Pär Lagerkvist - Die Sibylle / Sibyllan

  • Der Autor (nach Wikipedia und dem Hermes-Handlexikon "Die Klassiker der skandinavischen Literatur" von Heiko Uecker): Pär Fabian Lagerkvist (1891-1874) war ein schwedischer Schriftsteller und Dichter, der im Jahr 1951 den Nobelpreis für Literatur erhielt, vor allem für seinen Roman „Barabbas“ über den Räuber und Mörder, zu dessen Gunst Jesus Christus zur Kreuzigung verurteilt wurde. Geboren als fünfter Sohn eines Bahnarbeiters, studierte er kurzfristig in Uppsala und suchte den Umgang mit jungen Künstlern. 1911 Kunststudium in Paris. Verfasste 1913 das ästhetische Manifest „Ordkonst och bildkonst“ (Wortkunst und Bildkunst). Während des Ersten Weltkrieges lebte Lagerkvist in Kopenhagen, wo er unter anderem den Gedichtband "Ångest/Angst“ sowie erste Theaterstücke verfasste. Sein autobiografischer Roman „Barnet utan värld“ („Das Kind ohne Welt“) wird 1917 vom Verlag als zu negativ abgelehnt. 1930 zog er sich sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und lebte mit seiner Familie auf einer Insel in der Gemeinde Lidingö.


    Werke, die auch in deutscher Übersetzung erhältlich sind: Onda sagor/Schlimme Geschichten (1924, dt. 1928), Gäst hos verkligheten/Gast bei der Wirklichkeit (1925, dt. 1952), Bödelen/Der Henker (1933, dt. 1946), I den tiden/In jener Zeit (1935), Dvärgen/Der Zwerg (1944, dt. 1946), Barabbas (1950, dt. 1952), Sibyllan/Die Sibylle (1956, dt. 1957), Ahasverus död/Der Tod Ahasvers (1960, dt. 1961), Pilgrim på havet/Pilger auf dem Meer (1961, dt. 1963), Det helige landet/Das Heilige Land (1964, dt. 1965), Mariamne (1967, dt. 1968).

    Hoch am Berg über dem Orakel von Delphi lebt in äußerster Abgeschiedenheit eine alte Frau mit ihrem schwachsinnigen Sohn. Einst war sie als Pythia, als weissagende Priesterin, dem Gott geweiht und diente seit ihrer Jugend dem Orakel. Wegen einer Verfehlung – sie verliebte sich während der gottesdienstlosen Monate, als sie nach dem Tod ihrer Mutter wieder zuhause im Tal weilte – wurde sie verstoßen und beinahe von einer aufgebrachten Volksmenge getötet. Der Mann, den sie liebte - ein nach langem Aufenthalt in der Fremde als Soldat eben erst verwundet Heimgekehrter -, kam bei einem Unglückssturz in den Bergen zu Tode; doch sie trug, als sie in die Verbannung ging, die Frucht ihrer Liebe bereits im Leibe ...


    Die Einsiedlerin erzählt ihre Lebensgeschichte einem Mann, der sie aufsucht, nachdem seine Frage im Orakeltempel nicht zugelassen wurde, die ihm sein zukünftiges Schicksal erhellen soll. Er hält sich für verflucht, nachdem er einst einem zur Kreuzigung verurteilten Mann, der auf seinem Weg zum Richtplatz an dem Haus des Mannes vorbeikam, nicht erlaubte, sich an seiner Hauswand zur Erholung kurz anzulehnen. Dieser Mann, der von einigen als Gottes Sohn angesehen wird (und der später nach drei Nächten im Grab zum Himmel aufgefahren sein soll), verfluchte ihn zu ewigem Leben ohne Erlösung und Freude. Seitdem wandert der Mann ziellos in der Welt umher, während seine Frau und sein Kind starben. Die alte Sibylle soll ihm, dem Ahasver, seine Zukunft, sein Schicksal benennen.


