Jack Kerouac u.a. - Ruhm tötet Alles

  • Ich habe letztes Jahr diverse Bücher der Beatliteratur gelesen, und mittlerweile befindet sich Jack Kerouac im Kreis meiner Lieblingsautoren. Um ein bisschen mehr über ihn und die damalige Zeit zu erfahren, lese ich derzeit "Ruhm tötet Alles".


    Auszug aus dem Klappentext:

    Zitat

    "Die beiden großen Helden der Beat-Literatur Jack Kerouac und Allen Ginsberg schrieben sich unermüdlich von ihrem ersten Treffen im Jahr 1944 bis zu Kerouacs Tod im Jahr 1969. Alles, was für sie von Belang war, diskutierten die beiden Schriftsteller in diesen Briefen. Sie empfehlen sich Bücher, verreißen Autoren, tauschen Gedichte aus, kritisieren sich schonungslos..."


    Ein 25-jähriger Briefwechsel also, in dem der Leser neben der Biographie der beiden Schriftsteller auch noch deren Meinung und Hinweise zu interessanten Büchern und Autoren erhält. Das klingt doch mal echt interessant!


    Meine gebundene Ausgabe umfasst 501 Seiten, enthält eine Inhaltsangabe (alle Briefe sind in chronologischer Reihenfolge aufgeführt) ein 6-seitiges Vorwort des Herausgebers, sowie Danksagungen an alle möglichen Helfer. Zudem hat meine Ausgabe ein rotes Lesebändchen und ein sehr ausführliches Namensregister. (Kurzer Check: William S. Burroughs kommt erwartungsgemäß sehr, sehr häufig vor, aber auch Kafka, Thomas Mann, Melville, etc.)
    Einziges Manko: der Verlag hat mitten aufs Cover sein dickes, fettes, rotes Logo geklebt - warum zum Geier? Ich schaffe es zwar, den Aufkleber abzuknibbeln ohne den Umschlag zu beschädigen, aber Klebespuren habe ich jetzt dennoch drauf. Keine Ahnung was das soll: erst eine hochwertige Ausgabe drucken, und dann mit einem Werbeaufkleber verunstalten... [-(


    Die ersten paar Seiten habe ich schon gelesen, und ich bin schwer begeistert. Man erfährt viel, sehr viel sogar. Zuviel für eine Rezi, aber auch zuviel, damit ich am Ende des Buchs noch weiß, was vorne steht. Kaum habe ich eine Seite gelesen, schon recherchiere ich nebenbei im Internet, bspw. nach dem erwähnten Roman, nach dem geschichtlichen Vorfall, oder nach den erwähnten Personen.
    Das wird etwas dauern, bis ich mit dem Briefwechsel durch bin, aber auch wenn ich wenig am Lesen der Briefe bin, so macht es dennoch Spaß Hintergrundmaterial zu recherchieren.


    Daher nehme ich mir Folgendes vor: zu jedem Jahr schreibe ich hier kurz auf, was die Beiden in dem Jahr erlebt haben, worüber sie stritten, und welche Bücher erwähnt wurden.


    Der Briefwechsel startet Mitte August 1944. Die Anmerkung des Herausgebers informiert vorab, dass sich die Beiden etwa ein halbes Jahr vorher an der Columbia University kennengelernt haben. Jack Kerouac sitzt derzeit im Bronx County Jail in Untersuchungshaft: Ihr gemeinsamer Freund Lucien Carr hatte ein Mord begangen, und Jack half ihm ein paar Beweisstücke verschwinden zu lassen. (Diese Mordgeschichte ist mir schon bekannt, weil William S. Burroughs und Jack Kerouac sie im gemeinsamen Buch "Und die Nilpferde kochten in ihren Becken" verarbeitet haben.)


    1944 - Biographisches
    Im ersten Brief schreibt ihm Ginsberg also ins Gefängnis, erzählt wen er alles getroffen hat und wie es den Leuten draußen geht. Dabei verwendet er Pseudonyme, um die wahre Identität der Personen zu verschleiern, über die er schrieb. Keine Ahnung weshalb, aber vielleicht wird das später noch geklärt (paranoid?)


