Lutz Seiler – Kruso

  • Kurzmeinung

    mhameist
    Es braucht Zeit, um sich in das Buch und seine Sprache hineinzufinden
  • Der Inhalt:
    Als das Unglück geschieht, flieht Edgar Bendler aus seinem Leben. Er wird Abwäscher auf Hiddensee, jener legendenumwogten Insel, die, wie es heisst, schon ausserhalb der Zeit und »jenseits der Nachrichten« liegt. Im Abwasch des Klausners, einer Kneipe hoch über dem Meer, lernt Ed Alexander Krusowitsch kennen – Kruso. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter auf Hiddensee und die Gesetze ihrer Nächte, in denen Ed seine sexuelle Initiation erlebt. Geheimer Motor dieser Gemeinschaft ist Krusos Utopie, die verspricht, jeden Schiffbrüchigen des Landes (und des Lebens) in drei Nächten zu den Wurzeln der Freiheit zu führen. Doch der Herbst 1989 erschüttert die Insel Hiddensee. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod – und ein Versprechen. (Quelle: Suhrkamp Verlag)

    Der Autor:

    Lutz Seiler, geboren 1963 in Gera/Thüringen, lebt in Wilhelmshorst/Brandenburg und Stockholm. Er hat bisher mit Lyrik, Essays und Erzählungen auf sich aufmerksam gemacht. Mit KRUSO legt er seinen ersten Roman vor, der bereits vor Veröffentlichung mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde. Ausserdem steht der Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2014 (Preisverleihung am 6. Oktober).

    Der Roman:

    Seinem Buch voran stellt Lutz Seidel ein Zitat aus Robinson Crusoe von Daniel Defoe: „Um jedoch auf meinen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich.“ Damit ist der Ton der Robinsonade vorgegeben, ein Inselabenteuer und gleichermassen die Geschichte einer aussergewöhnlichen Männerfreundschaft zwischen dem Germanistik-Studenten Ed und dem Russen Kruso, der in der DDR aufwuchs und dort doch ein Fremder blieb.


    Hiddensee im Sommer 1989, nicht die Urlauber sondern die „Schwarzschläfer“, die „Schiffbrüchigen“, die Saisonkräften (im Inseljargon Esskaas) bevölkern den Roman. Als Tellerwäscher gehört Ed bald zu diesen Esskaas im Betriebsferienheim Zum Klausner. Sie sind Aussteiger, die nicht von ungefähr die Insel gewählt haben. Sie sind bereits in der inneren Emigration bevor sie auch noch den nächsten, den definitiven Schritt wagen. „Sie alle gehören nicht mehr wirklich zum Land, sie haben das Land unter den Füssen verloren.“ (S. 125)


    Kruso ist Robinson, Ed sein Freitag, die DDR das gekentertes Boot, der Klausner die Arche Noah, der Text strotzt von Metaphern und Mythen. Die Sirene ist Krusos Schwester Sonja, vor Jahren ins Wasser gegangen. Flucht? Unfall? Suizid? Trotzallem wartet Kruso immer noch auf ein Lebenszeichen. Dabei sucht er nach einem inneren Frieden, einer Freiheit „ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken“.


    Der Roman spricht von eben dem, Flucht, Freiheit, Freundschaft, Sexualität, Literatur, Musik, Film. Die literarischen Anspielungen sind zahlreich, im Kreis der Esskahs werden Autoren vorgetragen und diskutiert; wie schon genannt Daniel Defoe, Georg Trakl - Ed schreibt eine Arbeit über den Dichter, Rimbaud, Antonin Artaud, aber auch Anspielungen auf Dostojewski, Marguerite Duras, Don DeLillo. Daraus erwächst Krusos Utopie einer inneren Freiheit ungeachtet der äusseren Grenzen.


