Autoreninfo (kopiert von amazon.de, erweitert gemäß Buchumschlag): Der Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor James Rufus Agee wurde 1905 in Knoxville/Tennessee geboren. Er studierte an der Exeter Academy und in Harvard, gab die Zeitschrift "Advocate" heraus und wurde später Mitarbeiter von "Fortune", "Time" und Nation". Für "Fortune" sollte er gemeinsam mit dem Fotografen Walker Evans einen Bericht über das Elend der Baumwollpflücker nach der Depression liefern. Daraus geworden ist ein Riesenwerk, das keine Zeitschrift zu veröffentlichen imstande war und das erst, fast unbeachtet, 1941 als selbstständiges Buch herausgebracht wurde (Preisen will ich die großen Männer/Let Us Now Praise Famous Men). Außerdem war er einer der einflussreichsten Filmkritiker seiner Zeit und schrieb u.a. die Drehbücher zu African Queen und dem anbetungswürdigen Film noir Die Nacht des Jägers. Am 16. Mai 1955 starb er überraschend im Alter von 45 Jahren an einem Herzinfarkt. Zurück ließ er das Manuskript eines Romans, an das er nicht mehr letzte Hand legen konnte, das jedoch als abgeschlossen gelten kann: Ein Todesfall in der Familie.
Kurzbeschreibung (kopiert von amazon.de, erweitert gemäß Buchumschlag): Der Roman spielt in Knoxville, einem kleinen Städtchen in Tennessee. Dort gibt es Straßenbahnen, einen Bahnhof, Schulen, Gärten, Fabriken, Kneipen. Nichts ist anders als in jeder anderen kleinen Stadt da unten, weder die Menschen, noch ihre Sorgen. Jay Follet geht mit seinem kleinen Sohn Rufus ins Kino, zwischen ihnen herrscht große Sympathie. Später, wenn der Abend kommt, liegen die Einwohner der Stadt auf Decken in ihren Gärten, die Straßenbeleuchtung geht an, Grillen zirpen, die Kinder spielen, die Väter sprengen den Rasen, die Mütter waschen ab und bereiten das Frühstück vor. Man spricht mit den Nachbarn, schickt einen Blick zu den Sternen und geht zu Bett. Am nächsten Morgen will Rufus Follet seinem Vater Jay endlich seine neue Kappe vorführen. Doch während die Stadt schläft, kommt zur Familie Follet, was man das Schicksal nennt - und die ganze Welt ist auf einen Schlag anders geworden. Jay Follet, der in der Nacht zu einem überstürzten Besuch beim kranken Vater aufgebrochen war, ist auf dem Rückweg bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hinterlässt eine junge Frau und zwei kleine Kinder. Der wie ein Tryptichon komponierte Roman - der erste Teil erzählt vom Abend vor dem Unfall, der zweite beschreibt die Nacht, in der das Unglück geschieht, der dritte die Tage bis zum Begräbnis - fasst die Gefühle und Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen der Beteiligten so genau und treffend, dass die alltägliche Katastrophe und die Versuche zu ihrer Bewältigung etwas Universales und Unvergängliches bekommen, ganz wie dieser grandiose und immer wieder bewegende Roman.
James Agees eigener Vater ist übrigens bei einem Autounfall gestorben als der kleine James sechs Jahre alt war.
Die Rezension bezieht sich auf die deutsche Übersetzung des Romans durch Gerda von Uslar, die 1962 zunächst unter dem Titel Ein Schmetterling flog auf und später als Ein Todesfall in der Familie herausgegeben wurde (zum Beispiel bei Rowohlt). Diese Übersetzung wurde für die 2009er-Neuausgabe im C.H. Beck Verlag überarbeitet von Ingo Herzke.
Der autobiografische Roman ist eine sehr persönliche Geschichte - oder: er erzählt sie sehr persönlich. Das heißt, es gibt kaum Drumherum, kaum Aktivitäten und Ausstattung um die auftretenden Personen herum. Jede Figur bekommt Gelegenheit, ihre Sicht auf die Geschehnisse zu durchdenken, zu äußern und demgemäß zu handeln.