    Pär Lagerkvist bezeichnete sich einmal als „Glaubender ohne Glauben, als religiöser Atheist". Und tatsächlich ist dieser kurze, sehr dichte Roman eine intensive Suche nach metaphysischen Gewissheiten. Es geht um den Zweifel, um fürchterliche und liebende Götter, das Schicksal und das Verhältnis vom Irdischen zum Göttlichen. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, die sich gegen einen grausamen und gleichgültigen Gott empören, der unerreichbar fern und gewissermaßen „unmenschlich“ die Menschen in ihrem Leid alleinlässt. Menschen im Zweifel an ihrem Glauben, an den Grundfesten ihrer Existenz: Der Mann, der sich verflucht glaubt, und davon nicht mehr loskommt; die Frau, die an ihrer Berufung zweifelt, die nicht mehr an die Sache, der sie sich verschrieben hat, glauben kann, die Priesterin also, die doch nicht nur zum Gottesdienst berufen sein kann (oder möchte), sondern auch „zum Menschlichen“ berufen ist (oder es sein sollte), zu menschlichen Sehnsüchten und der privaten Liebe. Ist es eine Verfehlung, noch Anderes neben dem Göttlichen zu lieben? Ist es eine Verfehlung, an sich zuerst zu denken? Sind die Götter rachsüchtig und strafen diejenigen, die einen anderen lieben, als sie selbst; diejenigen, die sie vergessen? Denken die Götter nicht auch an sich zuerst?


    Doch die Sinnsuche in dem Roman (für die Figuren und den Leser) wird weiter verkompliziert: 1.) Die Pythia wird von allen Mitmenschen gerade wegen ihrer unmittelbaren Nähe zu dem Gott gemieden. Diese Nähe ist ihnen unheimlich. 2.) Die Pythia hielt sich immer für die von Gott für das Priesteramt Auserwählte, doch anscheinend ist der Posten so unbeliebt, dass sich selten jemand findet – und ihre Eltern waren wohl einfach zu unwissend und unbedarft, ihre Zustimmung dafür zu verweigern, dass ihre jungfräuliche Tochter eine "Geliebte Gottes" wird. 3.) Der "irdische Geliebte" der Pythia, der zuerst wegen seiner langen Abwesenheit überhaupt nicht wusste, dass sie eine Priesterin (gewissermaßen einem anderen versprochen) ist, wendet sich von ihr ab, als er bei einem Gottesdienst einmal ihr in der Trance wild verzücktes Gesicht sieht. 4.) Der erste Gottesdienst, nachdem sich die Pythia verliebte, wird als Vergewaltigung durch den Gott in Gestalt eines schwarzen Ziegenbocks, der über sie kam, beschrieben. 5.) Ihr schwachsinniger Sohn scheint gar nicht „ein Kind der Liebe“, gar nicht von ihrem irdischen Geliebten zu sein, sondern Ausgeburt der unbefleckten Empfängnis bei jenem Gottesdienst, als der rachsüchtige Gott sie für ihre Untreue „bestrafte“. 6.) Dieser Gottessohn, Sohn eines Ziegengottes, ist völlig fern der Menschen und ohne den Verstand eines Menschen. Er lächelt nur einfältig über das Treiben in der Welt um ihn herum, die er nicht versteht. Ein Narr, der am Ende ... (das wird nicht verraten!) O:-)


    Der Roman beschreibt unlösbare Widersprüche und legt nahe, dass die Unlösbarkeit den Kern des menschlichen Daseins ausmacht. Ob man nun von Gott verflucht oder gesegnet ist (oder sich selbst so sieht), ist es doch unmöglich, dass die Selbsterfahrung des Menschen vom Göttlichen loskommt, beziehungsweise von dem, was außerhalb des eigenen Selbst ist; Gedanken, die größer sind als man selber, die über den eigenen Bauchnabel hinausreichen. Wer zweifelt, lebt. Eine Erfahrung, ob gut oder schlecht, die man nicht missen sollte:

    Zitat

    Er ist nicht so wie wir, und wir können ihn nie begreifen. Er ist unbegreiflich, unergründlich. Er ist ein Gott. Soweit ich es fassen kann, ist er beides: gut und böse; beides: Licht und Dunkelheit; beides: sinnlos und voll eines Sinnes, den wir nicht herausfinden können, und über den wir doch unablässig nachgrübeln müssen.

    (S. 215 in meiner Taschenbuch-Sonderausgabe zum vierzigjährigen Bestehens des Arche-Verlages)


    Kann man einen Gott, der einen leiden lässt, hassen?! Wie kann man etwas hassen, von dem man nicht weiß, was es ist! Aber lieben kann man es, das Unbekannte, den Gott, somit wohl auch nicht ... Das ist fürwahr ein die Gedanken sehr anregender Roman eines religiösen Atheisten, gewinnbringend für Gläubige und Ungläubige gleichermaßen!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Dies ist die schwedische Originalausgabe von 1956:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Hier ist eine äußerst schöne, 160-seitige Ausgabe auf Englisch. Eine Kindle-Variante gibt es auch via Amazon. :thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Wer schwedische Literatur lieber auf Französisch liest, bittesehr: "La sibylle".

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Und noch eine Ausgabe in niederländischer Sprache aus dem Verlag J.M. Meulenhoff:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)