Xianliang Zhang - Gewohnt zu sterben / Xiguan siwang

  • Inhalt (nach Klappentext): "Gewohnt zu sterben" erschien im Januar 1989 (zuerst in der Zeitschrift "Wenxue Siji" in Peking und später als Buch beim Verlag „Hundred Flower“ in Tianjin) und war nach den Juni-Ereignissen auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens nur noch auf dem schwarzen Markt zu haben. Der Roman spiegelt die Stimmung der chinesischen Intelligenz nach der "Kulturrevolution" wider, indem die Einsamkeit, Bedrücktheit und Hoffnungslosigkeit eines Schriftstellers dargestellt werden. Die Handlung spielt teils im China der "Kulturrevolution", teils im westlichen Ausland, wo sich der namenlose Held inzwischen besuchsweise aufhält. Immer wieder kehren die Erinnerungen des Helden zu Leid und Tod zurück, während der Hauptinhalt seines gegenwärtigen Lebens die Liebe ist.

    Der Roman "Gewohnt zu sterben" erzählt sehr assoziativ, fragmentarisch und autobiografisch aus der Lebensgeschichte eines Mannes (des Autors), der 22 Jahre im Zuge von Maos "Kulturrevolution" in Arbeitslagern und Gefängnissen "umerzogen" werden sollte. Der Mann ist es gewissermaßen gewohnt zu sterben, da er in dieser Zeit schon vielfach "seelisch" getötet wurde:


    Zitat

    Obwohl ich hundertmal von dem alten Herrn umgebracht worden bin, ist es mir doch, gerade weil er mich so oft umgebracht hat, zur Gewohnheit geworden, alles auf Erden in seinem Sinne zu beurteilen, einschließlich unserer Liebe, wenn es denn Liebe war zwischen uns.

    (S. 184, mit dem alten Herren ist Mao Zedong gemeint). Auch derjenige, der den Schrecken der Arbeitslager überlebt hat, trägt das zugefügte Leid in seiner Seele, ebenso den eingepflanzten Selbstzweifel, ob die Ankläger von einst mit ihrer Schuldzuweisung vielleicht nicht doch recht hatten.


    Vom Lagerleben wird nur ausschnitthaft berichtet, etwa dass die Gefangenen skelettierte Leichen aus Massengräbern ausgraben mussten - wer am Ende des Tages die meisten vollständige Skelette vorweisen konnte, bekam keine Essenskürzungen aufgedrückt -, um Angehörigen, die auf die Herausgabe der Leichen von Verwandten geklagt hatten, (irgendwelche) Knochen in Plastiksäcken aushändigen zu können. Er berichtet über vorgetäuschte Exekutionen und tödlichen Hunger, der einem wenigstens die Qual des Grübelns erspart (vielleicht auch nur, weil dem Gehirn Nährstoffe zum sinnvollen Nachdenken fehlen).


    Die meiste Zeit springt die Geschichte vor und zurück durch das Leben des Mannes und berichtet über seine vielfältigen Liebschaften und sexuellen Begegnungen mit den Frauen, die er liebte, an ganz unterschiedlichen Orten der Erde, unter anderem in New York, San Francisco und Paris; chinesische Städte sind dagegen entweder namenlos oder abgekürzt. Zusätzlich verkompliziert wird die sehr poetische Geschichte durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven (die gewissermaßen alle zur gleichen Person gehören und unterschiedliche Arten der Selbst- und Fremdbetrachtung darstellen): Mal berichtet ein Ich-Erzähler, mal wird in der dritten Person berichtet, mal gibt es eine Du-Ansprache, die wie eine Gedankenstimme firmiert, mal wird mit dem „Du“ auch eine andere Person angesprochen. Dass die auftauchenden Frauengestalten bis auf eine keine Namen tragen und keine Zeitangaben gemacht werden, trägt dazu bei, dass die Konturen der einzelnen Erlebnisse aufweichen und sich alles Erlebte zu einer einzigen Geschichte vermischt, deren Werden und Vergehen gewissermaßen durchgängig durch die tiefgehenden Erfahrungen von Leid und Tod erklärt werden können, die der Mann machen musste. Die Darbietung entspricht in etwa der Art, wie man sich meist an seine Vergangenheit erinnert: sprunghaft, in kurzen Gedankenblitzen, Muster bildend. Es sind die Lebenserinnerungen eines Mannes, der schweren seelischen Schaden genommen hat, und der nun in seiner zweiten Lebenshälfte versucht, sich durch Liebe und Sexualität nach all dem Elend wieder mit dem Leben und der Lebendigkeit zu verbinden. Oder der erkannt hat, dass Liebe, Gefühle und Körperlichkeit immer auch mit dem Tod verbunden sind. Zumindest für diesen speziellen Erzähler bestehen die weichen Körper seiner Liebsten immer auch aus blanken Totengerippen, aus Knochen, die leise knacken. Ein Mann auf der Suche "nach den Bruchstücken seiner Seele" (S. 284), die während der "Kulturrevolution" und in seiner Zeit in Arbeitslagern ebenso durcheinandergeraten sind, wie die Knochen der Toten, die er als Gefangener einst ausbuddeln musste.


