Ted Lewis - Schwere Körperverletzung / G.B.H.

  • Der Autor (vor allem nach Krimi-Couch.de): Ted Lewis wurde am 15. Januar 1942 in Manchester geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog die Familie nach Barton-upon-Humber in Lancashire. Dank der Überzeugungskraft seines Englischlehrers, des britischen Dichters und Schriftstellers Henry Treece, konnten seine Eltern überredet werden, Lewis auf die Hull Art School zu schicken. Danach arbeitete er an verschiedenen Orten für die Werbung und als Animations-Spezialist für Film und Fernsehen, u.a. für den Beatles-Film »Yellow Submarine«. 1971 gab er den Zeichentrickfilm auf und zog mit seiner Familie in eine Farm in Suffolk.
    Sein erster Roman, „All the Way Home and All the Night Through“, eine Art Autobiografie, wurde 1965 veröffentlicht. Danach folgte "Jack Carters Heimkehr" (unter dem Titel "Get Carter" 1971 sehr gut mit Michael Caine und 2000 sehr schlecht mit Sylvester Stallone in der Hauptrolle verfilmt), womit er die britische Noir-Schule begründete und in die Bestsellerlisten katapultiert wurde. Ted Lewis, schwer dem Alkohol verfallen, starb überraschend im Jahr 1982. Schon damals hatte er den Status eines manischen, menschenscheuen Kultautors (zumindest überall außer im verschlafenen, einfallslosen, biederen Deutschland). Seine schockierend präzisen Porträts des organisierten Verbrechens lassen vermuten, dass er selbst Kontakte zur Unterwelt hatte und Autobiografisches in seinen Romanen verarbeitete.


    Werke: All the Way Home and All the Night Through (1965), Jack's Return Home (aka Carter/Get Carter) (1970, dt. Jack rechnet ab (1971)/Jack Carters Heimkehr (1987)), Plender (1971) , Billy Rags (1973), Jack Carter's Law (1974, dt. Jack Carters Gesetz (1987)) , The Rabbit (1975), Boldt (1976), Jack Carter and the Mafia Pigeon (1977, dt. Jack Carters Wut (1987)), G.B.H. (1980, dt. Schwere Körperverletzung (1990))


    Inhalt (anhand Klappentext): George Fowler ist der Kopf eines weitverzweigten Londoner Unterweltimperiums. Pornografie, in Großbritannien in den Siebzigerjahren illegal, bis hin zur widerwärtigen Sparte der Snuff Movies, ermöglicht ihm unschätzbare Einnahmen, Gewalt und Korruption halten die Maschine in Gang. Dieses hochgefährliche Gemisch droht aber zu explodieren, als er herausfindet, dass einige seiner Leute in die eigene Tasche wirtschaften. Als die Situation trotz einiger Säuberungsaktionen weiter eskaliert, taucht er für eine Weile in Mablethorpe unter, einem langweiligen Kaff an der Küste, um aus der Schusslinie und aus den Schlagzeilen zu verschwinden. Diese Gefahr scheint fürs erste gebannt, doch wohin mit den grausamen Erinnerungen, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat? George Fowler legt sie auf Eis und gießt Scotch darüber... viel Scotch...


    Auf zwei Zeitebenen (und an zwei Orten) wird die Geschichte im kapitelweisen Wechsel erzählt - die Gegenwart an der „See“ in Maplethorpe und die Vorgeschichte im „Rauch“ der Stadt London -, bis kurz vor Schluss sich zwei ähnliche Situationen in Vergangenheit und Jetzt-Zeit überlappen. Sehr sauber und spannungstreibend konstruiert. Alle Dialoge dieses herausragenden Gangsterromans sitzen auf den Punkt. Die Atmosphäre in dem verwaisten Küstenort Maplethorpe außerhalb der Saison, die Gespräche, die Gangsterboss Fowler, hier untergetaucht, wo ihn niemand kennt, mit unterbeschäftigten Barkeepern und dem Impressario der örtlichen Tanzhalle führt, sind wunderbar eingefangen. Das Buch ist ein weiterer Beweis dafür, was sich mit den Mitteln des Kriminalromans nicht alles über menschliche Verhaltensweisen erzählen lässt: Es geht vor allem um Paranoia, aber auch um Denunziation, Geldgier und Illoyalität. Außerdem um Einsamkeit, Trauerarbeit, Voyeurismus und Kontrollverlust. Ein Roman, der zeigt, wie anfällig die Macht ist für Misstrauen.


    Der Roman wimmelt vor interessanten, zweischneidigen, ambivalenten Figuren, aber die interessantesten sind sicherlich die zwei wichtigen Frauenfiguren. Einerseits eine Frau (aus der Vergangenheit), die sich von der dunklen, gewalttätigen Schattenseite der Gesellschaft korrumpieren lässt (wenn man es negativ ausdrücken möchte), beziehungsweise sich so erst zu ihrem wahren Selbst entwickeln kann (wenn man es positiv ausdrücken möchte), also erst durch Verbrechen, Gewalt und Pornografie zu ihrer perfekten, sie wirklich erfüllenden Bestimmung findet. Andererseits eine Frau (in der Gegenwart), die sich treiben lässt, ihre sehr großen künstlerischen Talente eher schleifen lässt und mit Anfang Zwanzig im Grunde den Zug schon abgefahren glaubt. Eine sehr geheimnisvolle, selbstbewusste Person, deren Absichten nicht klar sind: Sehr schnippisch im Tonfall, lässt sie sich von Macht und Symbolen nicht überrumpeln, sondern lässt sie auflaufen, kritisiert sie allein durch ihre widerspenstige Haltung und spielt mit Männern, den Umständen und ihrer eigenen Rolle, solange es ihr Spaß macht. Alles in der Waage haltend, ein Tanz auf Messers Schneide.


    Mehr über die kriminellen Verwicklungen zu erzählen, als dass es sich um rivalisierende Bandenkriminalität handelt, in die diverse Spitzel und eine ganze Latte an korrupten Polizisten und zwielichtigen Anwälten verwickelt sind, hieße den Spaß am Roman doch sehr zu schmälern. Selten, so scheint mir, wurde der Sturz eines Potentaten durch üble Nachrede, Missgunst und Paranoia treffender dargestellt als in Ted Lewis' letztem Roman. Ein kriminelles System, auf Vertrauen und Vertraulichkeit gebaut, das sich selbst durch Misstrauen zerfleischt. Der Einflussreichste an der Spitze, der sich aus Angst vor Verrat, aus Zweifeln an seinen Untergebenen, fast um den Verstand bringt. Der so aber auch zu einer Gefahr der kriminellen Organisation werden könnte... Wer oder was ist Schuld an seinem Niedergang: Sein Zweifel an seinen Handlangern und den Menschen, den er vertraute? Oder sind doch die zweifelhaften Taten der Handlanger schuld? Wer spielt falsch? Wem kann man trauen? Was ist wahr, was ist falsch? Und was sind vielleicht nur Trugbilder? Ein Buch sich ausbreitenden Wahnsinns! Ein zum Niederknien guter Paranoia-Roman des britischen Noir-Meisters! :pray:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Everett "Erschütterung" (27.03.)

  • Die britische Ausgabe von Februar 1980 von Sphere. Der Originaltitel GBH steht übrigens für Grievous Bodily Harm.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


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  • Und eine Neuauflage, die am 21. April 2015 bei Soho Crime erscheint. Samt Kindle-Ausgabe!

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