Original : Französisch (Algerien 2013, Frankreich 2014)
INHALT :
Der Mann, der Nacht für Nacht in einer Bar Orans monologisiert, ist der Bruder jenes Arabers, der durch einen gewissen Meursault in einem berühmten Roman des XX.Jahrhunderts getötet worden ist. 70 Jahre nach den Ereignissen sind Wut und Frustration ungebrochen und der Greis gibt dem Getöteten einen Namen und eine Geschichte, ihm, dem quasi eine Identität verweigert worden war.
BEMERKUNGEN :
Natürlich handelt es sich bei dem Bezugspunkt um den berühmten Roman des französischen Nobelpreisträgers Albert Camus « Der Fremde » (siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Fremde ). In diesem seinen ersten Roman überrascht Kamel Daoud wohl so manchen Leser durch die Ausarbeitung einer anderen Sicht auf dieselben Ereignisse. Hat « Der Fremde » Meursault quasi ein Denkmal gesetzt und eine Philosophie der Gleichgültigkeit herausgearbeitet, so finden wir darin doch keinerlei namentlichen Hinweis auf das « Opfer ». 25 mal, so der aufgebrachte Bruder Haroun des Opfers, wird der « Araber » erwähnt, doch er erhält keine Identität, keinen Namen.
Ja, in der nun fiktiven Darstellung seiner und seines Bruders Geschichte geht es in fünfzehn Monologen (die gleichzeitig Abenden und Begegnungen in einer Bar mit einem Camusbegeisterten Gegenüber entsprechen) um die Darstellung greifbarer Menschen. Diese sind nicht nur Teil der Verherrlichung von Meursault, sondern erleben ihre eigene Leidensgeschichte, hatten ihre eigenen Träume und dann auch Niederlagen.
Der « Araber » des Romans von Camus (bzw ist ja quasi Meursault der Ich-Erzahler des « Fremden ») ist Moussa, "Moses" : wie jener war eventuell auch er – zumindestens in den Augen des jüngeren Bruders, Haroun, - berufen, sein Volk zu befreien, Ungerechtigkeit zu beheben. Hört sich großspurig an, aber steckt nicht in jedem potentiell ein « Retter » ? Das Kind, Haroun, braucht doch die Legende, eine Geschichte. Infolge des Todes seines älteren Bruders steht er vor einem schweren Erber, das im wahrsten Sinne des Wortes unerträglich wird. Für die leidende Mutter, für die dieser Tod allein zählt, wird Haroun Bruder- bzw Sohnersatz, der er nicht sein kann.
Ich werde nicht darstellen, wie sich die Konsequenzen dieses verdammten Tages am Strande Algiers noch weiter im Einzelnen auswirken, doch soviel ist klar : das ganze Leben ist davon betroffen. Interessant, dass neben der unsäglichen Trauer übrigens auch Hass gegen die Eigenen die Folge sein kann. Und dass er, Haroun, der Meursault so anklagt, ihm eigentlich immer ähnlicher wird in seiner Beziehung zur Mutter, zum Tod, zu den Frauen, zur Gleichgültigkeit, zu Gott...
Vielleicht liegt in dieser Absolutisierung der Folgen des Mordes auch eine Schwäche? Der nun trinkende, jammernde Greis scheint eigentlich nicht die rechten Widerstandskräfte entwickelt zu haben. Das "Schicksal" wird, ohne so genannt zu werden, größer als jedweder Freiraum?! Und er ein Spiegelbild Meursaults...
So ist dieser Roman, wie es in Frankreich hieß, eine « Würdigung in Form eines Kontrapunktes », der viele interessante Aspekte in sich birgt. Er erhielt manchen Preis, und stand bei der Goncourtvergabe (wichtigster Literaturpreis Frankreichs) des Jahres 2014 an ganz aussichtsreicher Stelle ! Wie Daoud es selber sagte, versteht er ihn nicht als Zurechtweisung des französischen Schriftstellers.
AUTOR :
Kamel Daoud wurde 1970 in Mostaganem als Sohn eines Gendarmen geboren. Als einziges Kind betrieb er höhere Studien, zunächst der Mathematik, dann der Literatur. Er ist französischsprachiger Schriftsteller und Journalist beim « Quotidien d’Oran », wo er seit zwölf Jahren eine Chronik betreibt. Für seine offenen Stellungnahmen ist er bekannt ; er war kurz im Gefängnis (2011). Er hat mehrere Schilderungen und kleine Stücke geschrieben, doch bei « Meursault, contre-enquête » handelt es sich um seinen ersten Roman. Seine dort Haroun in den Mund gelegten Äußerungen zum Islam bringen ihm im Dezember 2014 eine Fatwa ein : gemäß eines Salafisten sollte er hingerichtet werden, falls denn Algerien ein islamisches Land wäre.
Broché: 160 pages
Editeur : ACTES SUD (7 mai 2014)
Collection : Domaine français
Langue : Français
ISBN-10: 2330033729
ISBN-13: 978-2330033729