Elias Canetti - Die Blendung

  • Ich lese gerade „Die Blendung“ von Elias Canetti; diesen Roman hat Buchkrümel hier bereits rezensiert.


    Ich besitze eine Uralt-Ausgabe aus dem Nachlass meines Grossvaters, die ich hier leider gar nicht eintragen kann. (Für mein virtuelles Bücherregal habe ich daher die neueste Ausgabe herangezogen, damit ich wenigstens ein schönes Cover im BT habe.) Da diese vererbte Ausgabe mittlerweile keinen Schutzumschlag mehr hat, und ich somit ein einfarbiges, gebundenes Buch ohne Klappentext oder Covermotiv in den Händen halte, gehe ich beinahe ahnungs- und vorbehaltlos an die Geschichte heran. Wobei: die Rezi hier im BT hat mich schon neugierig gemacht; zumal handelt es sich um einen erfolgreichen Roman eines Literatur-Nobelpreisträgers ( 1981 ) – aber wenig ermutigende Kommentare bei Amazon warnen eher mit „Durchhaltevermögen“ und „wahrlich seltene Mühsal“.


    Ich vertraue eher den Gleichgesinnten hier im Büchertreff und lege los: Im Prinzip habe ich gerade erst angefangen; die ersten 3 Kapitel, bzw die ersten 50 Seiten sind durch. Es gibt Bücher – insbesondere bei russischen Autoren – da muss ich mir Notizen machen, weil ich recht schnell mit den Namen durcheinander komme. Die Gefahr besteht hier sicher nicht; bislang gibt es nur 2 Protagonisten (sowie ein Kind und ein Passant). Und: das Buch lässt sich leichter lesen als gedacht! Durch einen Dialog in direkter Rede zwischen Kien, einem bedeutenden Sinologen, und einem Nachbarsjungen, der sich für Bücher interessiert, ist man von Beginn an mitten in der Geschichte. Anhand von Rückblicken und Träumen lernt man die Hauptpersonen nach und nach näher kennen. Das gelingt Canetti ziemlich gut: Während seines Morgenspaziergangs begleitet man Kien gedankenversunken und lernt so seine Denkweise kennen. Zum Einen scheint er recht sympathisch mit seiner Liebe zur Wissenschaft und seiner Privatbibliothek, zum Anderen nimmt sein eigenbrötlerisches Verhalten groteske und unsympathische Züge an. Es gibt sehr unterhaltsame Situationen: So wird Kien von einem Passanten auf der Strasse nach dem Weg gefragt, fühlt sich aber nicht angesprochen, ignoriert den Fragenden, schaut sich aber auch nicht um, wer gemeint sein könnte. Die Situation eskaliert, weil sich der Eine missachtet fühlt und der Andere sich nicht „gemein“ machen möchte. Überhaupt lebt Kien sehr isoliert und meidet jeglichen Kontakt mit dem „Volk“, ja sogar den Kontakt zu anderen Wissenschaftlern – nicht etwa aus Angst, sondern weil der Austausch mit anderen Menschen Zeitverschwendung ist und er sich mit Niemandem auf seinem Niveau austauschen kann. So ist er ganz seinen Büchern verfallen.


    Die zweite wichtige Person in dem Buch ist seine Haushälterin Therese Krumbholz. Seit acht Jahren ist sie mittlerweile bei Kien angestellt. Mir scheint, als reduziert sich Ihre Meinungsäusserung auf „Ich bitt‘ Sie“ und „Ich bin so frei!“. Wir erfahren mehr über das Bewerbungsgespräch, den gemeinsamen Tagesablauf und ihre ebenfalls eher unsympathischen Motive. Die Beiden sind sich nach all der Zeit noch immer fremd, aber ein Erlebnis ist einschneidend: aufgrund diverser Umstände darf sie in einem von Kiens Büchern lesen! Sie behandelt das Buch unerwarteterweise voller Ehrfurcht – ja sogar liebevoller als Kien selbst! Jahrelang war Kien blind: seit Jahren arbeitet die perfekte Frau in seinem Haushalt und er hatte es nie bemerkt. In einem Zwiegespräch mit Konfuzius wird ihm die Lösung klar: er muss sie heiraten. Er wird niemals Jemanden finden, der seine Bücher besser behandelt! Mit einem halbwegs leidenschaftlichen „Ich bin so frei!“ wird der spontane Hochzeitsantrag angenommen.


