Shepard Rifkin - Der Kelch der Mörder / The Murderer Vine

  • Der Autor (nach flubow.ch): Der Lebenslauf des New Yorker Schriftstellers Shepard Rifkin (1918-2011) liegt größtenteils im Dunkeln. Bekannt ist eigentlich nur, dass er 1947 zum Personal des berühmten Schiffes „S.S. Ben Hecht" gehörte, das beim Versuch, die britische Blockade Palästinas zu durchbrechen, um Hunderte Holocaust-Überlebende in ihre Heimat zu überführen, gekapert wurde. Die Schiffsbesatzung (und also auch Rifkin) steckten die Briten daraufhin in Israel ins Gefängnis. Über diese Zeit in seinem Leben schrieb Rifkin später ein Erinnerungsbuch mit dem Titel „What Ship? Where Bound?“. Außerdem veröffentlichte er fünf Krimis (die zwei einzelnen Romane „Ladyfingers“ (1969) und „The Murderer Vine“ (1970) und die Trilogie um den hartgesottenen, sarkastischen Detective Lieutenant Damian McQuaid vom New Yorker Morddezernat), drei Western („Texas Blood Red“ (1956), „The Warring Breed“ (1961) und „King Fishers Road“ (1963), den Abenteuerroman „Desire Island“ (1960) und einen Band mit Kurzgeschichten („The Savage Years“ (1967)). Sein Thriller „The Murderer Vine / Der Kelch der Mörder“ wurde im Jahr 2008 als "Hard Case Crime Book" wieder aufgelegten.


    In seinem mexikanischen Exil im Dschungel von Puerto Lagarto erzählt der ehemalige Privatdetektiv Joe Dunne einem Missionar jene folgenreiche Geschichte, nach der er sich vor bald zwei Jahren gezwungen sah, die USA zu verlassen. Sein damaliger Auftraggeber, der millionenschwere Unternehmer Parrish, hatte ihn, den New Yorker Ex-Cop und Veteran des Koreakrieges, beauftragt, in einem rassistischen Südstaatenkaff in Mississippi dem Mord an seinem Sohn David und zwei schwarzen Harvard-Kommilitonen auf den Grund zu gehen, allesamt idealistische Bürgerrechtler im Kampf für die Rechte der Schwarzen. Für das Auffinden der Leichen stellte ihm Parrish 25.000 Dollar in Aussicht - und für die Hinrichtung der fünf Mörder, wovon einer der Sheriff sein sollte, eine halbe Million. Getarnt als kanadischer Sprachwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über die Dialekte der Südstaaten schreiben möchte, bezog Dunne zusammen mit seiner Assistentin Kirby, die aus der Gegend stammt, was ihm einige Türen öffnen sollte, eine Wohnung vor Ort und versuchte, sich in die Kreise der rassistischen Oberschicht einzuschmuggeln ...


    Dieser hartgesottene Noir-Roman beruht auf einem authentischen Fall, der sich 1964 in Mississippi zugetragen hat. Entweder ist Privatdetektiv Dunne hinreichend verkommen, gegen gute Bezahlung zum Racheengel zu werden, der das Gesetz in die eigenen Hände nimmt – dagegen scheinen sein hoher Anstand und seine liberale Gesinnung zu sprechen -,oder er schätzt die Situation dahingehend realistisch ein, dass in dieser speziellen Mordsache in einer Kleinstadtgesellschaft mit tief verwurzeltem Rassenhass der Gerechtigkeit nicht anders genüge getan werden könne, als mit roher, alttestamentarischer Gewalt. So oder so ist die dahinterstehende Weltsicht von niederschmetternder Düsternis, die letzte zu benutzende Spielwiese des gebrochenen Helden liegt eindeutig außerhalb jeder Legalität! Auf der reinen Handlungsebene ist er so keinen Deut besser als seine Widersacher; er, der bezahlte Killer, dessen letztes Verdienst ist, kein Rassist zu sein.