    Jack heiratet Edie Parker am 25. Aug 1944 noch in Polizeigewahrsam. Zudem wird die "new vision" erwähnt, eine von ihnen entwickelte Philosophie, deren Ideen auf Baudelairs Begriff des "Künstlers als Alchemist" zurückgehen.


    1944 - Literarisches
    Ginsberg weiß, dass man Kerouac den Roman "Die toten Seelen" von Nikolaj Gogol ins Gefängnis gebracht hat. Für Ginsberg ist Gogols Roman neben den "Geschichten der 1001 Nacht" eine Art Familienbibel:

    Zitat

    "es hat die ganze melancholische Grandeur von Modder Rovshia (Mütterchen Russland), den ganzen Borschtsch und Kaviar, die ganze flüchtige Leere jenes unbezahlbaren Gutes, der russischen Seele."


    Ginsberg liest ausserdem zeitgleich Jane Austen (um von der morbiden "recherché tempest fortunatement perdu" -der Atmosphäre des kürzlich erfolgten Mordfalls im Freundeskreis- herunterzukommen), Charles Dickens "Große Erwartungen", zudem als Re-read "Sturmhöhe" von Emily Brontë (für ein Englischseminar), sowie vier Geschichtsbücher über die europäische Revolution im 19. Jahrhundert.


    Kerouac ist zudem überzeugt, dass "Kunst das potentiell Größte ist, die neue Vision entspringt diesem künstlerischem Rohstoff der Menschheit" und empfiehlt Ginsberg daher die Lektüre von "Finnegans Wake", "Zauberberg" und "Ulysses".

  • Daher nehme ich mir Folgendes vor: zu jedem Jahr schreibe ich hier kurz auf, was die Beiden in dem Jahr erlebt haben, worüber sie stritten, und welche Bücher erwähnt wurden.

    Ein tolles Vorhaben, da lese ich gerne mit! :thumleft: Dieses Währenddessen-Recherchieren kenne ich, man kommt vom Hölzchen auf Stöckchen - und findet immer neue Anregungen. Wenn Du jetzt auch noch anfingest, auch noch die Bücher zu lesen, die Ginsberg und Kerouac gelesen haben, dann wäre Dein Lesejahr 2015 wohl schon voll! :wink: Nebenbei bemerkt ist "Ruhm tötet alles" wirklich ein schöner Titel.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


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    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Wenn Du jetzt auch noch anfingest, auch noch die Bücher zu lesen, die Ginsberg und Kerouac gelesen haben, dann wäre Dein Lesejahr 2015 wohl schon voll


    Wahrscheinlich hätte ich sogar länger zu lesen. Scheinbar sind die Beiden Vielleser, und dann noch so viele Bücher zeitgleich! Das können hier im BT ja so einige, aber ich schaffe es leider nicht... Dennoch: "Sturmhöhe" und Gogols "Tote Seelen" sind jetzt mal auf meiner Wunschliste vermerkt. Gerade zu Gogols Roman habe ich viel gegoogelt - Schade, dass er hier noch nicht rezensiert wurde, der Wikipedia-Eintrag zu dem Roman klingt jedenfalls wahnsinnig interessant.

  • Tolle Idee @Nungesser. Da möchte ich auch gerne mitlesen. Gestern fiel mir in den Tiefen meiner Regale beim Staubwischen dieser Erstlingsroman von
    Kerouac in die Hände. Es ist schon sehr lange her, dass ich diese Kindheits- und Jugenderinnerungen von Jack Kerouac gelesen habe. Die Autoren der
    Beat Generation begleiten mich schon sehr lange. Vor allem Ginsberg, Burroughs und Kerouac begleiten mich schon seit meinem Studium.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Klebespuren habe ich jetzt dennoch drauf


    OT:
    Einfach einen lauwarmen Föhn auf das Cover halten und mit einem weichen Tuch abrubbeln. Je wärmer der Föhn, desto besser; man muss sehen, was das Cover aushält.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ein tolles Vorhaben, da lese ich gerne mit! :thumleft:


