Nagib Machfus - Die Kinder unseres Viertels / Awlad Haretna

  • Der humanistische Roman eines Schriftstellers, der für sich die religiöse Frage beantworten möchte, wieso die Welt voller Ungerechtigkeit, Hass, Unterdrückung, Gewalt und ungleich verteiltem Zugang zu weltlichen Gütern und Einfluss sein kann, wo sie den Menschen doch einst von Gott als Geschenk gemacht wurde, auf dass sie gerecht unter allen verteilt werde. Warum werden das Gute, alle guten Absichten und das selbstlose Handeln und Denken von den Menschen in allen Zeiten immer wieder vergessen? Oder wurde vielleicht die göttliche Botschaft von den Menschen im Grunde überhaupt nicht verstanden? Eine Parabel der Menschheitsgeschichte, angesiedelt in einem zusammenfabulierten Stadtviertel Kairos über fünf Generationen hinweg. Auch wenn die alten Legenden durch die Sänger und Geschichtenerzähler in den Kaffeehäusern am Leben gehalten werden, scheint ihre tiefgreifende Bedeutung nicht gehört zu werden. Beziehungsweise nur von wenigen gehört, deren Schicksal sich sehr entfernt an die Legenden großer Gestalten der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam anlehnen, geschildert in den fünf großen Abschnitten des Romans.


    Inhalt (nach Klappentext): Am Rande der Stadt, wo die Wüste beginnt, steht das große Haus. Hinter hohen Mauern verborgen wohnt hier der geheimnisvolle Gabalawi, der Stammesvater des Viertels. Seit undenklichen Zeiten hat ihn niemand mehr gesehen. Dennoch leitet er mit unsichtbarer Hand das Schicksal seiner Kinder und Kindeskinder. Wächter und Verwalter terrorisieren das Viertel in wiederkehrenden Wellen von Aufruhr und Unterdrückung. Auf Adham folgt Gabal, auf Gabal Rifaam auf diesen Kasim. Sind sie Figuren der Menschheitsgeschichte, hinter denen sich Adam, Moses, Jesus und Mohammed verbergen? Und wer ist Arafa, der mit Hilfe von Wissenschaft und Zauberei die Zwietracht zwischen den „Kindern unseres Viertels“ zu beseitigen trachtet?

    Auch wenn der Roman „Die Kinder unseres Viertels“ von Intrigen, Belagerungen, Kämpfen, Mord und Totschlag wimmelt, ist es keine weltliche Variante alter religiöser Legenden in Form eines aktionsreichen Spannungsromans. Und spannend und erregend ist der Roman tatsächlich: Der meisterliche Erzähler Nagib Machfus vermochte es regelmäßig, mir während des Lesens die Zornesröte über die geschilderte Ungerechtigkeit ins Gesicht zu treiben. Die Seiten blättern sich auf diese Weise wie von selbst um!


    Bei dem Roman handelt es sich natürlich nicht einfach um eine bloße Nacherzählung von Geschichten aus Bibel und Koran, bildlich veranschaulicht für moderne Leser. Dazu sind die Störungen und Andersartigkeiten in den dargebotenen Heiligengeschichten zu zahlreich. Gabalawi ist weder Gott noch Allah, dazu ist er zu menschlich, Adam war auch kein Gemüsehändler und Jesus wurde nicht von seiner untreuen Ehefrau an die Feinde verraten. Die Bezüge zu den religionsgeschichtlichen Figuren sind genau in dem Maße gesät, dass man sich an die Vorbilder erinnert fühlt (und dazu muss man nicht gläubig oder sonderlich bibelfest sein). Auf keinen Fall sollen einem bloße Kopien vor Augen gesetzt werden! Bei dem gedanklichen Abgleich zwischen den Heiligen und den Romanfiguren wird dann genau der Bezugsrahmen von Ideal und Umsetzung, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit aufgemacht, der meiner Ansicht nach den Kern des Romans ausmacht: Was ist aus den Idealen der guten Anführer und Heilsbringer, überhaupt aus den guten Ansätzen des Menschen geworden, dass es mit der Welt so den Bach hinabgeht?


    Es geht dem Roman auch nicht nur um eine profane Gegenüberstellung von Judentum, Christentum und Islam (personifiziert in Moses, Jesus und Mohammed – die, wenn man so will, alle scheitern), sondern um die Menschheit an sich, die alle einst erfolgreichen heilsgeschichtlichen Revolutionen vergisst, sich an die Verhältnisse anpasst und vor ihren Unterdrückern katzbuckelt. Dafür scheint zu sprechen, dass der fünfte große Abschnitt von einer vorbildlosen Figur erzählt, hinter der sich ein einfacher Mensch verbirgt, der sich für Magie und Wissenschaft interessiert.


    Nach den vier großen Kapiteln, in denen immer aufs Neue sich wiederholende schreckliche Zustände von Unterdrückung, Gewalt, Hass, Neid, Ungerechtigkeit und Unabhängigkeitskämpfen geschildert werden – und das, nachdem doch jedes vorherige Kapitel eigentlich in einer Verbesserung der sozialen und spirituellen Situation der Menschen gipfelte -, endet der Roman wie mit einem humanistischen Aufruf, sich auf die Kraft des Menschen zu besinnen und den guten, friedvollen und gemeinnützigen Kern der lehrreichen Vorbilder der Menschheit nicht zu vergessen, von wem ihre Lehren auch vereinnahmt worden sind.


    Der Autor (nach Wikipedia): Nagib Machfus (nach anderer Umschrift auch Nagib Mahfuz, Naguib Mahfouz oder Nadjib Mahfus) (1911-2006) war ein ägyptischer Schriftsteller. Der Beamtensohn aus Kairo studierte Philosophie und arbeitete im Bildungsministerium. Nach drei Romanen über die Pharaonenzeit begann er, zeitgenössische Bücher zu schreiben, in denen er den Wandlungsprozessen und der Modernisierung der ägyptischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert nachspürte. 1959 veröffentlichte er seinen Roman „Die Kinder unseres Viertels“ als Fortsetzungsroman im Zeitungsfeuilleton. Konservative islamische Kreise erzwangen wegen angeblicher Gotteslästerung ein Veröffentlichungsverbot in Buchform. Erst im Jahr 2006 erschien der Roman in Ägypten auf Arabisch. 1988 wurde er als erster arabischsprachiger Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Die Nobelpreisverleihung wurde von fundamentalistischen Kreisen als Provokation des Westens empfunden. Kurz nach Salman Rushdie wurde auch über Machfus in einer Fatwa ein Todesurteil ausgesprochen. 1994 wurde Machfus von einem islamistischen Attentäter angegriffen. Seine Messerstiche in den Hals überlebte er schwerverletzt. Seitdem lebte er unter Personenschutz.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Das ist die erste englische Übersetzung des Romans, der auf arabisch "Awlad Haratina" heißt. Der Übersetzer ist Philip Stewart. Die Übersetzung ist von 1981 und trägt den Titel "Children of Gebelawi" (obwohl die akkurate Übersetzung wohl "Children of Our Alley" hätte lauten müssen). Diese Buchausgabe ist wohl aus dem Jahr 1988 vom US-amerikanischen Verlag "Three Continents Press".

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Das ist die zweite englische Übersetzung des Romans, vorgenommen von Peter Theroux. Der Titel entspricht eher dem Original. Diese Ausgabe ist 1999 bei Doubleday erschienen.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)