• Inhalt (auf Grundlage von Buchrücken und Verlagsseite): „No Future Party“, „Spartacist Workers Group“ oder „The Church Of Valerie Solanas“ heißen die rechten und linken Rudel, die regelmäßig in Londons Straßen aufmarschieren und sich gegenseitig die Hucke vollhauen. Als bei einer Kundgebung von Londoner Neonazis ein faschistisches Ehrenmal in die Luft fliegt, wird prompt Swift Nick Carter, der ehemalige Anführer der anarchistischen „Class Justice“, der Tat verdächtigt. Doch Nick kann untertauchen und erledigt die Rechten mit links. Während Steve Drummond, der neue Anführer von Class Justice", wegen seiner sehr katholischen Freundin den Kontakt zur Bewegung verliert, erlebt Haudegen Nick seinen zweiten Frühling: Seine Nihilist Alliance, in der die schlagkräftigsten Londoner Lumpenproletarier vereint sind, sät fröhlich Furcht und Schrecken. Allerdings hat Nick nicht mit den drei Frauen der Nazi-Sekte „The White Seed Of Christ“ gerechnet, die es auf seinen „arischen Samen“ abgesehen haben ...


    Stewart Homes Roman Blow Job von 1996 ist ein mit Übertreibungen arbeitendes Stück Anarcho-Literatur und ähnlich extremer Camp wie die frühen Filme von John Waters mit Bürgerschreck und Drag Queen Divine. Abweichendes Verhalten allerorten. Alles ist grotesk übersteigert, eine respektlose Verwurstung von Trashversatzstücken aus schundiger Genreliteratur. Gewalt entlädt sich mit Krawumm in brutalen Comic-Exzessen:


    "Nick drehte sich schnell um und ließ seine Faust in den fleischigen Mund des Nazis krachen.

    Die beiden Feuerwehrleute halfen bei der Verabreichung der Prügel mit, die sich der Faschist redlich verdient hatte.“ (S. 55)


    Zwischenmenschliches endet immer pornografisch (und eigentlich stets homoerotisch) auf den Knien in schmuddeligen Männer-Klos. Die Sätze, die dafür gefunden werden, sind auffallend schematisch gewählt, ständig werden die gleichen Floskeln verwendet, so dass man fast geneigt wäre, den Übersetzer zu verfluchen, wenn es nicht Absicht wäre:


    "Tim dagegen fühlte, während er

    Jahrmillionen alte Pläne wurden durcheinander geworfen und wieder geordnet in den Körpern der beiden Männer, während in ihren Gehirnen narkotische Endorphine die Kontrolle übernahmen." (S. 65)


    Der Roman spielt inmitten der politisierten Subkultur Londons unter rivalisierenden Straßenbanden, umtriebigen Bisexuellen, rechtsradikalen Sektierern, prügelbegeisterten Anarchisten und Nihilisten, männermordenden Ultrafeministinnen, masochistischen Schrankschwulen, schwarzen Nationalisten und trotzkistischen Plauderzirkeln. Der Roman zeigt ihren Kampf um das Proletariat, um die richtige Politik für die unterdrückte Arbeiterklasse und für den Umsturz der bestehenden Ordnung. Dabei beweist Stewart Home profunde Kenntnisse linker und rechter Theorien, die er in einem schwindlig machenden Strudel zusammenrührt (ein informativer Anhang ist vorhanden). Es geht nicht um eine Gruppierung, es geht um den ganzen Zirkus!


    Da das Ziel von Politik der Gewinn von Macht ist, laufen einige Romanfiguren munter zu gegnerischen Gruppen über, die gerade an Einfluss gewinnen. Alte Hasen versuchen in langwierigenTreffen, ihre jeweiligen Organisation auf theoretische Grundlagen zu stellen (oder diskutieren erschöpfend über die richtige Redaktion des Infoblattes der jeweiligen Bewegung), während erlebnisorientierte Jungspunde den unpolitischen Straßenkampf suchen, Studenten aufmischen oder auch schon Mal den Vorstand einer reaktionär-konservativen Unternehmer-Lobby ausschalten. Aufgebrachte Arbeitslose richten ihre Wut gegen die Reichen und die Stützen des Kapitalismus. Eine schrecklich-schöne Bebilderung, wie halbgebildete, aber aufgebrachte Horden zu politischen Mörderbanden verkommen!


    Der Roman setzt die bittere Erkenntnis in die Tat um, dass der emotionale Gehalt in der Welt der Politik wichtiger ist als der politische Inhalt: Diejenige Gruppierung, die am deutlichsten auf theoretische Diskurse verzichtet, gewinnt die Massen. Oder anders gesagt:


    Zitat

    [Nimmt] man die ideologische Rückständigkeit des britischen Proletariats und die vollständige Passivität der Massen als gegeben hin, dann [sind] die großen Lügen des Rassismus besser geeignet für die Bedürfnisse eines machtbesessenen Politikers als die opportunistische Manipulation des dialektischen Materialismus.

    (S. 160)


    In diesem Sinne erweist sich auch der Plan, die britische Neonazi-Szene durch diskrete Postwurfsendungen eines anonymen Verfassers, auszuschalten, der sich den Anschein eines „britischen Patrioten“ gibt, als sehr erfolgreich: Sollte es sich beim Nationalsozialismus tatsächlich um eine jüdische Verschwörung handeln? Alle Neonazis dienen eigentlich den Weisen von Zion? Machtzuwachs durch Verwirrung der politischen Gegner! Die „National Socialist Party of New Labour“ verliert massenweise Mitglieder, der Bodycount erreicht ungeahnte Höhen und wichtige (und unwichtige) Romanfiguren beißen ins Gras. Am Ende überlebt der größte Langweiler und wird von den Medien gefeiert.


    Ein drastischer, ziemlich rasanter Spaß für Eingeweihte, politisch unkorrekt, doch bei aller Provokation wohl durchdacht! Alle Lebendigkeit, alle Freude an der Zerstörung und Verherrlichung des Verbrechens zielt nicht nur auf gedankenlose Zerstreuung. Die Verballhornung trivialer Erzählweisen dient der Ausgestaltung einer subversiven Sicht auf Gemeinschaft, die alternativen Lebensweisen überhaupt erst einen literarischen Raum gibt, in dem Dinge getan und erlebt werden können, die in staatstragenden Milieus und bürgerlicher Literatur nicht möglich sind. Was die Unterdrücker aufregt, kann so schlecht nicht sein!


    Und das wichtigste: Die Nazis kriegen ordentlich aufs Maul! :rambo:



    Der Autor (vor allem nach englischer und deutscher Wikipedia): Stewart Home (geboren 1962, eigentlicher Name wohl Kevin Llewellyn Callan) ist ein britischer Schriftsteller, Untergrundkünstler, angepunkter Musiker und Aktivist. Das Gründungsmitglied der Neoist Alliance ist einer der bekanntesten Neoisten, dieser Subkultur experimenteller Aktionskünstler, die mit Pseudonymen und Sammelidentitäten, Streichen und Irritationen, Paradoxen, Plagiaten und Fälschungen arbeiten und gerne auch Verwirrung stiften. Inzwischen Autor zahlreicher Romane und Essaybände, lebt in London und Schottland. Romane (Auswahl): Pure Mania (dt. Purer Wahnsinn) (1989, dt. 1999), Defiant Pose (dt. Stellungskrieg) (1991, dt. 1995), Red London (1994), Blow Job (dt. Blow Job) (1996, dt. 2001), Cunt (1999), 69 Things to Do with a Dead Princess (2002), Tainted Love (2005), Blood Rites of the Bourgeoisie (2010) und The 9 Lives of Ray The Cat Jones (2014).

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


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  • Und hier gibt es die englische Ausgabe des Romans in der 1997er-Ausgabe von "Serpent's Tail":

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  • Oh wow, bei Amazon bekommt das Buch ja mal durchwachsene Kritiken.
    Du meinst aber, es lohnt sich?

    Die Amazon-Kritiken sind hübsch, was? Ich finde es lohnt aber. Der Roman ist schnell zu lesen, direkt auf die Zwölf, ohne Gefangene! Und wer selber mal "irgendwie in politischen Subkulturen" rumgehangen hat, wird wahrscheinlich noch mehr auf seine Kosten kommen. Es ist sicher nicht der abschließende Roman über Jugendkulturen oder "Politik von unten", das will er auch gar nicht sein. Er spielt in einer eigenen, subversiven Liga. Vergnüglich anregende Gegenkultur. Tatsächlich: Wer John-Waters-Filme mag, ist hier richtig! :wink:

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  • Die Amazon-Kritiken sind hübsch, was?


    Ganz grundsätzlich kann ich einige der Kritikpunkte schon nachvollziehen.
    Ich finde Sex, Gewalt, Drogen... als Ausdruck der Subersivität mittlerweile auch langweilig und überholt. Vielleicht muss ich da aber auch die Entstehungszeit des Buches berücksichtigen, Mitte der 1990er war das vielleicht noch neuer.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño


  • Ich finde Sex, Gewalt, Drogen... als Ausdruck der Subersivität mittlerweile auch langweilig und überholt.

    Das Subversive ergibt sich hier nach meinem Eindruck hauptsächlich aus dem politischen Umsturzgebaren der diversen Untergrundgruppen. Ohne dieses Rückgrat wäre der Sex&Gewalt-Aspekt tatsächlich nur aufgesetzte Masche!

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