    Ich werde Euch auch gerne täglich begleiten :D


    OT: falls der Fön nicht funktioniert, kannst Du es auch mit Speiseöl oder Mundspray probieren, beides löst recht gut Kleberspuren (oder auch Kaugummi) ab :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • 1945 -Biographisches
    Ginsberg beginnt eine Ausbildung beim U.S. Maritime Services in der Brooklyner Sheepshed Bay (von dem wir viel erfahren, insbesondere von seinem Umgang anderen Rekruten - er will jedenfalls vermeiden als Muttersöhnchen oder Intellektueller angesehen zu werden), während Kerouac von einem Job zum anderen tingelt, um Geld zu verdienen.
    Diese Jobwechsel nimmt Ginsberg zum Anlass, Kerouac für seine spontanen Entscheide und mangelnde Planung zu kritisieren. Bei ihren Briefwechsel gehen die Beiden nicht gerade zimperlich miteinander um:

    Zitat

    "Wenn Du mir Briefe schreibst, dann versuch doch mal, bei Deiner Kritik...nicht so unreif und moribund daherzukommen. Ein bisschen mehr Finesse bitte, oder, wenn möglich, einen Schuss Humor." - Kerouac an Ginsberg, 17. Aug 1945


    Und Ginsbergs Antwort an Kerouac vom 22. Aug 1945:

    Zitat

    "Was das unreife Gewichse angeht, geh zum Teufel Jean. Und wenn Du mit diesen "schwerfälligen Bemühungen in Sachen Lucienismus" mich meinst, dann leck mich am Arsch."


    Von solchen Briefwechsel abgesehen, schreibt Ginsberg sehr ausführlich und viel poetischer als Kerouac. Bei ihm kann der Abschiedsgruß eines Briefes schon mal so lauten:

    Zitat

    "Was vor uns liegt, ich weiß es nicht, ein Abschiedsgruß ist unser Erbe, der Liebelei ist, und bevor sie aufsteht, ist der Tod auch uns bestimmt. Ein Lebewohl an alle, die zugrunde gehen, an alle, die verlieren; ich nehme Abschied von den Fremden und den Reisenden, denen im Exil; lebt wohl ihr Büßer und Richter des Verfahrens; ein Lebewohl der Jugend, stürmisch und gedankenvoll; den sanften Kindern und des Zornes Söhnen, denen mit dem Aug voll Blumen, Kummer oder Krankheit, ein zartes Adieu." - Brief vom Ende Juli 1945


    1945 - Literarisches
    Die Beiden lesen weiterhin viel, gemäß Kerouac "wie ein Verrückter". Es fallen diverse Namen, deren Aufzählung hier nicht viel Sinn machen würde, aber drei Bücher möchte ich doch nennen:


    Ginsberg vergleicht seine Freundschaft mit Kerouac anhand Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig". Kerouac sei mehr wie Tadzio: ein Naturkind, romantischer Visionär, introspektiv und eklektizistisch, Ginsberg hingegen sei zwar isoliert, aber nicht romantisch und unpräzise genug, um sich wie von Aschenbach zu fühlen.


    Kerouac liest auf einer Zugfahrt "Die Falschmünzer" von André Gide, wenn auch eher als Geste, aber sein Gegenüber, ein Mann mit unfehlbar schnellem Urteil und mit "jiddische Kopfe Weitsicht" anerkennt den Roman als sehr gut und wertvoll. (Platos "Der Staat" kommt deutlich weniger gut an)


    Von einer "großen, lauten, amerikanischen Gesellschaft mit einer Menge Leutnants zur See und Mädchen der besseren Gesellschaft" nimmt Kerouac nur eine einzige Sache aus diesem "Mahlstrom der Albernheiten" von Wert mit: er stiehlt den Gastgebern Célines Roman "Reise ans Ende der Nacht". Leider wird auf dieses Buch nicht weiter eingegangen, außer das die englische Übersetzung bemerkenswert sei.


    OT: Vielen Dank an @Marie und @Squirrel für die wertvollen Tipps! - mit Speiseöl abrubbeln hat prima funktioniert !

  • Vielen Dank an Marie und Squirrel für die wertvollen Tipps! - mit Speiseöl abrubbeln hat prima funktioniert !


