Pharao tritt in seinen "Bewegungslosen Zustand" ein (d.h. er stirbt, bzw. wird in einer Pyramide beigesetzt) und der Lügner weigert sich, seinem Gott ins ewige Leben zu folgen:

    Zitat

    "Beruhige dich, Lügner. Beruhige dich. Gut. Sag uns, warum schlägst du das ewige Leben aus?"
    Da sprach der Lügner die schrecklichen Worte, die verachtenswerten Worte, die Worte, die die Welt zerrütteten. [...]
    Er (...) schrie, so laut er konnte.
    "Weil mir dieses vollauf genügt!"

    (S. 53, Hervorhebung im Original)


    Alles nimmt interessante Wendungen. Am Schluss hat man einiges zum Nachdenken :-k . Mal sehen, was die prähistorische Episode bringt! :)

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  • Der zweite Kurzroman, der in der Frühgeschichte des Menschen in Afrika spielt, liest sich etwas flüssiger als der erste Kurzroman. Die Anführerin eines Stammes namens Palme, bzw. "Die, Welche Die Frauen Benennt", spürt ein gewisses Unbehagen über die nahe Zukunft. Was wird das bloß sein? Ein Mädchen beobachtet vom Berggipfel aus eine Gruppe Männer (von denen ihr manche namentlich bekannt sind), die sich vom Lager entfernt statt näherzukommen.


    Männer sind Frauen übrigens offensichtlich untergeordnet, sind viel verspielter und emotionaler.


    In einem zweiten Kapitel ist man bei den Leopardenmännern (die vom Berg aus Beobachteten) in der Steppe. Sie sind auf der Jagd. Und schleichen zwischen diversen Tierherden herum. Die Herden sind wachsam, wissen aber noch nicht, welcher Herde der Angriff gelten wird. Den Antilopen, Zebras oder Rindern? Ein Zitat über das Herdenverhalten in Zeiten der Bedrohung gefällt mir, das gut Goldings Zweifel am Menschen, seine Zweifel an Gemeinschaft, sein Mißbehagen am Gruppenzwang illustrieren:

    Zitat

    Ihre Bewegungen waren noch langsam, als ob die Herden ein statistisches Gefühl für die Gefahr besäßen und wüßten, daß es wenig Bedrohung für jedes der Tiere, aber Tod für eines gab.

    (S. 116)Statistisches Gefühl für Gefahr und Verlust: Wenn nur ein Tier stirbt, ist es für die Herde zu verschmerzen. Erinnert mich an "Fight Club", wenn durchgerechnet wird, ob es sich eher lohnt, ein schadhaftes Produkt zurückzuziehen oder die durch das ausgelieferte Produkt verursachten Schäden zu bezahlen ... :wink:

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  • Neue Aspekte kommen dazu oder werden immer mehr betont:


    1. Die Anführerin Palme ist anscheinend dem selbstgebrauten Honigbier verfallen; in einigen Momenten kann sie an gar nichts anderes mehr denken als an Alkohol.
    2. Ausgrenzung in der Gruppe: Die Jagdgruppe der Leopardenmänner hänselt denjenigen aus ihren Reihen, der sich beim Hinfallen den Knöchel verstaucht hat. Als er gerade mal wieder zurückbleibt, erkennt er eine Gefahr und warnt die vorauseilende Gruppe. Die Männer springen ins Wasser. Er ruft ihnen, eher freundlich gemeint zu, sie wären jetzt Fischmänner. Aber die Angesprochenen sind wütend und verstoßen ihn aus der Gruppe. Nun zieht er allein durch die Wüste.
    3. Menschen Namen geben: Einerseits Spottnamen, andererseits Kindern nach der Geburt Namen geben.
    a) Der Hinkende wird plötzlich nur noch "Schimpanse" genannt (wegen seines komischen Gangs). Als der Verstoßende in der Einsamkeit nach erster Trauer sehr wütend auf seine ehemaligen Freunde wird, nennt er sich in "Jaguar aller Jaguare" um (und fantastiert Gewaltakte).
    b) Anführerin Palme, die spürt, dass sie älter wird, benennt ein Neugeborenes "Kleine Palme", weil sie in dem Moment, als ihr das Mädchen gereicht wurde, spürte, dass sie selber auch noch Kinder bekommen kann. (Muss irgendwie an ein Zitat der Goldenen Zitronen denken: "Ihr wollt nicht nur die eigenen Kinder taufen" oder so ähnlich :wink: )

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  • Die dritte Geschichte durchzieht ein sarkastischer Humor und eine irgendwie kindliche Lust an Übertreibungen und Explosionen. Es geht um die Möglichkeit, die Sklaverei und den Krieg zu beenden. Und um Sklaven, die nicht befreit werden wollen und um Soldaten, die nicht arbeitslos werden möchten. Nicht ihrer Aufgabe beraubt werden. Böse, wenn auch realisitisch!

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