Ulf Miehe - Lilli Berlin

  • Inhalt (laut Amazon): Berlin, Anfang der 1980er-Jahre: Rick Jankowski muss untertauchen. Mit einem Streifschuss am Arm steht er in der Wohnung seines alten Freundes Benjamin und vertraut sich ihm an. Der erzählt von Ricks langer Liebe zu Lilli und von lebensgefährlichen Geschäften, in die Rick durch seinen zwielichtigen Chef WKL, dem Immobilienhai Werner Karl Lausen, verwickelt wird. Als dieser nur knapp einem Mordanschlag entkommt, glaubt dessen rechte Hand Dr. Schupp, alle Trümpfe in der Hand zu halten. Und schließlich ist da noch Lilli, die unversehens vor einer Entscheidung steht, die nur sie allein treffen kann ... Innerhalb weniger Januartage entfaltet sich ein abenteuerliches Geschehen von Liebe und Sehnsucht, Verfolgung und Tod ein Szenario zwischen Ost und West, dessen Akteure so handeln, als ziehe jemand an unsichtbaren Fäden. Ulf Miehes fesselnd erzählter und spannungsgeladener Kriminalroman bildet zugleich ein realistisches und phantastisches Stück vergangener deutsch-deutscher Wirklichkeit ab.


    Ein junger Mann namens Benjamin wird über einige Ecken in die Story verwickelt. Doch die eigentliche Hauptfigur ist Rick, sein Jugendfreund, den er seit 15 Jahren nicht mehr gesehen hat, und der plötzlich bei ihm auftaucht, sein Tagebuch zurücklässt und verschwindet, bevor ihn die Polizei oder irgendwelche Spitzel schnappen. Den größten Teil des Romans über rekapituliert Benjamin anhand Ricks Tagebuch die Ereignisse, wegen derer Rick wegen Mordes an seinem dubiosen Chef (gegebenenfalls aus terroristischen Motiven) gesucht wird. Zwielichtige Figuren aus Ostberlin erweisen sich als gewiefte Auftragskiller, beziehungsweise als schneller als die Westberliner Kripo. Die titelgebende Figur Lilli ist eine gemeinsame Jugendfreundin von Benjamin und Rick, als alle drei noch in der DDR im Brandenburgischen lebten. Zunächst taucht sie nur in Erinnerungen auf. Ob sie einst zwischen den beiden Jungmännern stand, ist ungewiss, aber nicht unwahrscheinlich. Was mit ihr noch wird, ist zunächst unklar.


    Ulf Miehe braucht nicht viele Worte. Er schreibt lapidar, präzise, aber nicht resigniert! Doch Hard-boiled ist das nicht, dazu ist es viel zu poetisch. Lilli Berlin ist ein Kriminalroman aus dem Jahr 1981, der Zeit des Berliner Häuserkampfes, der straßenweisen Hausbesetzung und dem langsamen Auftauchen der dritten RAF-Generation. Das Buch ist sehr schmal, meine Fischer-Taschenbuchausgabe von 1983 mit der alten Berliner U-Bahn auf dem Umschlag hat nur 150 Seiten.


    Sein lakonischer, knapper Erzählstil erinnert mich sehr an die französischen Gangsterepen von Jean-Pierre Melville, in denen schweigsame, angezählte, aber noch nicht zu Boden gegangene Männer (gerne: Alain Delon, Jean-Paul Belmondo oder Lino Ventura) ein letztes Mal dem Schicksal die Stirn bieten, aber am Ende dann doch von Verrat oder Missgunst zu Fall gebracht werden. Neo-Noir voller Liebe, Enttäuschung, Loyalität, Verbrechen und Verrat. Eine ähnliche Atmosphäre durchzieht auch diesen Roman.