    Von mir auch schon einmal vielen Dank im voraus, denn ich habe das Buch gestern bestellt.

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    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • So, der Briefwechsel Kerouac/Ginsberg ist da und ich werde mich gleich damit zurückziehen und mal schauen was die beiden Herren zu sagen
    haben. So langsam komme ich wieder ins Thema und eben fiel mir ein, dass ich irgendwo noch ein Buch von Ginsberg habe. Gesucht und gefunden
    habe ich dann sein >Indische Tagebücher<, das er in der Zeit vom März 1962 bis Mai 1963 verfasste. Sehr interessante Aufzeichnungen, kleine
    Szizzen, Fotografien und natürlich die Notizen seiner Erlebnisse. Ziemlich wild, manchmal nicht so einfach nachzuvollziehen, aber den roten Faden
    verliert Ginsberg, trotz des Gebrauchs so einiger halluzinogener Stoffe, nicht.
    Auch eine Lektüreliste aus dieser Zeit ist vorhanden und da gibt es einige sehr interessante Bücher, die ich mir in nächster Zeit einmal genauer anschauen
    werde. Los geht`s also.............. :study:

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    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Von solchen Briefwechsel abgesehen, schreibt Ginsberg sehr ausführlich und viel poetischer als Kerouac.


    Das ist mir auch sofort aufgefallen. Bemerkenswert finde ich, dass Ginsberg in seinem Brief Ende Juli 1945 so offen und ehrlich auch über seine eigenen Schwächen
    schreibt. Nachdem er Kerouac mit dem Autor Thomas Wolfe vergleicht, den er einen kosmischen Vertriebenen nennt, schreibt er ganz direkt über seine Unfähigkeit
    solche romantischen Visionen zu erschaffen.


    Zitat

    Jean, ich habe ganz im Ernst schon vor langem damit aufgehört, meine Fähigkeiten als Schöpfer oder Initiator von Kunst in Frage zu stellen. ich bin mir da
    ganz sicher. Aber selbst wenn ich wollte, könnte ich darin nicht wie du den höchsten strahlenden Glanz oder erlösenden Ruhm, den versöhnenden Genius sehen. Wenn
    ich mir nicht selbst etwas vormache, dann ist Kunst für mich seit jeher ein dürftiger Ersatz für meine Sehnsucht gewesen. Diese rasenden Begierden langweilen mich,
    ich bin ihrer müde und deshalb auch meiner selbst, ich verachte meine enormen Fähigkeiten, mich in Selbstmitleid und Kummer zu ergehen, obwohl ich sie toleriere.


    Dieser Briefwechsel beginnt auf jeden Fall sehr interessant. Die beiden sind wirklich grundverschieden.

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    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Von September 1945 bis April 1948 sahen sich die Beiden nahezu täglich und schrieben sich daher auch selten.


    1948 - Biographisches
    Im Mai 1948 hat Kerouac seinen Roman "Town and the City" beendet und bei einem Verlag eingereicht.


    Ansonsten sind die Briefe im 2. Halbjahr 1948 sehr komplex, philosophisch und teils experimentell. Ich muss mich konzentrieren, um den Sinn zu verstehen, aber manches bleibt konfus. Dennoch macht es Spaß zu lesen, Sprache und Stil sind Wahnsinn, als Leser habe ich den Eindruck, dass die Beiden gar nicht so schnell schreiben können, wie sie ihre Gedanken formulieren möchten. Es geht um Kunst und Künstler, die Ungenauigkeit der Sprache... Tausend Impulse hintereinander, Ideen formuliert und wieder verworfen, Thesen umrissen und dann das Scheitern zugeben, dass man sich gar nicht gut genug ausdrücken kann, um dem Anderen seine Ansichten verständlich zu machen.


    1948 - Literarisches
    Ginsberg hat kosmische Visionen und Halluzinationen, darin rezitiert eine Stimme Gedichte von William Blake. Er beschreibt seine spirituelle Eingebung mit Zitaten aus Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes". Außerdem verweist er auf Gedichte von W.B. Yeates und vergleicht sich mit "Dr. Jekyll und Mr Hyde".
    Ehrlich gesagt, alles nicht so mein Geschmack; auf meine Wunschliste kommt lediglich das oben bereits erwähnte "The Town and the City".