    „Das ist Hiddensee, Ed, verstehst Du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt zu sich selbst, das heisst zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es Ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Mass der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt.“ (S. 175)


    Lutz Seiler schreibt in einer lyrischen Sprache, realistisch und doch philosophisch, surreal bis grotesk. Er verlangt einiges von seinen Lesern ab, doch die Bilder, die er dabei schafft werden noch lange in mir präsent bleiben.


    Im Epilog schlägt Lutz Seiler den Bogen von 1989 in die Jetztzeit, indem er Ed in Dänemark nach den verschwundenen Ostseeflüchtlingen suchen lässt. Hier ändert sich die Sprache zu einem dichten Geflecht an Informationen, wie ich sie so noch nie gelesen habe. Welche Sprachgewalt in diesem Roman.


    KRUSO von Lutz Seiler ist ein sehr eigener Roman, was Sprache und Inhalt angeht. Es gab Moment, wo mich das Buch verstörte. Es hat viele dunkle Stellen, die man möglichst in keinem depressiven Moment lesen sollte. Akribisch genau wird Eds Arbeit beim Abwasch im Klausner beschrieben. Eine Anthologie an realistischer Schmutzliteratur ist die Beschreibung des Lurchs, dem im Abflussgitter verfangenen „meterlangen Batzen Schleim“, dessen bestialischer Gestank den Raum erfüllt.


    Was mir bleibt, ist ein kluges Buch gelesen zu haben, viele Bilder prägten sich mir ein. Jetzt interessiert mich, was die Menschen zu diesem Roman sagen, diejenigen welche vor 1989 mehrmals im Jahr nach Hiddensee fuhren und in tiefer Freundschaft der Insel und seinen Bewohnern verbunden sind. Was halten wohl sie von dieser Parallelgesellschaft aus Esskaa, Schiffbrüchigen und Schwarzschläfern?

  • Es ist der erste Roman des Dichters Lutz Seiler, der bisher Gedichte, Erzählungen und Aufsätze veröffentlichte. Man spürt es an der Sprache des ganzen Buches, an seinem Spiel mit Wörtern, dem fast überbordenden Einsatz von Metaphern, dass da ein ursprünglicher Lyriker am Werk ist. An einem voluminösen Werk, das bei der Kritik auf zum Teil enthusiastische Zustimmung stieß, mir persönlich aber beim Lesen einiges an Geduld abverlangt hat.

    Die Geschichte spielt im Jahr 1989 auf der Ostseeinsel Hiddensee. Dorthin ist Edgar Bendler aus seinem Leben geflüchtet, nachdem seine Partnerin von einer Straßenbahn überfahren und getötet wurde.

    Er findet Aufnahme und Arbeit in dem Gasthaus „Zum Klausner“, wo er als Abwäscher arbeitet. Diese Arbeit tut ihm gut:
    „Ed schuftete und schwitzte sich den Rest seiner Gedanken und Gefühle aus dem Leib. Er arbeitete sich durch bis auf den stabilen Grund einer wirklichen Erschöpfung, und für diese Stunden fühlte er sich rein, erlöst von sich selbst und seinem Unglück.“

    Dieses Gasthaus ist ein Ort, an dem sich ungewöhnliche Persönlichkeiten begegnen, Menschen, die von ihrem Drang nach Freiheit beseelt sind, Menschen, die in ihrem Leben auf die eine oder andere Weise Schiffbruch erlitten haben. Ed Bendler trifft dort auf Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, und wird in einer ganz besonderen Männerfreundschaft so etwas wie sein Freitag. Denn der Name Kruso ist durchaus absichtlich gewählt, soll doch das Bild von Robinson auf seiner einsamen Insel im Leser geweckt werden.

    Genau wie Kruso, der als Kind am Ufer der Ostsee stand und seiner über die Ostsee in Richtung der dänischen Insel Moen flüchtenden Schwester nachschaute, haben alle dort auf Hiddensee Gestrandeten eine solche alte Geschichte, die sich mit sich herumschleppen. Kruso hat mit anderen für diese Menschen, so wie Edgar einer ist, ein ganzes System von Schlafplätzen organisiert und er träumt von der Freiheit. Doch als sie im Radio von den Vorgängen in Ungarn hören, redet er in dramatischen Worten davon, der Westen müsse von denen, die die DDR verlassen, etwas über Freiheit lernen. Im Westen sei sie bestimmt nicht, diese Freiheit, die gemeint ist.

