William Heinesen - Der Turm am Ende der Welt / Tårnet ved verdens ende

  • Inhalt (nach Buchumschlag): William Heinesens Erinnerungen führen an den Anfang des 20. Jahrhunderts und haben die damalige Welt der Færøer-Inseln vollständig verwandelt. Wie im Traum, Märchen und Mythus ist die Gegenwart ganz fern und das Vergangene ganz gegenwärtig. Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig, die harte Entscheidung des Entweder-Oder kann allmählich gelernt werden. Aus der Weltentdeckung des Knaben Amaldus entsteht das Gewebe des Lebens, aufgezeichnet in einem kindlichen und weisen Buch, das uns nicht zuletzt sagt, wie wir die Natur verstehen sollten.


    Der Autor (zusammengebaut aus Wikipedia): William Heinesen (1900-1991) war der bedeutendste Dichter der Färöer, dieser zur dänischen Krone gehörenden autonomen Inselgruppe zwischen Schottland und Island. Darüber hinaus war er bildender Künstler und Komponist. Geboren wurde er in der oft nebelverhangenen Hauptstadt Tórshavn, auf der größten Insel Streymoy gelegen, eine schroffe, windumtoste, einsame, nordische Inselwelt mit Salz in der Luft, Gischt, dürrem Gras, Schafen und schrulligen Leuten, in einer Zeit, bevor Färöisch an der dortigen Schule unterrichtet wurde und nur Dänisch Schriftsprache war. Um 1900 lebten etwa 1600 Menschen in Tórshavn. Im Jahr 1909 erhielt die Stadt den Status einer dänischen Handelsstadt, 1927 erhielt sie einen richtigen Seehafen. Seine Heimatstadt nannte Heinesen gerne „den Nabel der Welt“. Als Kaufmann ausgebildet, begann der Sohn eines Kaufmanns bald zu schreiben und wurde später Journalist. Mit 21 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Bis 1954 betrieb er außerdem ein Handelsgeschäft in Tórshavn. Heinesen Werke beschäftigen sich gerne mit dem Gegensatz von Dunkelheit und Licht, dem Gegensatz von Zerstörung und Kreativität.


    Die meisten seiner Bücher schrieb er auf Dänisch, später wurden sie ins Färöische übersetzt. Sein literarisches Werk umfasst sieben Gedichtsammlungen, sieben Romane und sieben Novellensammlungen. Sein erster Roman „Blæsende Gry“ erschien 1934, sein zweiter "Noatun" (dän. 1938) erschien 1939 in deutscher Übersetzung.1965 erhielt Heinesen als erster Färinger den Literaturpreis des Nordischen Rates für „Det gode håb“. Er ist neben Rói Patursson der einzige Färinger, der diese Auszeichnung erhalten hat. 1980 wurde der Schriftsteller für sein Werk „Her skal danses“ mit dem dänischen Kritikerpreis geehrt. In der bildenden Kunst entwickelte er im hohen Alter eine Perfektion im Scherenschnitt. Ansonsten war er Pastellmaler und Buchillustrator, schuf Papierkollagen, Plakate und Wanddekorationen.


    Werke (Auswahl): „Blæsende Gry“ (dän. 1934, engl. „Windswept Dawn“), „Noatun“ (dän. 1938, dt. „Die Leute von Noatun“), „Den sorte gryde“ (dän. 1938. dt. „Der schwarze Kessel“, engl. „The Black Cauldron“), „De fortabte spillemænd“ (dän. 1950, dt. „Die verdammten Musikanten“, engl. „The Lost Musicians“), „Moder Syvstjerne“ (dän. 1952, engl. „Mother Pleiades“), „Det gode håb“ (dän. 1964, dt. „Die Gute Hoffnung“, engl. „The Good Hope“), Laterna Magica. Fortællinger (dt. „Das verzauberte Licht. Erzählungen“, engl. „Laterna Magica. Short Stories“), „Tårnet ved verdens ende“ (dän. 1976, dt. „Der Turm am Ende der Welt“, engl. „Tower at the Edge of the World“)



    William Heinesen ist ein sehr fantasievoller Erzähler mit einem Herzen für Außenseiter, die Natur, geheimnisvolle Zwischentöne und die Mythen der alten Sagenwelt. In seinem schattig-verspielten Coming-of-age-Roman "Der Turm am Ende der Welt" zeigt er seinen Hang zum Ornamentalen und Dekorativen, eine Eigenschaft, die einem Märchenonkel allerdings ja auch zur Ehre gereicht. Manches Mal muss man jedoch schon sehr genau hinschauen, um hinter der schönen Oberfläche noch einen tieferen Sinn zu finden, außer, dass überall eine Geschichte lauert, dass es über jeden Menschen berichtenswerte Dinge zu erzählen gibt, und dass auch in Kleinigkeiten erinnerungswürdige Begebenheiten verborgen sein können.