  • Ansonsten sind die Briefe im 2. Halbjahr 1948 sehr komplex, philosophisch und teils experimentell. Ich muss mich konzentrieren, um den Sinn zu verstehen, aber manches bleibt konfus.


    Bei diesen ist mir aufgefallen, dass Kerouac seine Gedankengänge klarer und sachlicher formuliert als Ginsberg, dem es offensichtlich schwerfällt alles was ihm
    so im Kopf herunschwirrt klar zu formulieren. Das zeigt sich sehr deutlich in seiner Antwort auf Kerouacs Gedanken über Dualismus (Licht & Schatten). Dieses eher
    hilflose >Gott ist Liebe< >Alles ist Liebe< trägt kaum zur Klärung bei.
    Schön fand ich allerdings den Schluss seines Briefes vom 19. Okt. 1948.


    Zitat

    Mit zunehmender Vollständigkeit werde ich mehr verstehen. Sag nicht, dass es nie vollständig werden wird, weil ich nämlich sage, dass das der ganze Sinn
    und Zweck ist, auch der deine, vollständig sein zu können. Alles Grün. Lass alles andere fahren.


    Bezüglich Lektüre werden halt die Gedichte von Hart Crane und William Blake erwähnt. Schon witzig, wie Ginsberg schreibt, dass er beim Lesen von Hart Crane
    erwischt wird. :wink:


    @Nungesser Hattest du auch den Eindruck, dass Ginsberg auf Kerouacs Beschreibungen seiner Sauftouren mit Lucien ziemlich eifersüchtig reagiert?

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    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • @taliesin Ja, teilweise reagieren beide etwas eingeschnappt, habe ich den Eindruck. Im Fall von Kerouacs Sauftour mit Lucien (sein Brief vom 18. Sep 1948 ): das Antwortschreiben von Ginsberg ist ja einen Monat später. Und ja, es hat einen unterschwellig aggressiven Unterton, aber es wäre ja kindisch nach einem Monat noch immer "eifersüchtig" auf Jacks Freundschaft zu Lucien zu sein. Vielleicht ist ja zwischenzeitlich noch was anderes vorgefallen. Aber leider kann ich es auch nicht an einem bestimmten Punkt / Satz ausmachen. Und ja, die Beiden sind sehr unterschiedlich, zanken sich regelmäßig und loben sich später wieder gegenseitig - vielleicht wie ein altes, eingespieltes Ehepaar.

  • 1949 - Biographisches
    Im April landet Ginsberg im Gefängnis, weil er ein paar Freunden erlaubt hatte Hehlerware in seiner Wohnung zu lagern - und alles durch einen Autounfall aufflog, bei dem neben Diebesgut auch Ginsbergs Tagebücher auf der Straße landeten. Mit einem guten Anwalt muss er zwar keine Haftstrafe antreten, sich allerdings einer psychiatrischen Behandlung in einer Nervenklinik unterziehen. Zusätzlich wird er von seinem Anwalt gedrängt, die polizeilichen Ermittlungen zu unterstützen und gegen seine Freunde auszusagen. Eine wahrlich heikle Situation, und als Sofortmaßnahme werden Freunde zukünftig in den Briefen mit Pseudonymen benannt. Seine Beschreibungen aus der Irrenanstalt sind ziemlich unterhaltsam; dort lernt er auch Carl Solomon kennen, dem er später sein erfolgreichstes Werk "Howl" widmen wird.


    Kerouac zieht für eine kurze Zeit nach Denver, da sich seine Mutter dort aber einsam fühlt, ziehen sie wieder zurück nach New York. Zudem schafft er es, sein erstes Buch zu vermarkten und schreibt weiter an "On the Road", schreibt ganze Absätze und Seiten an Ginsberg, um seine Meinung einzuholen.