    „Kruso“ ist nicht nur eine bewegende Utopie über die Freiheit, eine die nach dem Mauerfall eben nicht erlebbar wurde, sondern auch ein Roman voller Anspielungen auf Lyrik und Poesie.


    Lutz Seiler, Kruso, Suhrkamp 20914, ISBN 978-3-518-42447-6

  • Es ist inzwischen schon für mich eine Art Tradition geworden, das Gewinnerbuch des Deutschen Buchpreises zu lesen. In „Kruso“ nimmt Lutz Seiler den Leser mit auf die Ostseeinsel Hiddensee, die ich aus eigenem Erleben gut kenne. Im Jahr 1989 zieht es Edgar Bendler dort hin, nicht um, wie viele andere, dort einen Urlaub zu verleben, sondern um vor seinem bisherigen Leben zu fliehen, das ein Unglück förmlich aus der Bahn warf. Unterschlupf findet Ed zunächst als Abwäscher im Klausner, einer Inselgaststätte und zugleich einer Art Arche Noah für alle Gestrandeten. Dort lernt er auch Kruso, Alexander Krusowitsch, kennen, in dem er einen Freund findet und der ihn in die Gepflogenheiten, Riten und Regeln der Esskas (Saisonkräfte) einweiht. Aber Kruso bringt ihm auch seinen Traum von der Freiheit nahe. Aber dann kommt der geschichtsträchtige Herbst 1989...


    Eigentlich habe ich „Kruso“ recht gern gelesen, auch wenn der Roman nicht immer leicht und eingängig zu lesen war. Um wirklich alles zu 100 Prozent verstehen und nachvollziehen zu können, muss man wohl zu jenem eingeweihten Klientel gehören, das dort zu Zeiten des real existierenden DDR-Sozialismus den gesellschaftlichen Ausstieg versuchte. Mich hat die Geschichte schon beeindruckt. Die Namensähnlichkeit zum Klassiker „Robinson Crusoe“ ist deutlich mehr als purer Zufall. Handelt es sich bei den Esskas doch auch fast ausschließlich um Gestrandete, die den Traum von der Freiheit und der Flucht von der Insel träumen. Sprachlich ist „Kruso“ sehr ausgereift. Die Highlights waren für mich die Beschreibungen der Stimmungen, der teils angespannten Atmosphäre und die der Landschaft. Denn es war unverwechselbar das Flair von Hiddensee, das ich im Roman vorfand. Aber auch in Dialogen weiß der Autor durchaus zu überzeugen. Eine Vielzahl von Themen und Personen werden im Laufe der Handlung eingefügt. Allerdings treten einige nur kurz in Erscheinung und werden nicht weiter verfolgt. In solchen Momente wünschte ich mir, Lutz Seiler hätte auf ein paar von ihnen verzichtet. So bliebt mancher Charakter nur schemenhaft in Erinnerung. Aber auch das könnte natürlich auch vom Autor bewusst so gestaltet worden sein.


    Alles in allem habe ich „Kruso“ gern gelesen, auch wenn es stellenweise ein bisschen an Arbeit erinnerte, an diesem Buch zu bleiben und durchgehend Lesefreude zu empfinden. Ein kleines Quäntchen Wortwitz und Humor hätten dem „Kruso“ keineswegs geschadet. So fehlt dem Roman ein wenig an Charme, um ihn zu einem wirklich großen Roman werden zu lassen. Den Liebhabern deutscher Gegenwartsliteratur empfehle ich diesen Roman aber sehr gern.

