Karine Tuil - Die Gierigen / L'Invention de nos vies

  • Kurzmeinung

    mhameist
    Intensive Geschichte über die Lügen des Lebens & ihre Folgen, Aufstieg & Fall, Diskriminierung & Rassismus
  • Inhalt:
    Nina, Samuel und Samir – mit zwanzig Jahren sind die drei Freunde unzertrennlich, sie teilen dieselben Werte, erträumen sich eine Zukunft, in der sie ihre Ideale verwirklichen werden. Nina und Samuel sind ein Paar, doch als Nina eine leidenschaftliche Affäre mit Samir beginnt, sind Liebe, Freundschaft und Vertrauen zerstört. Samir verschwindet aus Frankreich und aus dem Leben der beiden Freunde – bis sie ihn zwanzig Jahre später durch Zufall im Fernsehen wiedersehen. Samir lebt als Staranwalt in New York, er trägt maßgeschneiderte Anzüge und das Lächeln der Erfolgreichen zur Schau, während Nina und Samuel ein tristes Dasein am Rand der Gesellschaft führen. Samuel brennt vor Eifersucht, zumal der Aufstieg des Rivalen auf seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte beruht. Und so initiiert er ein Treffen in Paris, um sich an Samir zu rächen – doch am Ende fordert das Schicksal jeden Einzelnen zur Rechenschaft.
    Ein großer Gesellschaftsroman über die Lügen des Lebens, über Schein und Sein, über Liebe und Verrat, über zerstörerische Ambitionen und das Scheitern daran. Ein aufwühlendes, „in seiner Intensität überwältigendes Buch“ (Les Inrockuptibles).
    (Quelle: Verlagsseite)


    Die Autorin:
    Karine Tuil, geboren 1972, studierte Jura in Paris und beschäftigt sich derzeit in ihrer Doktorarbeit mit gesetzlichen Bestimmungen zu Wahlkampfkampagnen in den Medien. Sie ist Autorin mehrerer gefeierter Romane und lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Paris.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Originaltitel: L’Invention de nos vies


    Mein Eindruck:
    Erzählt wird im Grunde eine Dreiecksgeschichte.
    Mit 20 Jahren sind Nina und Samuel ein Paar und eng befreundet mit Samir. Doch dann beginnt Nina mit Samir eine Affäre und Samuel droht Nina mit seinem Suizid. Samir verlässt Frankreich.
    Zwanzig Jahre später sehen Nina und Samuel Samir zufällig im Fernsehen. Samir, der sich nun Sam nennt, ist mittlerweile in New York zu einem erfolgreichen Anwalt geworden und mit Ruth, Tochter einer angesehenen jüdischen Familie, verheiratet. Samuel und Nina führen ein eher tristes Dasein, der berufliche Erfolg bleibt aus.
    Samuel, Adoptivsohn jüdischer Eltern, ist eifersüchtig, zumal er feststellen muss, dass Sam Teile seiner Lebensgeschichte "gestohlen" hat.
    Sam hat, nach mehreren gescheiterten Bewerbungen, seine arabische Herkunft verleugnet, um bei einem jüdischen Rechtsanwalt angestellt zu werden. Dieser Rechtsanwalt glaubt nun an Sams jüdische Herkunft und Sam belässt es dabei.
    Ein Treffen der Drei in Paris wird angeregt, welches ihr Leben verändern wird. Nina verlässt Samuel und folgt Sam als Geliebte nach New York. Samuel stürzt sich auf seine literarische Arbeit und erzielt erste Erfolge.
    Aber zufrieden ist keiner, stellen sich aber auch nicht ihrem Konflikt. Als dann noch Sams Halbbruder in New York auftaucht, droht das Lügengebäude Sams zu zerbrechen.
    Die Geschichte, bei der es um arabische und jüdische Identität geht, liest sich recht rasant; wirkt aber ein wenig zu konstruiert und glatt. Die etwas überraschende Wendung gegen Ende des Romanes scheint ein wenig weit hergeholt.
    Die Figuren scheinen mir etwas zu stereotyp zu sein.
    Sowohl Ruth als auch Nina sind beeindruckend schön. Von Nina, die mit 40 Jahren, Sam recht schnell nach New York folgt, um dort als seine Geliebte wie in einem goldenen Käfig zu leben, hätte man ein wenig mehr Lebenserfahrung erwarten können.
    Auch bei Sam wird m.E. übertrieben. Er legt eine steile Karriere hin, heiratet die Tochter eines sehr reichen Mannes und darüber hinaus ist er ein Womanizer und schaut jedem Rockzipfel hinterher. Und das muss auch mehrfach im Roman wiederholt werden.
    Der Einstieg in den Roman gelang mir etwas holprig; zum einen durch die Fußnoten, die den Lebenslauf einer gerade erwähnten Person, kurz beschreiben, aber auch durch die Aneinanderreihung von Variationen, getrennt durch Querstriche, als Beispiel:
    ""...in die freiwillig keiner mehr ging, aus Furcht vor Raubüberfällen/Vergewaltigungen/Angriffen, in die sich keiner mehr wagte, es sei denn, jemand bedrohte ihn mit Revolver/Messer/Cutter/Schlagstock/Schwefelsäure/Pumpgun/Tränengas/Karabiner/Nunchaku, und das war noch vor dem Flächenbrand im Osten gewesen,..." (Zitat S. 12/13)
    Diese Aneinanderreihung nervten mich ein wenig auf Dauer. Doch dann lässt sich die Geschichte doch noch recht spannend lesen.