    Ansonsten senden sich Ginsberg und Kerouac Gedichte zu, die sie gerade verfassen und kommentieren die des anderen dem entsprechend:

    Zitat

    Ich muss wieder lernen, in meinen Versen ganz natürlich zu sprechen; herauszufinden, wie man Grossartiges oder Wundervolles natürlich sagt. Du machst das bereits. - Ginsberg an Kerouac, 15. Mai 1949


    Mir persönlich gefällt Ginsbergs Gedicht "The complaint of the Skeleton to Time" ziemlich gut. (Die Gedichte wurden übrigens nicht ins Deutsche übersetzt, sondern wurden aus Gründen der Reimschemata und Rhythmusexperimenten im englischsprachigen Original belassen).


    Auch sehr schön zu lesen, ist der gemeinsame Versuch einen bestimmten Rhythmus in ihre Strophen zu bekommen. Gedichte waren bislang nicht so meine Sache, aber jetzt, wo man als Leser die "Entstehung" solcher Zeilen "erlebt", werde ich mir doch einige genauer anschauen:

    Zitat

    In the East they live in huts,
    But they love where I am lolling.
    Cut my thoughts
    For coconuts,
    All my figs are falling.


    Da stimme ich Ginsberg zu, dass es fast so cool klingt wie "Pull my daisy, tip my cup", was Kerouac Jahre zuvor getextet hat. (Auch wenn ich den Sinn der Strophen noch nicht ganz kapiert habe. - Auf der Suche nach dem Sinn der Zeilen stieß ich sogar auf einen Kurzfilm von 1959 mit dem Titel "Pull my Daisy", in dem u.a. Kerouac und Ginsberg zum Thema Beat-Generation mitwirkten.)


    Ginsberg berichtet zudem von seinen Bemühungen, einen Verleger für seinen Gedichtband zu finden - er hatte es in der Vergangenheit unterlassen, einzelne Gedichte in Zeitungen zu veröffentlichen, was er nun sehr bedauert.

    1949 - Literarisches

    Ginsberg liest unter anderem "Rogue Male" von Geoffrey Household (erschien 1989 auf Deutsch unter dem Titel "Einzelgänger, männlich"), Thomas Hardys Gedicht "A Wanted Illness" und "Macbeth" von Shakespeare.
    Zudem liest er begeistert die "neuen Franzosen": neben Céline und Antonin Artaud, wird insbesondere Jean Genets Autobiographie "Wunder der Rose" empfohlen - das Buch landet auch bei mir direkt auf der Wunschliste.
    Kerouac liest unter anderem "Die Feenkönigin", ein Versepos des englischen Dichters Edmond Spenser.
    William S. Burroughs liest "Der Krebs" von Wilhelm Reich - Reich sei der einzige Mann der analytischen Branche, der auf Kurs sei, besser gesagt ein Sch****-Genie.
    Carl Solomon (Ginsbergs neue Bekanntschaft aus der Nervenheilanstalt) droht damit, die Wände des Irrenhauses mit Exkrementen zu beschmieren, sollte man ihm kein Einzelzimmer zuweisen, in dem er ungestört den Roman "Nachtgewächs" von Djuna Barnes zu Ende lesen kann.

  • Auch sehr schön zu lesen, ist der gemeinsame Versuch einen bestimmten Rhythmus in ihre Strophen zu bekommen. Gedichte waren bislang nicht so meine Sache, aber jetzt, wo man als Leser die "Entstehung" solcher Zeilen "erlebt", werde ich mir doch einige genauer anschauen:


    Ich fand das sehr spannend wie die beiden über die Entstehung und Ausarbeitung ihrer Gedichte diskutieren. Kritik wird angenommen und umgesetzt, beide bemühen
    sich nun auch an Form und Metrik zu arbeiten und nicht immer die spontane erste Version unbearbeitet zu lassen. (Obwohl diese Ergebnisse auch einen gewissen Charme
    haben). Beide erwähnen oft die Gedichte von Hart Crane und der war ein Meister der Form und Metrik. Übrigens ist sein >Complete Poems of Hart Crane< auf jeden Fall
    eine Anschaffung wert. Wunderschöne und brillant ausgearbeitete Gedichte. Hier eine Strophe aus >To Brooklyn Bridge<


    Zitat

    Then, with inviolate curve, forsake our eyes
    As apparitional as sails that cross
    Some page of figures to be filed away;
    - Till elevators drop us from our day...