    „Gewohnt zu sterben“ ist sehr gehaltvolle, anregende und auch informative Lektüre ohne gängige Handlung, aber voller zitierwürdiger Sätze fern jeder Glückskeksweisheiten, voll Metaphysik und metatextueller Einsprengsel. Ein Roman über den Umgang mit Erinnerungen, Einsamkeit, die Trübsal des Herzens und die Liebe (oder auch „das Liebemachen“) in einer Welt, in der das menschliche Gegenüber einem sowohl Schrecken, Selbstzweifel und Tod, als auch glückliches Vergessen bescheren kann. Ein Roman, der bei aller thematischen Spezifik sehr allgemeingültig daherkommt, der allgemeine Lebensfragen berührt, nahegeht und angeht. Der einen (wie mich) aber auch daran erinnern mag, wie wenig man im Grunde über die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert weiß. In jedem Fall: eine Bereicherung!



    Der Autor (nach englischer Wikipedia): Xianliang Zhang (auf englisch auch: Hsien-Liang Chang) (Dezember 1936 - September 2014) war ein chinesischer Schriftsteller, Dichter und Präsident des Chinesischen Schriftstellerverbandes in Ningxia. Während der “Anti-Rechts-Kampagne” der sogenannten “Kulturrevolution” unter Mao Zedong Ende der 1950er-Jahre wurde er mit 21 Jahren für seinen familiären Background und ein “konterrevolutionäres” Gedicht als politischer Gefangener inhaftiert. Als “rechts” galt damals jeder kritische Geist, der sich gegen den Kommunismus, Verstaatlichung und die Partei äußerte. Während der nächsten 22 Jahre sollte er die meiste Zeit in diversen Arbeitslagern und Gefängnissen verbringen. 1979 wurde er rehabilitiert und lebte seitdem als freier Schriftsteller in Ningxia. Seine Sympathiebekundungen für die Studentenproteste auf dem Tiananmen Platz 1989 führte zum Verbot seines Romans “Gewohnt zu sterben”, das bis 1993 galt. 1992 gründete er in Zhenbeibu das West China Film Studio, in dem unter anderem so erfolgreiche Filme wie Wong Kar Weis Martial-Arts-Film “Ashes of Time” und Jeffrey Laus Fantasy-Komödie “A Chinese Odyssey” gedreht wurden. Werke in englischer Übersetzung: Mimosa (1985), Half of Man ist Woman (dt. Die Hälfte des Mannes ist die Frau) (1985), Grass Soup (1995), My Bodhi Tree (1994).

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das ist eine englischsprachige US-Ausgabe unter dem Titel "Getting Used to Dying" vom Verlag Flamingo (einem inzwischen nicht mehr existierenden HarperCollins-Imprint) aus dem Jahr 1991. Das chinesische Original erschien unter dem Titel "Xiguan siwang" im Jahr 1989, die deutsche Übersetzung ist aus dem Jahr 1994.

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