  • Inhalt

    Karine Tuil erzählt die zerstörerische Dreierbeziehung der in der Gegenwart rund 40 Jahre alten Franzosen Nina, Samir und Samuel. Vor 20 Jahren trennte sich Nina von Samir, um eine Beziehung mit Samuel aufzunehmen. Samir, als Sohn einer alleinerziehenden tunesischen Einwanderin in kargen Verhältnissen aufgewachsen, schließt höchst erfolgreich ein Jura-Studium ab. Doch als er sich um eine Stelle bewerben will, wird er als unbekannter Akademiker ohne Beziehungen aufgrund seines nordafrikanischen Familiennamens oder seiner Anschrift in einer Hochhaussiedlung nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Als ihm ein jüdischer Rechtsanwalt praktisch in den Mund legt, Sam sei doch sicher die Abkürzung von Samuel, wirft Sam seine muslimische Herkunft spontan ab, mimt dem Anwalt gegenüber den wenig religiösen Juden und steigt unter dessen fördernden Hand zum erfolgreichen Anwalt auf. Eine New Yorker Niederlassung der Pariser Kanzlei führt Sam nach New York, wo er an seiner jüdischen Identität festhält und in eine der einflussreichsten jüdischen Familien der Stadt heiratet. Von diesem Punkt an scheint es für „Sam“ keinen Weg zurück zu geben. Er verleugnet gegenüber Frau und Kindern seine Mutter und seinen Halbbruder in Paris.


    Wie Sam sich nach der Erfahrung von Diskriminierung in Frankreich neu erfindet, mag man als Leser noch nachvollziehen können. Schwerer wird es, für Sams Sex-Sucht und sein Verhalten gegenüber Frauen eine plausible Erklärung zu finden. Obwohl er sich der Illusion hingibt, sich aus seiner beruflichen Position endlich an der Gesellschaft rächen zu können, die seine Mutter schlecht behandelt hat, tut er genau das Gegenteil. Er belügt Frau und Familie, benutzt Frauen für eilige Nummern und lässt sie bei nächster Gelegenheit fallen. Ermöglicht wird ihm sein pathologisches Sammelverhalten durch Frauen, die bereitwillig eine Opferrolle einnehmen; denn Sam kann nur so lange den Starken geben, wie er andere in die Rolle des Schwachen drängen kann. Die Schwäche vermeintlicher Opfer dient ihm innerhalb eines weltfremden Frauenbildes als Rechtfertigung seines amoralischen Handelns. 20 Jahre später ist Nina noch immer mit Samuel zusammen, der als Sozialarbeiter in einer Vorstadtsiedlung arbeitet und vom Dasein als Autor träumt. Eine Reportage über den erfolgreichen „Sam“ konfrontiert das Paar damit, dass Samir unter einer neuen Legende in New York lebt – indem er Samuels Geschichte als seine ausgibt. Die Handlung erhält einen unerwarteten wie dramatischen Twist, als Sams unauffällig nordeuropäisch aussehender jüngerer Halbbruder François in die Handlung tritt.


    Fazit

    Samir/Sam, der vaterlos aufgewachsener Sohn nordafrikanischer Einwanderer, dessen Selbsttäuschung durch passive, farblose Frauenfiguren gestützt wird, agiert als äußerst unsympathischer Protagonist. Nicht nur Frankreich hat massive Probleme mit vaterlos aufgewachsenen Kindern der Vorstädte und verqueren Frauenbildern in Parallelgesellschaften. Empfehlenswert ist Tuils Gesellschaftsroman für Leser, die sich für die Rolle von Religionen bei der Neuerfindung von Identitäten interessieren oder für die gläserne Decke beim Aufstieg aus Problemvierteln. Wer sich von der Sympathie-Erwartung lösen kann, wird das Ausbreiten des roten Teppichs für Sams Verhalten wahrnehmen können, an den Chamäleons wie er ihre Farbe anpassen.


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