    Ich hoffe mal, ich habe hier nicht zu viel verraten, aber nach erst 50 Seiten muss man wohl noch keinen Spoiler setzen. Der Einstieg ist auf jeden Fall interessant und es gibt diverse komische Szenen. Allerdings sind mir beide Hauptpersonen nicht sonderlich sympathisch und es fällt nicht leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Mal schauen, wie es weitergeht, 90% des Buches liegen ja noch vor mir.

  • Auch die nächsten Seiten lesen sich äusserst flüssig, eine komische Szene reiht sich an die andere. Die Hochzeit verläuft wie erwartet sehr sachlich: zwei nebenberuflich tätige Trauzeugen, die in Erwartung einer Feier oder Kusses enttäuscht werden, eine anschliessende Tramfahrt nach Hause, bei der die Beiden jeder für sich überlegt, wie das Leben als Mann und Frau wohl aussehen wird, und natürlich der Höhepunkt: wie um Gottes willen muss die Ehe denn nun „vollzogen“ werden? Die unterschiedlichen Vorstellungen und Gedanken, die sich die Beiden machen ohne wirklich mit dem anderen zu sprechen, die Andeutungen und Missverständnisse die entstehen, weil jeder für sich grübelt aber den anderen falsch interpretiert – es ist einfach faszinierend zu lesen. Es kommt wie es kommen muss: die traute Zweisamkeit stellt sich nicht ein. Unerfüllte Hoffnungen und panische Angst vor Veränderungen lassen von Anfang an kein harmonisches Miteinander zu. Es wird ein Ehevertrag aufgesetzt, um die Räumlichkeiten aufzuteilen: Die Bibliothek bleibt für immer und alle Zeit Kiens Besitz, drei weitere Räume darf Therese in Anspruch nehmen – vorausgesetzt Kien wird weder bei der Arbeit noch beim gemeinsamen Essen gestört. Das Eheleben verläuft somit in Schweigen, man beobachtet sich gegenseitig, deutet den Tagesablauf und Reaktionen des anderen, ohne sich wirklich in den jeweils anderen hineinversetzen zu können. Die Absurdität lässt sich noch steigern: Therese schafft es Kien zu beeinflussen - neue Möbel müssen her! Doch es bleibt nicht beim vereinbarten Bett, sondern Waschtisch und Nachtkasten kommen hinzu. Äusserlich wird Ruhe bewahrt, den Siegpunkt möchte Kien seiner Frau nicht gönnen, aber „Die bösen Drei“ stören von nun an seine Konzentration. Gemäss dem Motto „Esse percipi – Sein ist Wahrgenommenwerden, was ich nicht wahrnehme, existiert nicht“ wandelt er von nun an mit geschlossenen Augen durch seine Räume, sofern er seinen Arbeitstisch überhaupt verlassen muss. So muss er weder Bett, Waschtisch noch Nachtkasten sehen, kann aber die Vollständigkeit seiner Bibliothek kontrollieren.
    Im Übrigen zeigen die Beiden auch sonst kein Mitleid. Es kommt zu Missverständnissen und falschen Erwartungen; es wird allerdings peinlich genau aufgepasst, dass man den Ehevertrag nicht bricht. Interessant für den Leser ist, dass man immer beide Seiten kennenlernt. Man „versteht“ die Gedanken und Handlungen von Kien, erfährt aber auch die Überlegungen, Erwartungen und Motivation von Therese.