    Der Roman nennt sich auf dem Deckblatt selber "poetischer Mosaik-Roman über die früheste Jugend", was es ganz gut trifft, da lauter kleine Geschichten und Szenen mit einzelnen Leuten aus der Stadt und der Familie des jungen, empfindsamen Amaldus versammelt werden - im Rückblick erzählt vom 74-jährigen Amaldus aus seinem Turmzimmer. Aus diesen Mosaik-Steinchen setzt sich ein Eindruck einer noch von Magie erfüllten Kindheit und Jugendzeit zusammen, wenn man viele Dinge noch nicht versteht und sich selber Erklärungen zusammenreimt, die oft aus Mythen, alten Sagas und Märchen stammen. Zuerst erobert sich die Sprache ihren Platz, nachdem mit dem Klang der Worte gespielt wird, tritt die Bedeutung hinzu, die irgendwann mit eigenem Sinn und Moral angereichert wird. Täglich erscheinen neue geheimnisvolle Begriffe: Horizont, Schicksal, sterben. Die Geräusche, die man beim Einschlafen hört, sind beispielsweise das Fallen von Sternentropfen (auch wenn nur ein Wasserhahn tropft), abends hört man den Abendvogel gackern (was eigentlich das Horn des Fährmanns ist), die Erde ist solange eine Scheibe, bis die Lehrerin einen Globus anschleppt. Ab jetzt gibt es den schönen Turm am Rande der Welt nicht mehr, da es nun auch eine Welt hinter dem Horizont gibt. Diejenigen, die sich ihre Fantasie auch im Alter bewahren können, wissen wenigstens, dass es diesen Turm einst gab, in einer Zeit, als Kinder noch mit Traumwesen durch die Lüfte fliegen konnten. Spätestens mit dem Aufkommen der ersten Liebe bekommt die heile Kinderzeit dann erste Risse: Die Realität sickert ein. Wer sich dann noch fragt, warum Newton ausgerechnet ein Apfel auf den Kopf fiel, und keine Birne, und wer das Ei des Kolumbus und Alexanders Art, den Gordischen Knoten zu lösen, eigentlich für Betrug hält, hat zwar vielleicht einen schweren Stand im Leben zwischen all den abgeklärten, geschäftstüchtigen Erwachsenen, aber bestimmt ein erfüllteres, eindrückliches Leben.


    Das ist alles wirklich sehr poetisch, originell und abwechslungsreich erzählt, dennoch mag ich solche Ansammlungen von skurrilen Charakteren, solche "magisch" überhöhten Kindheitserzählungen meist nicht so gerne. Wenn sich Romane im Kleinteiligen verfisseln, sich allzusehr in den Marotten ihrer Figuren suhlen und an sich: keinen langen Atem haben. Wer taucht den in diesem Roman alles auf? Der junge Amaldus lernt einen Rabauken namens Hannibal kennen, der sein bester Freund wird. Erzählt wird auch von Amaldus' leichtlebigem Onkel Harry, der irgendwann mit seinem Schiff verunglückt, vom verrückten Hurl-Hans und dem Dichter, der eine Tonne voller menschlicher Knochen und Schädel im Keller stehen hat, von Fina aus dem Trantenhaus und der Rosenpuppe, ihrer einfältigen Tochter Rosa, dem Glaser, dessen sechs Kinder an Auszehrung sterben, von den klugen Jungfrauen, Kaffee-Pouline, der Spanischen Rikke und der tauben Jane, von Kunstmaler Selimsen, der in einem Nachtbuch seine Träume notiert, vom Erdmädchen Össemödl, das im Dunkel unter dem Haus lebt und auf die Posaunen des Jüngsten Gerichts wartet, um mit den anderen bleichen Erdmädchen von den Toten wieder aufzuerstehen, von den bärtigen Zwillingen „Nenner“ und „Zähler“, mit denen Amaldus strenger, fantasieloser Vater immer Karten spielt, und natürlich von dem einige Jahre älteren Mädchen Merrit, die so schön singen kann und „Starr-Auge“ genannt wird, für die Amaldus zärtliche Gefühle entwickelt - bis sie in die große weite Welt verschwindet.


    Nach all ihren Geschichten ist das Buch irgendwann aus, ohne große Höhepunkte - ein wenig wirkt es wie der erste Teil einer Autobiografie, dem der zweite fehlt. Eine schöne, freundliche und altertümliche Lektüre mit eigentümlicher Stimmung und gutem Blick für die Schattenseiten des Lebens. Doch wenn das Buch zugeklappt ist, sind viele der disparaten Geschichten bald wieder vergessen, zwischen denen die Figur des Amaldus fast verschwindet. Wirklich gute :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

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