  • Das sind nun hier vorgehend einige ganz tolle Beiträge gewesen – vielen Dank dafür ! So von mir keine vollkommen neue Rezi, sondern nur noch einige zusätzliche persönliche Eindrücke und Beobachtungen:


    Auch ich hatte zeitweise Schwierigkeiten beim Lesen des Buches : es entzieht sich den « normalen » Kategorien. Dabei ist es etwas widersprüchlich : einerseits relativ kurze Kapitel, die nicht durch sprachliche Absonderlichkeiten glänzen. Andererseits aber doch eben (besonders auf der Insel) eine Atmosphäre, die sich der rein realistischen Beschreibung entzieht. Tauchen wir da nicht ab, auch sprachlich, in die schon erwähnte Sonderposition dieser Esskaas, jener « Flüchtling » und Aussteiger auf der Insel ? Eine Parallelgesellschaft fast, inmitten der zuende gehenden DDR-Gesellschaft.


    Dabei kann man das dabei so ganz Besondere an vielen Dingen festhalten ; einiges wurde schon gesagt. Das Zusammenstehen der Klausnerinsassen wird nicht mit den damals so gängigen Begriffen des « Kollektivs » etc beschrieben, sondern Krombach (und alle « Besatzungsmitglieder ») sprechen in Bildern von einer Arche, einer Schiffsbesatzung… Ein, glaube ich, noch nicht hier erwähnter kulturell-literarischer Bezug ist sicherlich auch die Bibel, ob es sich nun direkt um den Begriff der Arche handelt, oder noch symbolischer um die Besatzungszahl der Zwölf und die nahezu sakrale Tafel (siehe auch Zeichnung am Ende des Buches). Bei einer Anfangsbeschreibung wird sogar das Abendmahlsbild von Da Vinci erwähnt !


    Ein gewisser Verfremdungseffekt beim Lesen wird wohl auch dadurch bewirkt, dass die Personen irgendwie geheimnisvoll und nicht ganz durchleuchtet vorgestellt werden, oder aber nur nach und nach. Manches bleibt lange ungesagt. Oder spiegelt auch in der Beschreibung das Tabu wider, dass das Thema eventuell zu jenen Zeiten darstellte ? Manches scheint halb im Traum, auf einer irreellen Ebene stattzufinden.


    Kruso, Edgar, oder noch allgemeiner das Treiben im und am Klausner könnte man an sich im Mittelpunkt wähnen. Doch bei genauem Betrachten – für mich dann total hervorgehoben durch den literarisch ganz anderen, sehr wichtigen, Epilog – wird deutlich, dass in diesem Roman gerade auch die Abwesenden, Verschwundenen, Toten (Geflüchteten!) im Mittelpunkt stehen. Jene, die ohne wißbares Schicksal und Geschichte einfach « weg » waren, und sind. In Eds Leben seine alte Freundin, dann natürlich Krusos Schwester Sonja…, aber auch Speiche, René etc


    Horus fragte nach dem Realitätsbezug des Beschriebenen, wenn ich richtig verstand. Nun, von meinem eigenen Inselaufenthalt als Kind kann ich hier wirklich nichts Konstruktives beitragen, aber ich denke an drei Elemente :
    - der Epilog aus Eds Sicht gibt dem ganzen Buch eine große Objektivität, eine Einbindung in die Realität
    - der Dank des Autors verweist ausdrücklich auf seine eigene « Klausnerzeit », und seine Gespräche mit Leuten, die damals dort gelebt haben (mit ihm)
    - ich kenne ein dem Autor gleichaltrigen Mann, mit dem ich mich über das Buch austauschte. In genau jenen Zeiten ging er auf Hiddensee aus und ein. Er erzählte mir, dass er beim Lesen des Buches sogar einige Leute « wiedererkannte ». Für ihn stand die Nähe zur Realität außer Zweifel.


    Das Lesen ist kein Zuckerschlecken, doch ich bereue es nicht. Insbesondere den Epilog fand ich umwerfend. Und von daher aus betrachtet ergaben sich dann mE auch neue Lesarten auf den Roman.