    Eine Stelle, die den unprätentiösen Ton der Geschichte gut verdeutlicht, ereignet sich in einem Waschsalon in Hamburg, an dem Abend, bevor Rick dort seine Zelte abbricht, um in Berlin seine Arbeit als Fahrer und Leibwächter des Immobilienhais WKL anzutreten. Eine schüchterne Frau fasst Mut und spricht Rick an, um sich mit ihm zu verabreden:

    Zitat

    (Sie:) "Ich schätze, ich bin ein bißchen zuviel allein gewesen, auf die Dauer macht sich das eben doch bemerkbar. Außerdem - was ist eigentlich dabei, wenn wir zum Beispiel mal zusammen essen gehen und uns dabei nett unterhalten, erwachsen genug dazu sollten wir doch eigentlich sein." Bei den letzten Worten war sie rot geworden und wich seinem Blick aus. Rick Jankowski packte seine Wäsche zusammen. Eigentlich mochte er sie. "Sie haben ganz recht, das hätten wir durchaus machen können". Sie blickte ihn fragend an. "Ich gehe morgen weg von hier, und ich komme auch nicht wieder."


    Und schon landet Rick in Berlin-Tegel. Der Westberliner Lokal- und Zeitkolorit-Faktor ist ziemlich hoch, die namentlich erwähnten Schauplätze sind unter anderem Schöneberg mit dem Rotlichtviertel an der Potsdamer Straße, Südstern und Hasenheide, Kreuzberg um die Skalitzer Straße, die U-Bahn ("Linie 1"), Wilmersdorf mit dem legendären Tanzschuppen „Dschungel“ in Kudamm-Nähe, sowie der Grenzübergang Friedrichstraße, Unter den Linden, Alexanderplatz, der Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain und der Strausberger Platz in Ostberlin. Es wird dann und wann sinnvoll Dialekt gesprochen und Berliner Currywurst gegessen. Und beim erzählerischen Vorbeigehen bleibt Zeit für manchen Blick auf den Alltag, etwa wenn die Hauptfigur Rick einen Rentner beobachtet, der an einem Vorgarten stehenbleibt, mit seinem Stock auf den niedrigen Zaun zeigt und sich ärgert, dass der Hausbesitzer einen niedrigen, „russischen" Zaun errichtet hat.


    Mit dem Voranschreiten der Handlung – Rick gewöhnt sich schnell an das schwierige Arbeitsverhältnis mit dem zwielichtigen Immobilienhai und an das Leben im komplett videoüberwachten Haus des exzentrischen Unternehmers, lernt die Schattenseiten dessen halblegalen Geschäftsgebarens und seine schnippische Sekretärin Carmen Lehmann näher kennen – eröffnet sich ein weiterer Themenschwerpunkt, den ich, da er in den verbreiteten Inhaltszusammenfassungen auch nicht erwähnt wird, erst hinter der Spoilerschranke verrate:

    Diese Wendung bringt jedenfalls einigen spannungsreichen und melodramatischen Pfeffer in die Geschichte, die, so scheint es, nur böse enden kann.


    Das Ende des Romans kommt dann sehr schnell, auch hier werden nicht allzu viele Worte gemacht. Manchen mag das Ende zu dünn daherkommen, zu wenig trickreich geplottet, zu wenig moderne Thriller-Bauweise. Der lakonische Stil, die noire, fatalistische Weltsicht dominiert klar über den Wunsch, clevere, bedeutungsschwangere Krimi-Twists vor dem Leser auszurollen. Lilli Berlin ist im Grunde eine nostalgische Geschichte über einsame Menschen, die trotzig weiter nach ihrem Glück suchen, auch wenn ihnen die beschwerliche Lebenswirklichkeit, die Gesellschaft oder „die Umstände“ immer wieder Steine in den Weg. Die aller Grundtraurigkeit entgegen glücklich sein wollen, selbst wenn sie sich erst darüber klar werden müssen, was denn ihr Glück wäre. Ulf Miehes Tonfall trifft (mal wieder) genau meinen Geschmack, weswegen ich nichts anderes als die Höchstwertung vergeben kann!


    Autor (anhand Wikipedia): Der Schriftsteller, Übersetzer und Filmregisseur Ulf Miehe (1940 in Wusterhausen in Brandenburg geboren) arbeitete lange Zeit als Verlagslektor (u.a. entdeckte er den Autor Guntram Vesper) verstarb mit 49 Jahren in München 1989 an einer Gehirnblutung. Aus seiner Feder stammen drei Kriminalromane, die Lesern, die Jörg Fauser oder Franz Dobler mögen, gefallen sollten.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)