    Der Roman ist ausgesprochen präzise in der Beschreibung der Vorbereitungen, die Dunne für seinen Racheplan und seine Maskerade als Doktorand anstellt. Minutiös werden die Planung von Fahrtwegen, die Besorgung falscher Pässe und die Auswahl und Probe einer speziellen Tatwaffe beschrieben. Auch für einen Abstecher an die Universität, an der er angeblich seinen Doktor macht, ist Zeit, um sich in das Campus-Leben einzufinden und um spezifische Informationen mitzunehmen, die für Gespräche über sein Fachgebiet nützlich sein können. Der größte Teil des Romans zeigt dann, wie sich Dunne und Kirby äußerst erfolgreich in das gesellschaftliche Leben in dem Südstaatenkaff einleben – und sich der liberal denkende Dunne zum Schein als ausgemachter Rassist inszeniert, was ihm Zutritt in die Kreise des örtlichen Ku-Klux-Klan-Ablegers verschafft. Er demütigt schwarze Mitbürger und schlägt dem letzten Freigeist des Ortes, der nur geduldet wird, da er einer alteingessenen Familie entstammt, beim abendlichen Tanzvergnügen im Country Club die Nase blutig. Eine Überwindung, aber wenn man schon zuhaut, dann richtig. Der zweite Schlag für Dunnes liberale Gesinnung wird später erfolgen, als er erkennen muss, dass ihm die fünf Mordbuben leider halbwegs sympathisch erscheinen: Wären sie keine brutalen Rassisten, die ohne zu zögern Menschen töten, könnte er mit ihnen glatt befreundet sein … Ich werde mich hüten, an dieser Stelle mehr zu verraten! :wink:


    Eine rasante, sehr spannende Geschichte, die erbarmungslos wie ein Zeitzünder herunterrattert - man weiß, dass sie kein gutes Ende nehmen kann. Die von sumpfiger Natur umgebende, idyllische Kleinstadt ist eben nur für manche ein freundlicher Ort zum Leben, jede Seite ihres gesellschaftlichen Lebens ist vom Rassenhass durchdrungen, ihre Amts- und Würdenträger sind keine Bannerträger der Menschlichkeit, die Stützen der Gesellschaft sind kein Garant zivilisierter Rechtsstaatlichkeit. Eine Welt von Lug und Betrug und Gewalt.


    „Der Kelch der Mörder“ ist wahrlich keine billige, schnell zu goutierende Rachegeschichte voller Harte-Männer-Floskeln, sondern an der Seite einer Hauptfigur, die zwar „irgendwie das Richtige" tun will und dabei vielen Menschen schadet, ein niederschmetternder Blick in moralische Abgründe. Dunnes sämtliches Versagen ist höchstens einer einzigen falschen Entscheidung geschuldet, wenn nicht eher sogar systemisch angelegt. Die Zivilisation geht in die Brüche oder ist schon verloren. Eine freundlich das Geschehen beobachtende Lesehaltung ist so kaum möglich - als Leser wird man schön in das Dilemma der Hauptfigur hineingezogen. Zutiefst noir durch und durch, weil es um die moralische (und physische) Zerstörung des Individuums in der moralisch verkommenen Herdengesellschaft in einer Welt des Misstrauens geht. Perfekte, weil tiefsinnige Unterhaltung.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


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    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Hier ist die englische 2008er-Neuauflage des zuerst 1970 erschienenen Romans "The Murderer Vine" im Rahmen der "Hard Case Crime-Books" des Titan-Verlages. Es gibt auch eine preiswerte Kindle-Ausgabe. Das Titelbild hat übrigens nichts mit dem Inhalt zu tun (es sei denn dieser Aspekt wurde vom Scherz-Verlag in der deutschen Übertragung einst hinausgekürzt... :wink: )

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  • Ich habe übrigens keine rechte Ahnung, warum der Roman auf deutsch "Der Kelch der Mörder" heißt. Allerdings macht mir auch "Murderer Vine" Schwierigkeiten. Ich würde es blauäugig (und in Unkenntnis jeden Sechzigerjahre-Slangs) vielleicht als "Mördergeflecht" übersetzen. Das Unmenschliche, Brutale, Mörderische, der Rassismus ist in der Gesellschaft gewachsen wie eine Schlingpflanze, eine Rebe, die man nicht ausrotten kann. Wer weiß... Oder benutzt man "Kelch" auch im Sinne eines "Kleeblattes" als: eine Gruppe von Leuten?

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