    Mir persönlich gefällt Ginsbergs Gedicht "The complaint of the Skeleton to Time" ziemlich gut.


    Das hat einen einen sehr schönen Rythmus. Mir gefällt vor allem diese Strophe:


    Take my raiment, now grown cold,
    To sell to some poor poet old;
    Give the dirt that hoods this truth,
    If his age would wear my youth;
    Take them said the skeleton,
    But leave my bones alone.


    @Nungesser Wo hast du denn diesen Kurzfilm aufgetrieben? Ich kenne nur ein Video von einem Bob Dylan Song in dem Ginsberg auftaucht. Muss nochmal forschen
    welcher Song das ist. Liegt zeitlich natürlich viel später.


    Alles in allem bin ich bis jetzt sehr begeistert von diesem Briefwechsel. Mal abgesehn davon, dass das Leben der Beiden ein ziemlich wildes und spannend zu lesendes
    Auf- und Ab ist, inspirieren die Briefe zu immer neuen interessanten Literaturthemen.


    Weiter geht`s.............. :study:

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    William Shakespeare


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  • @taliesin Den Film habe ich leider noch nicht aufgetrieben, aber es gibt eine englischsprachige Wikipediaseite darüber. Vielleicht ist der Kurzfilm auch irgendwo auf youtube zu finden, da findet man zuweilen ziemliche Raritäten.


    Vielen Dank auch für den Hinweis zu Hart Crane. Ich muss gestehen, dass ich von ihm noch nie etwas zuvor gehört hatte und da mich Gedichte bislang weniger interessiert hatten, bin ich nicht weiter auf ihn eingegangen. Aber scheinbar sollte ich hier dringendst meine Bildungslücke schliessen!


    Jetzt bin ich aber erst mal deswegen happy: nach dreimonatiger Warterei lag heute Morgen endlich diese Ausgabe von Howl im Briefkasten. (Nach "On the Road" und "Naked Lunch" war das noch ein ganz grosser Lesewunsch. Ich denke, mit diesen drei Werken kennt man das Wesentliche der Beatliteratur, oder?)

  • Bei Vimeo gibts den Pull My Daisy, 26 Minuten, Regie: Robert Frank und Alfred Leslie.

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  • Jetzt bin ich aber erst mal deswegen happy: nach dreimonatiger Warterei lag heute Morgen endlich diese Ausgabe von Howl im Briefkasten. (Nach "On the Road" und "Naked Lunch" war das noch ein ganz grosser Lesewunsch. Ich denke, mit diesen drei Werken kennt man das Wesentliche der Beatliteratur, oder?)


    Da hattest du aber eine lange Wartezeit auf >Howl<. Viel Vergnügen damit.
    Mit den drei von dir genannten Werken hast du auf jeden Fall die Wichtigsten aufgezeigt. Empfehlen könnte ich noch Kerouacs - The Dharma Bums. In Deutschland
    unter dem ziemlich blöden Titel >Gammler, Zen und hohe Berge< :roll: erschienen. Einer von Kerouacs autobiografischen Romanen. Ginsberg spielt hier auch eine Rolle,
    wenn auch eine kleinere. Auf jeden Fall lesenswert.

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  • Empfehlen könnte ich noch Kerouacs - The Dharma Bums. In Deutschland
    unter dem ziemlich blöden Titel >Gammler, Zen und hohe Berge< :roll: erschienen.

    Von den schrecklichen deutschen Titeln ist das fast noch der beste. :D Obwohl: Wer will das entscheiden. Ich sag nur "Be-bop, Bars und weißes Pulver" und "Engel, Kif und neue Länder". Man kriegt zumindest mit, dass viel in der Natur gewandert wird. Auch wenn in meiner Erinnerung alle Kerouac-Romane sich stark überlagern und verwischen (vielleicht habe ich sie auch zu schnell hintereinander gelesen), stechen die "Dharma-Gammler" auf jeden Fall heraus. Es ist auch mein liebster Kerouac. Ich mochte es fast mehr als "Unterwegs". Sein "Traumtagebuch" fand ich übrigens auch ganz interessant. Müsste man vielleicht mal wieder reinlesen ...

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