    Zitat

    „Was, er soll anklopfen, bevor er zu seinen Büchern darf? Unverschämtheit! Lächerlich! Grotesk! Sie hat den Verstand verloren. Er wird ihr lieber eine Ohrfeige herunterhauen. Vielleicht kommt sie zur Besinnung. Er malte sich die Spuren seiner Finger auf ihrer feisten, gemästeten, glänzenden Wange aus. Ungerecht wäre es, die eine Backe zu bevorzugen. Man müsste mit beiden Händen zugleich schlagen. Trifft man schlecht, so liegen die roten Linien der einen Seite höher als die der anderen. Das wäre hässlich. Die Beschäftigung mit chinesischer Kunst hatte einen leidenschaftlichen Sinn für Symmetrie in ihm gezüchtet.“


    Zur Ohrfeige kommt es nicht, Therese entschwindet in die Küche, wo sie in Ruhe grübeln kann. Über Männer und Frauen, das Eheleben, Geld und das Älterwerden. Probleme werden nicht diskutiert; sie schafft es einen weiteren ordentlichen Scheck für neue Möbel zu erhalten. Der Verkäufer im Möbelladen macht starken Eindruck auf sie. Mit Hilfe seines Vorgesetzten kommt es zu einem erhofften Date.


    Ich bin noch immer positiv überrascht von dem Roman. Obwohl er Mitte der 1930er-Jahre geschrieben wurde, liest er sich ziemlich modern. Die Nebenfiguren (Trauzeuge, Nachbarsjunge, Mitfahrende im Bus, Verkäufer im Möbelladen, dessen Chef, etc.) sind nicht einfach nur Handlanger oder Statisten – man erfährt auch einen Teil aus deren Leben und Gedanken. Wie wirken Kien und Therese auf sie? Welche Probleme haben sie selbst? Das hilft zu verstehen, weshalb sie so reagieren (bspw. weshalb der Chef seinen Verkäufer drängt mit Therese Mittagessen zu gehen, weshalb der Schuster als Trauzeuge agiert, der ehemalige Polizist und Hauswart, etc)


    Es scheint es ein komplexes Buch zu sein, bei dem man viel hineininterpretieren kann, aber erfreulicherweise lässt es sich dennoch sehr leicht lesen und erlaubt unterschiedliche Erklärungsansätze.

  • Der erste Teil des Buches ist durch: Der Roman gliedert sich übrigens in etwa drei gleich grosse Teile ( 1. Ein Kopf ohne Welt, 2. Kopflose Welt und 3. Welt im Kopf). Jeder Teil ist wiederum in Kapitel von 15-20 Seiten Länge unterteilt.


    Ohne zu viel verraten zu wollen, möchte ich aber doch einen knappen Umriss geben, was seit dem letzten Mal bis jetzt passiert ist:


    Thereses Mittagessen mit dem Möbelverkäufer war prägend: Sie nennt ihn ab sofort in Gedanken nur noch „interessanten Menschen“ oder „Herr Puda“, abgeleitet von Buddha, der in Kiens Bibliothek prominent vertreten ist und somit wichtig zu sein scheint. (Sein wirklicher Name „Herr Grob“ ist ihr nicht schön genug; ich persönlich hingegen finde den Namen passend) Währenddessen ruft Kien zur grossen Mobilmachung auf: er hält vor seinen Büchern eine Brandrede anlässlich der „Kriegserklärung seiner Feindin“ – er muss sich der Unterstützung seiner Bücher sicher sein. Während er die Bücher „militärisch neu ausrichtet“ fällt er von der Leiter und verletzt sich schwer. Er ist immer noch bewusstlos, als er von Therese aufgefunden wird. Der erste Schreck ist nicht so sehr der vermeintliche Todesfall, sondern die Befürchtung, dass es noch gar kein Testament gibt und sie nicht weiss, auf welcher Bank das Vermögen deponiert ist!


    Kien ist allerdings nicht tot – Therese wird ihn sechs Wochen lang pflegen müssen, nutzt aber die Gelegenheit, die Bibliothek auf ihre eigene Weise zu inventarisieren (bspw ist die Anzahl der schönen Kringel-O’s im Titel wichtiger, als der Name und Autor des jeweiligen Buches). Zudem arbeitet sie schon mal daraufhin, Kien zum Erstellen seines Testaments zu bewegen. Ohne Testament darf er nicht sterben; Therese hat mittlerweile von einem heimlichen Bruder Kiens erfahren! Nach Kiens Genesung geht der Ehekrieg weiter.


