Jean-Philippe Blondel- 6 Uhr 41/ 06 H 41

  • Einen kleinen, unterhaltsamen und in seiner Thematik doch tiefgründigen Roman hat der französische Schriftsteller Jean-Philippe Blondel hier vorgelegt.


    Ein Mann und eine Frau begegnen sich in einem Zug. Die Frau ist auf dem Weg zurück nach Paris, nachdem sie das Wochenende wieder einmal unter großen Anstrengungen bei ihren Eltern verbracht hat. Cecile heißt sie, ist 47 und eine recht erfolgreiche Unternehmerin. Der Mann, den sie vor mehr als drei Jahrzehnten liebte, heißt Philippe Leduc.


    „Ich hätte den Zug um 7 Uhr 50 nehmen können….“, so beginnt Cecile dieses Buch über eine Begegnung in einem Zugabteil. Hätte …


    Jean-Philippe Blondel führt diese beiden ehemalig ineinander Verliebten in einem Zug zusammen, als ob es so hätte sein müssen. Die Begegnung zwingt sie, nicht nur ihre gemeinsame Zeit vor 30 Jahren zu reflektieren, sondern auch die dramatischen Ereignisse bei einem Urlaub in London, der aus den Fugen geriet und das schnelle Ende einer hoffnungsvollen Liebe bedeutete.


    Doch sie tun das nicht miteinander, sondern jeder für sich. Obwohl jeder den anderen sofort erkennt, schweigen sie betreten. Philippe kämpft mit seinen bald aufkommenden Schuldgefühlen, Cecile mit ihrer Wut, die sie vergangen glaubte. Was wäre denn gewesen, wenn, denken beide für sich mehr als einmal auf der nur eineinhalbstündigen Fahrt des 6 Uhr 41 nach Paris.


    Immer wieder gibt es vorsichtige Versuche der Annäherung, während die Ankunftszeit immer näher rückt. Es soll hier offen bleiben, was bis nach Paris noch geschieht zwischen den beiden. Man liest diese wunderbare wie ein Kammerspiel inszenierte Komödie in einem Rutsch, nicht nur gespannt auf ihr Ende, sondern auch mit immer wieder aufkeimenden Gedanken daran, wie das wohl wäre, wenn man selbst in einem Zug oder bei einer anderen Gelegenheit einem fast vergessenen Menschen der eigenen nicht immer rühmlichen Vergangenheit begegnen würde.


    Eine köstliche und gleichwohl tiefsinnige Lektüre.

  • Man liest diese wunderbare wie ein Kammerspiel inszenierte Komödie [...]
    Eine köstliche und gleichwohl tiefsinnige Lektüre.


    Ich habe dieses Buch nun beendet, nachdem es mir in der Bücherei ins Auge gefallen war und hier sehr gut bewertet wurde.
    Und obwohl ich kammerspielartige Szenen sehr mag, kann ich den zitierten Einschätzungen nicht zustimmen.
    Ich empfand das Buch ganz und gar nicht als Komödie - weder lustig noch amüsant noch sonst in irgendeiner Weise für freundliches Lachen geeignet. Wohingegen Ironie und der Rückblick (und leider auch Ausblick) auf unsympathische Verhaltensweisen eine große Rolle spielen. Man kann sich denken: Ach, möge man doch den Mantel der Jugend darüber decken und mit dem Abstand der Jahre gutmütig darüber schmunzeln ... so könnte man das vielleicht sehen. Allerdings bin ich im gleichen Alter wie die Protagonisten und mir blieb das Lachen zumindest im Halse stecken.


    Gut, die Idee ist interessant und ich kann damit leben, wie sich die Bahnfahrt entwickelt; der Schluss war für meinen Geschmack folgerichtig.
    Aber man sollte sich bewusst sein, dass dieses Buch trotz seiner Kürze auch anstrengend und frustrierend wirken kann. Also lieber nicht nur fröhliche Vorerwartungen!

  • Das Buch hat mich auf der ganzen Linie enttäuscht. Erwartet habe ich einen leichten, poetischen Roman, wie man ihn gerade von französischen Autoren kennt. Doch mehr und mehr las ich die Gedanken zweier frustrierter End-Vierziger, in deren Hirn immer noch eine jugendliche Verletzung spukt. In ihrem, weil sie verletzt wurde (und sich so gewandelt hat, dass es ihr nie mehr passieren wird), in seinem, weil er verletzt hat (und sich so gewandelt hat, dass er es nie mehr tun wird).


    Das Buch war mir zu platt, zu plakativ. Philippe, der als 20-jähriger unverschämt gut aussah, alle Mädchen um den Finger wickelte und dem jeder eine glänzende Zukunft prophezeite, dagegen Cécile, die Unscheinbare, Schüchterne, die nicht glauben konnte, dass so ein toller Kerl ausgerechnet sie erwählte.
    Inzwischen ist alles genau umgekehrt. Aus Cécile ist eine reiche, selbstständige Unternehmerin geworden, die erfolgreich eine expandierende Firma leitet und ihre Angestellten fest im Griff hat, während Philippes Äußeres seine Lethargie und sein Leben als Geschiedener, der sich gehen lässt, verrät: Dick, herabhängende Falten, Stirnglatze.
    Das ist so einfach gestrickt, dass es beinah wehtut.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich kann mich in allen bisherigen Eindrücken ganz gut ein wenig wiederfinden. Vorneweg, mir hat das Buch gefallen.
    Obwohl es nicht sonderlich lang ist, ist es auf gar keinen Fall eine leichte Lektüre für zwischendurch. Die Grundgeschichte ist recht einfach, der Handlungsraum sehr begrenzt und doch sehr weit. Eigentlich in einem engen Zugabteil angesiedelt bewegt sich die Handlung in den unendlichen Weiten des menschlichen Fühlens, Denkens und Erinnerns. Eine gehörige Portion Klischees wurden natürlich augenscheinlich verarbeitet - aber meiner Meinung nicht, weil dem Autor nichts anderes einfiel, sondern um den Rahmen so klar und einfach wie möglich zu halten.
    Das eigentlich interessante und tiefsinnige passiert in den Köpfen der beiden Protagonisten. Sie erinnern sich an die 25 Jahre zurückliegende Beziehung, durchleben erneut die gleichen Emotionen in der Erinnerung und vermuten, phantasieren über den Gegenüber. Jeder für sich und ohne darüber zu sprechen. Es scheint sich zumindest für Cécile und Philippe trotz der scheinbaren unbedeutenden, recht kurzen Episode vor so langer Zeit um bedeutende Wendepunkte ihres jeweiligen Lebens gehandelt zu haben, denn dort begründen sie ihr heutiges Ich.
    Eine vielfältige Erzählung, die zum Philosophieren einlädt und sicherlich noch länger nachklingt. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Edit ging nicht mehr: Ich habe aus Versehen ein halbes Sternchen zuviel gemalt ... :pale: Es sollten nur 4 sein.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5: