Eyvind Johnson - Zeit der Unruhe / (k.A.)

  • Das Buch „Zeit der Unruhe“ ist eine vom Verlag vorgenommene Zusammenstellung von zehn Erzählungen des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Eyvind Johnson.


    Enthalten sind: "Burell verliert die Kraft", "Vallberg", "Zeit der Unruhe", "Aufenthalt im Sumpfgebiet", "Gabriel zur Linken", "Männer mit langen Bärten", "Feuerspender", "Die gesicherte Welt", "Erinnerung an einen See" und "Im Unwirklichen".


    Es zeigt eine sehr eigenwillige, dabei ganz einfache und eindrückliche, ausschnitthafte Art des Erzählens, stets im hohen Norden Schwedens angesiedelt, innerhalb einer urwüchsigen Landschaft voller schweigsamer, bäuerlicher Menschen. Es sind melancholische Erzählungen, die menschlich nahegehen, mit unausgesprochenem Pathos. Oft wird man durch sanften, skurrilen Humor auf etwas Abstand gehalten.


    Inhalt (laut Taschenbuch-Infotext): Die Erzählungen dieses Bands schildern sehr verschiedenartige Gestalten des schwedischen Volkes in ihrem sozialen Milieu und ihrer heimatlichen Landschaft. Vor allem handeln sie vom hohen Norden des Landes, seinen abgelegenen Siedlungen, seinen unendlichen Wäldern und Sumpfgebieten, seiner fortschreitenden Industrialisierung und seinen letzten Originalen.

    Fast alle Figuren, die die Geschichten bevölkern, machen Erfahrungen des Scheiterns – auch wenn sie sich davon meist nicht unterkriegen lassen. Die erste Geschichte ist nicht nur eine gute Einführung in dieses Sujet, sondern auch in den skurrilen Humor und die sinnliche Schilderung der Natur, in der sich die Vorgänge abspielen:


    In "Burell verliert die Kraft" geht es um den ehemaligen Ringkämpfer und Cafébesitzer Kalle Burell, der jetzt als fahrender Kinobesitzer durch die bäuerliche Provinz reist, um auf Jahrmärkten Stummfilme zu zeigen, zu denen er den Erzähler mimt. Sein 17-jähriger Gehilfe Valle ist von jugendlich-aufmüpfigem Charakter. Wenn er mal als Kinoerzähler einspringen muss, sagt er solche Sachen wie: "Aber machen sie sich keine Sorgen um den Helden, das ist alles nicht echt!" Bei einer Dampfer-Überfahrt treffen sie zufällig auf Burells alte Geliebte Olli, die ihn einst für einen Stärkeren verließ. Bei der Prügelei um Olli hat sich Burell damals den Rücken verknackst, weswegen er nicht mehr schwer heben darf. Jetzt hat sich sein alter Widersacher bei einer Prügelei ebenfalls den Rücken verknackst und liegt im Krankenhaus, weswegen Olli ihn anscheinend verlassen hat, und nun ihrerseits ins Jahrmarktgewerbe eingestiegen ist. Sie hofft, Burells Gehilfen Valle abwerben zu können. Zwischen dem alten und dem jungen Mann kommt es zu Rivalitäten ...


    In weiteren Geschichten begegnet der Leser unter anderem einem einst erfolgreichen Varieté-Veranstalter und Querkopf, an dem die moderne Entwicklung der Unterhaltungsbranche vorüberzieht, einem Bremser eines Erzzuges, der seinen Posten unerlaubterweise verlässt, um einen großen Felsen von einem Abhang, an dem er auf seinen Fahrten schon oft vorbeigekommen ist, ins Tal zu stoßen, zwei Tagelöhnern, die Kaffee schnorren wollen, und für Wanderprediger gehalten werden, worüber sie sich sehr ärgern, und einem Hausierer und Haustierhändler, der der jungen Witwe eines Freundes unter die Arme greifen will, dann aber erkennen muss, dass sie einen dummen Jungen liebt.
    Skurril meint übrigens keinesfalls, dass man es hier nur mit einer Ansammlung von Witzfiguren, bloßen Typen und hinterwäldnerischen Klischees zu tun hat. Weit gefehlt! All diese außergewöhnlichen, sehr gut erzählten und rührenden Geschichten sind bevölkert von wirklichen Menschen mit zu Herzen gehenden Problemen.


    So richtig umgehauen haben mich die beiden letzten Erzählungen, vor allem aber "Erinnerungen an einen See", die ich überhaupt für eine der tollsten Kurzgeschichten halte, die ich kenne. Es handelt sich um eine Erinnerungsreise, die um Kindheit und Naturerfahrung kreist – eine zauberhafte, mich unmittelbar berührende Geschichte voller Freude und Melancholie über das Besondere, das Eigene, die Vorfreude und den Spaß an der Erfahrung der Welt. Zwei Zitate aus der Erzählung sind meiner Meinung nach bestens geeignet, den Tonfall aller in diesem Band versammelten Erzählungen zu beschreiben: ernst, voll tiefer Empfindung, melancholisch, in Bewegung, im Aufbruch. Die große Freude, auf der Welt zu sein und Dinge zu sehen, die in diesem Moment niemand anderer sieht – und überhaupt sehen kann. Vielleicht sind das an sich Kennzeichen für die Haltung des großen Erzählers Eyvind Johnson, der die nordschwedische Provinz und ihre Bewohner in die Weltliteratur hineingeschrieben hat:

    Zitat

    Ich gehe, in einer Melancholie, die nicht wie ein tragisches Drama um meine Füße schlottert, sondern sich oben im Kopf in einer ernsten und tiefen Freude gesammelt hat: der melancholischen Freude der Ankunft.

    (S. 122)


    Im zweiten Zitat kommt alles zusammen: Gefühl, Überschwang, Scheitern - Gegensätze, fast Paradoxa; das Leben:

    Zitat

    Das Schwelgen der Schüchternheit, die Überlegenheit der Einsamkeit, die Kraft und Schärfe des unausgesprochenen Gedankens, die vielleicht verschwindet, wenn ihm eine Stimme zuteil wird.

    (S. 123)


    Ein wirklich besonderer Autor, nach dessen weiteren, nur mehr antiquarisch erhältlichen Werken, ich mich in Zukunft definitiv umschauen werden.


    Der Autor (nach Wikipedia und Buchinfo): Eyvind Johnson (1900-1976), Arbeitersohn aus Schwedens nördlichster Provinz. 1904 starb sein Vater und aufgrund finanzieller Schwierigkeiten musste der kleine Eyvind zu seiner Tante und ihrem Mann ziehen. Bereits mit 13 arbeitete er in einem Steinbruch, einer Ziegelei und einer Sägemühle. In den zwanziger Jahren lebte er in Berlin und Paris, wo er sich meist als Tellerwäscher seinen Lebensunterhalt verdiente. Seine Erfahrungen weckten sein soziales Bewusstsein. Er engagierte sich in jungsozialistischen und gewerkschaftlichen Gruppierungen.
    Seinen literarischen Durchbruch schaffte er mit der Tetralogie Romanen om Olof (1934-37). Alle vier Romane beinhalten autobiografische Elemente. Während des Zweiten Weltkrieges gründete er mit Willy Brandt die norwegische Untergrundzeitung Et Handslåg. In der Nachkriegszeit verurteilte er scharf den Kommunismus.
    Eyvind Johnson verfasste diverse Gegenwartsromane in historischem Gewand, zum Beispiel über die Geschichte der besessenen Nonnen von Loudun (über die auch Aldous Huxley seinen herausragenden Roman „Die Teufel von Loudun“ schrieb) oder über die Heimkehr des Odysseus.
    1974 erhielt er zusammen mit Harry Martinson den Literaturnobelpreis bekommen. für seine „narrative Kunst, die, weit über Länder und Zeitalter blickend, der Freiheit dient“.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Da es sich um keine originale Zusammenstellung von Erzählungen handelt, gibt es keine Originalausgabe dieses Buches. Angehängt habe ich stattdessen diese schwedische Ausgabe eines Bandes vom Verlag Litteraturfrämjandet von 1983 mit Kurzgeschichten aus dem Jahr 1934, in dem zumindest fünf von zehn der Erzählungen aus "Zeit der Unruhe" enthalten sind.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


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