    Ich finde es wirklich genial wie Canetti es geschafft hat, die Betrachtungsweise beider Parteien zu vermitteln. Als objektiver Leser meint man natürlich, das Eheleben sei Psychoterror und die beschriebenen Situationen sind völlig absurd. Aber man erhält Einblick in die Gedankenwelt von Therese und Kien und versteht, weshalb sie so handeln wie sie es eben tun. Logisch nachvollziehen lässt sich natürlich nichts in dem Buch, aber auf ihre eigene Art sind die beiden Charaktere konsequent herausgearbeitet. So weiss man, weshalb Kien schliesslich doch ein Testament erstellt, obwohl er sich zuvor geschworen hat, Therese diese Freude nicht zu machen. Missverständnisse und Fehlinterpretationen der Handlungsweise des jeweils Anderen führen zu unvorhersehbaren Situationen. Vorhersehbar ist allerdings, dass Therese mit dem Testament nicht glücklich ist. Es fehlen ihr erst eine, dann zwei und schliesslich drei Nullen hinter dem genannten Betrag. Nicht zu fassen, dass ihr Mann auch noch das Vermögen verheimlicht! Ein Highlight bisher ist eine Szene, in der beide mal wieder aneinander vorbeireden und ausgehend von einer vermeintlichen Millionenerbschaft Pläne machen, was sie mit dem unverhofften Geld anstellen möchten. Umso grösser ist die beiderseitige Enttäuschung und das Zusammenleben eskaliert in einer handfesten Auseinandersetzung.


    Überhaupt gibt es so einige verstörende Szenen in dem Buch: auf immerhin zwei Seiten erfahren wir bspw. vom Hauswart, wie man am Besten auf eine Frau einprügelt und dass man idealerweise schon bei der eigenen Tochter anfängt, um sie aufs Eheleben vorzubereiten.

  • Herrje! Längst bin ich mit dem Buch durch, ohne dass ich Gelegenheit hatte, hier noch meine Eindrücke darzustellen. Die beiden weiteren Abschnitte stellen tatsächlich eine klare Trennung zum vorherigen Verlauf dar. Im zweiten Abschnitt "Kopflose Welt" wird Kien aus der gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen. In der Spelunke "Zum idealen Himmel" trifft er auf den größten Schachspieler aller Zeiten. Wir lernen zudem eine ganze Bande anderer Gäste kennen, an deren Lebenslauf, Gedanken und Weltansichten uns Canetti teilhaben lässt. Deren Leben "zu verstehen" ist wichtig, um annähernd deren groteske Handlungen und Motivationen nachvollziehen zu können. Mehr oder weniger einsam strebt tatsächlich jede Person in dem Buch entweder nach Geld oder nach Ruhm und Anerkennung. Und trotz der vielen absurden Situationen und den überzogenen Charakteren, handelt es sich bei dem Roman keinesfalls um eine Komödie. Vielmehr ist die Darstellung der zahlreichen Protagonisten Gesellschaftskritik mit vielseitigen Deutungsmöglichkeiten.


    Bei Wikipedia habe ich noch dieses Zitat von Canetti gefunden, was die Grundstimmung des Buches ziemlich gut wider gibt:


    Zitat

    "Ich begriff, daß Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen; daß ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen; daß es keine größere Illusion gibt als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Man spricht zum anderen, aber so, daß er einen nicht versteht… Wie Bälle springen die Ausrufe hin und her, erteilen ihre Stöße und fallen zu Boden. Selten dringt etwas in den anderen ein, und wenn es doch geschieht, dann etwas Verkehrtes.
    – Elias Canetti: zitiert nach: Manfred Durzak, Gespräche über den Roman"


    Das Buch ist auf jeden Fall empfehlenswert, auch wenn mein Eindruck nach dem Lesen am Besten mit ratlos und verwirrt beschrieben werden kann - aber der Roman hat sicherlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen.