Eine Autobiographie
Direkt auf der ersten Seite erfährt der Leser, warum das Buch >Die gerettete Zunge< heißt:
>>Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: "Zeig die Zunge!" Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: "Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab." Ich wage es nicht, die Zunge zurückzuziehen, er kommt immer näher, gleich wird er sie mit der Klinge berühren. Im letzten Augenblick zieht er das Messer zurück, sagt: "Heute nicht, morgen." Er klappt das Messer wieder zu und steckt es in seine Tasche.<<
In diesem Stil erzählt uns Canetti sein Leben, von den frühen Jahren in Bulgarien, wohin es viele Spaniolen, die vor den Christen geflohen sind, verschlagen hat, ein multikulturelles Bulgarien mit vielen bunten Eindrücken und Sprachen. Bis schließlich sein Vater wiederum vor seinem Vater flüchtet und die Familie nach England auswandert.Dort stirbt dann der heißgeliebte Vater von Elias, sehr jung und überraschend, und hinterlässt eine große Leere. Die gemeinsamen Stunden der Muse, in denen sie Bücher miteinander besprechen, reißen eine unausgefüllte Lücke in sein Leben. Erst später in Wien ersetzt seine Mutter diesen Part, denn erst in Wien beginnt auch sie ihre Trauer abzulegen und wieder ein wenig zu leben. Aber wie sie ihrem Sohn dann die deutsche Sprache beibringt, zeigt dem Leser eine absolute Gefühlskälte. Er beginnt eine verhängnisvolle und ungesunde Mutter-Sohn-Beziehung …
>>Was Weite ist, wusste ich damals noch nicht, aber ich empfand sie: daß man Sovieles und Gegensätzliches in sich fassen kann, daß man alles scheinbar Unvereinbare zugleich seine Gültigkeit hat, daß man es nennen und bedenken soll, die wahre Glorie der menschlichen Natur, das war das Eigentliche, was ich von ihr lernte.<<
Eine Biographie, die sich wie ein Roman liest, ist mir persönlich die liebste. Seltsamerweise behalte ich so den Inhalt, das Leben der Person, viel besser im Gedächtnis, als eine sehr sachliche und mit vielen Zitaten geschmückte Biographie. Ein kleiner Kritikpunkt möchte ich anfügen, dass mir im letzten Drittel zu viel Personal umrissen wurde. Sämtliche Lehrer und Mitschülerinnen aus dem Mädchen-Pensionat, in dem Elias die letzte zwei Jahre verbrachte, wurden vorgestellt. Ansonsten ist es eine sehr gefühlvolle und satte Lebensgeschichte, die sich über 3 Bände erstreckt. "Die Fackel im Ohr" und "Das Augenspiel" werden noch folgen.