Im Grunde passiert nicht viel in dem Roman: Menschen sind in häuslichen Szenerien versammelt. Es ist eine ganz einfache Anordnung: Eine Familie und der unerwartete Todesfall eines jungen Familienvaters. Alle Teile der Familie müssen zunächst diesen Tod "verstehen". Die gläubigen Familienmitglieder bekommen dabei Hilfe und Verwirrung durch ihren Glauben, die Zweifelnden durch den Zweifel, die Ungläubigen durch den Unglauben. Tatsächlich werden große Gräben zwischen gottgläubigen und nicht gläubigen Familienmitgliedern aufgemacht, was sehr interessante Gespräche eröffnet!
Das Schöne und Besondere an der Art der Erzählung - und das habe ich in dieser Klarheit noch niemals so dargeboten und selten überhaupt literarisch versucht gesehen (außer in Ken Keseys Meisterwerk Manchmal ein großes Verlangen/Sometimes a Great Notion) - ist, dass versucht wird, jede Figur, die in einer Szene auftaucht, auch „aktiv“ an der Szene teilhaben zu lassen. Und zwar durch das überaus geschickte Einflechten ihrer nur leise gedachten Einschätzungen und Ansichten über das in der Runde Geäußerte. Was würde man sagen, wenn man könnte. Was denken die anderen über einen oder die Situation?
Ein früh in dem Roman auftauchendes Beispiel für diesen Ansatz ist der Auftritt von Jay Follets Bruder Ralphs, der Jay telefonisch über den Gesundheitszustand ihres gemeinsamen Vaters informiert und Jays baldiges Erscheinen am Krankenbett begrüßen würde. Zeit seines Lebens wurde Ralph nicht ganz für voll genommen, er blieb immer im Schatten seines Bruders und wurde nicht als männlicher Anführer akzeptiert. Wenn Not am Mann ist, wendet man sich an andere Männer als an ihn. Und schon wieder, während sich einige Verwandte und Bekannte im Haus des sterbenskranken Vaters versammeln, der noch immer unter den Lebenden weilt, glaubt Ralph zu bemerken, wie ein anderer ihm schon jetzt die Rolle des "Mannes im Haus" streitig zu machen droht. Ist er paranoid und bildet sich nur ein, die anderen Anwesenden ignorierten ihn? Oder ist er einfach ein zu guter Beobachter? Er versteht nicht, was da vorgeht. Die interpersonellen Vorgänge sind ihm ein soziales Rätsel! Andererseits ist die Frage, wie verlässlich und vertrauenswürdig Ralph überhaupt ist, wenn er da nachts seinen Bruder wach klingelt, immerhin ist er ein schwacher, weinerlicher Trinker!
Diese Gedankenstimmen und inneren Erzählerstimmen werden nicht für maue Witzchen und bloße Konterkarikatur bemüht, sondern bilden die Vielgestalt der Möglichkeiten im Denken und die Schwierigkeit ab, zu einem richtigen Handeln zu kommen - und sich anderen gegenüber überhaupt richtig mitteilen zu können. Grob gesagt: Die Schwierigkeit, anderen nahe zu treten bzw. anderen nahe zu sein - auch in schwierigen Situationen. Sich dann richtig zu verhalten. Oder sogar: Sachverhalte, Konflikte und andere Menschen überhaupt verstehen und begreifen zu können!
Ein Beispiel für diese Erzählweise:
ZitatAlles anzeigenMan kann seinen Kuchen nicht essen und gleichzeitig behalten, dachte sein Vater.
Als ob ich einem Kind eine Ohrfeige gegeben hätte, dachte Andrew. Er hatte sich derber ausgedrückt, als er beabsichtigt hatte.
Aber Andrew, mein Lieber, wollte Mary sagen; doch dann hielt sie sich zurück. Über so etwas läßt sich doch nicht diskutieren, dachte sie; und ausgerechnet jetzt sollten wir uns nicht darum zanken!
Jeder spürte, daß die anderen etwas Ähnliches dachten, und für eine Weile sprach keiner mehr ein Wort.
(…)
„Wir wollen jetzt nicht mehr darüber sprechen“, sagte Mary. „Heute abend“, setzte sie dann hinzu, es war ein Versuch, ihre Bitte weniger endgültig erscheinen zu lassen.
Sie alle empfanden das Wort als Vorwurf, und er traf sie viel schwerer, als Mary beabsichtigt hatte. Sie fühlten auch das, und um ihr jede Verlegenheit zu ersparen, sagten sie rasch in freundlichem Ton und so, als seien sie gar nicht verletzt: „Nein. das wollen wir nicht.“
Dann war es ihnen peinlich, daß sie alle gleichzeitig gesprochen hatten. Hilflos und bekümmert saßen sie da und wußten nur, daß dieses Schweigen, so sehr es auch auf ihnen und Mary lastete, immer noch weniger mißverständlich war als jeder Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen. Mary wünschte, sie könnte es ihnen leichter machen; sie fühlte, daß dieses anhaltende Schweigen ihre Selbstvorwürfe nur noch verstärkte. Aber auch ihr war bewußt, daß eine Wiederaufnahme des Gesprächs noch schlimmer sein würde als das Schweigen.
Inmitten der Stille saß Catherine, lächelte höflich und hielt ihr Hörrohr ans Ohr, für den Fall, daß jemand etwas sagen wollte.
(…)
Nach einer Weile fiel ihr ein, daß es aussehen könnte, als wolle sie jemanden zum Sprechen auffordern, wenn sie ihr Hörrohr hochhielt, und so ließ sie es in ihren Schoß sinken. Aber damit niemand meinen sollte, daß in dieser Geste ein Vorwurf enthalten sei, und um den anderen jede Regung des Mitleids zu ersparen, behielt sie ihr höfliches Lächeln bei und fühlte doch, wie töricht, wie unendlich töricht es war, hier zu sitzen und zu lächeln.
(S. 221ff.)
James Agees Roman besteht aus drei Teilen, die jeweils an etwa ein bis zwei Schauplätzen mit überschaubarem Personal spielen. Die Sequenzen finden zeitlich kurz "vor dem Ereignis" (Jays tödlicher Autounfall), kurz "nach dem Ereignis" und erneut einige Zeit später rund um die Trauerfeier statt. Eigentlich ist man bei keinem wirklichen Tathergang dabei, immer nur im ungewissen Drumherum. Menschen in Habacht, in Warteposition, beim Beobachten. Jenseits dieser Vorher-Nachher-Chronologie gibt es keine Steigerung, Konfrontation, Auflösung oder Katharsis, keine Plot Points oder was es in Dramaturgie oder Erzähltheorie sonst noch so geben mag. Die Szenen beginnen und enden „einfach so“. Sie laufen nicht auf eine Bestätigung oder Neuformierung, keine Harmonisierung der Familie zu. Es gibt keine Zuversicht nach dem Schicksalsschlag. Kein einander die Hand reichen am Grab des Verstorbenen – den Blick der Zukunft zugewandt. Wunden werden aufgerissen, aber nicht geschlossen, Fragen werden aufgeworfen, aber nicht beantwortet, der Blick wird auf Probleme gelenkt, aber ob diese Probleme durch die Figuren gelöst werden, interessiert nicht. Der Blick ist analytisch, die Schlüsse muss der Leser selber ziehen, die Störungen verarbeiten und die Anregungen für das eigene Leben selber annehmen. Ein Anstoß.
Jedem Teil vorangestellt sind außerdem drei zeitlich vorgelagerte Ereignisse, die mit Rufus, dem Sohn von Jays Familie, verbunden sind. Der Bezug zur „eigentlichen Geschichte“ ist teilweise anscheinend kaum gegeben. Wie passt das zusammen?
Es gibt ja unterschiedliche Arten und Wege, über die Bedeutung transportiert und Geschichten erzählt und verstanden werden können. Manche Erzählungen basieren eher auf Stereotypen und bedienen sich im Genrewissen. Andere Geschichten sind eher konzeptgeleitet und folgen Handlungsmustern, bedienen sich bei dramaturgischen Akt-Strukturen und bilden bestimmte Konflikte ab. Wahrgenommen werden sie kognitiv und direkt. Und dann gibt es Texte fern jeden Genres, die bewusst auf klassische Narration, gelernte Romanhaftigkeit oder bekannte Konfliktmuster verzichten. Zu erkennen, worum es in solchen Erzählungen geht, ist manchmal etwas schwieriger, hat man es doch oft mit vielen Mini-Handlungen zu tun, die nicht recht zu einem großen Ganzen mit Exposition, Höhepunkt und Auflösung werden wollen. Wahrgenommen wird die Bedeutung eher unterbewusst. Als Leser muss man etwas tiefer ins Gewebe schauen, um den Kitt, Gemeinsamkeiten der versprengten Szenen und durchlaufende Motivketten oder Topoi aufzuspüren.
Was alle einzelnen Bausteine des Romans Ein Todesfall in der Familie verbindet und die einzelnen Szenen und Mini-Handlungen motiviert, ist Unverständnis. Ständig passiert es, dass Dinge, Vorgänge und vor allem Verhaltensweisen anderer Menschen nicht verstanden werden. Aus diesem wiederholten Auftreten entsteht eine durchgehende Motivkette - einige Beispiele: Der Vater der Witwe versteht die Religion und den Glauben an einen Gott nicht, die Mutter der Witwe (und hier wird es sehr deutlich) ist schwerhörig und versucht, Hinweise auf die sie umgebenden Gespräche und Entwicklungen aus den Gesichtern der Mitmenschen zu lesen, die Witwe versucht zu verstehen, warum ihr Mann gestorben ist, ihrer kleinen Tochter sind die meisten Vorgänge in der Welt der Erwachsenen nicht verständlich, der Sohn des Toten versteht nicht, warum sein Onkel die religiösen Verwandten einerseits „als Menschen“ liebt, sie andererseits wegen ihres Gottglaubens verachtet. Außerdem versteht er nicht, wieso er von anderen Kindern gehänselt wird. (Dieses Kapitel ist übrigens die allgemeingültigste, möglichst alle Seiten des Problems umfassende Annäherung an das Phänomen des Mobbings, die mir bekannt ist. Ein Meisterstück für sich.)
Und die Figuren versuchen auch, dieses Unverständnis zu durchbrechen, indem sie ihr eigenes Verhalten bedenken und versuchen, sich in andere hineinzuversetzen. Eben dafür sind die in den Roman eingeflochtenen Gedankenstimmen und inneren Erzählerstimmen so wichtig: Mit ihnen umkreist der Leser die Szenerie und die Figuren - und kann sich, während er sich an eigene Erfahrungen mit Familie, mit der Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft und mit den Tücken der Kommunikation erinnert, ein eigenes Bild über das menschliche Miteinander machen.
Der Roman hat mich tief erschüttert (durchgeschüttelt, tief bewegt, gerührt) und fasziniert wegen der Schlichtheit seiner Mittel, bei dem Versuch, sich dem Menschen als sozialem Wesen zu nähern - und den tiefgreifenden Problemen, die mit sozialem Handeln, Identitätsbildung, Aufwachsen, Vertrauen und Empathie verbunden sind. Der Roman wirkt nicht, als wolle ein Schriftsteller seine grandiosen Erkenntnisse vermitteln, sondern als wolle er sich Fragen, die auch für immer noch unbeantwortet sind, nähern. Immer auf der Suche nach Erkenntnis und Wahrhaftigkeit. Ein Schatz! Ein neues Lieblingsbuch, das ich nicht genug anpreisen kann!