Louis-Ferdinand Céline - Norden / Nord

  • Norden ist der zweite Teil von Célines Deutschland-Trilogie über seine Flucht-Erlebnisse am Ende des Zweiten Weltkrieges (im Original 1960 veröffentlicht, ins Deutsche erst 1985 übertragen). Als Antisemit und Kollaborateur mit dem Vichy-Regime in Frankreich und den deutschen Besatzern war Céline mit seiner Frau Lucette, dem befreundeten Schauspieler Robert Le Vigan und mit Katze Bébert nach vielfältigen Anfeindungen, Drohungen und Mordanschlägen 1944 aus Frankreich nach Deutschland geflohen. Dort wurden diese vier "besonderen Kriegsflüchtlinge" an verschiedener Orten beherbergt, beziehungsweise "von einem Schloss zum andern" herumgereicht - so lautet auch der Titel des ersten Bandes der Trilogie, an den Norden direkt anknüpft. Es ist sinnvoll, zunächst den ersten (mir noch unbekannten) Band zu lesen, wenn auch Norden separat verständlich ist.


    Kurzbeschreibung auf dem Buchrücken: Im Vordergrund dieses Romans steht die Not des Menschen auf der Flucht, des Menschen in der Falle, des Menschen, der, verzweifelt und voller Greuel über die Ungerechtigkeit der Welt, kein Vertrauen in die Zukunft hat, der nicht weiß, wovon er sich am nächsten Tag ernähren und ob er diesen Tag überhaupt erleben wird. Die Sprache dieser letzten Eruption des Vulkans Celine ist jener gehetzte und hetzende Argot, jenes "Französisch des 21. Jahrhunderts", dem dieser Autor seinen Platz in der Weltliteratur verdankt. 'Eine Schilderung vom Zusammenbruch Nazideutschlands, wie sie in der deutschen Literatur nicht ihresgleichen hat.' ("Die ZEIT")


    Manchmal ist es ganz interessant, einen Roman herunterzubrechen auf jene Bestandteile, die für das Erzählen eben dieser Geschichte unabdingbar notwendig sind: Alles erzählerische „Fleisch“ weglassen, vermeintlich unwichtige Nebenstränge einkürzen, Minihandlungen entfernen schwafelige Dialoge ignorieren. Man kann das, was dann übrig bleibt, die Fabel des Romans nennen oder meinetwegen auch den mythologischen Kern. Meist erhält man so einen grundlegenden Konflikt oder wenigstens irgendein aktives Vorgehen der Hauptfiguren.


    Wendete man eine solche Analyse auf Norden an, bliebe fast nichts übrig, besteht doch der Roman geradezu aus Minihandlungen, Geschwafel, Einwürfen, Auslassungen über den Zustand der Menschheit, Kampfansagen und metatextuellen Sprüngen aus der Erzählzeit in die Gegenwart des Erzählers.


    Was dagegen übrigbleibt ist der Ort, der im großen und ganzen während der gesamten Dauer der Erzählung nicht verlassen wird. Ein Ort, an dem eine statische Ansammlung bestimmter menschlicher Charaktereigenschaften wie unter einer Glashaube vor sich hin gärt, aber kaum Ambitionen der Figuren zu Tage treten. Im Grunde passiert hier eigentlich gar nichts!


    Die Handlung ist eher eine Nicht-Handlung: Die französischen Flüchtlinge sind in einem tristen Landgut in eintöniger brandenburgischer Landschaft 100 Kilometer vor Berlin untergebracht. Warten. Ungewissheit. Beobachtungen. Unangenehme Menschen überall, Reiche und Arme gleich schrecklich und missgünstig. Die Luftangriffe auf Berlin sind von hier aus noch gut aus der Ferne zu beobachten. Hier in Zornhof (ein wahrlich sprechender Ortsname) sind Céline und seine Bagage wohlgelitten - zwischen SS-Männern, altem Adel, der teilweise von einem idealisierten Frankreich schwärmt (die französischen Gäste kriegen trotzdem nur dünne Suppe), teilweise hysterisch ist, zwischen missgünstigen Dörflern, französischen und russischen Kriegsgefangenen, einem Pfarrer, der Honig imkert, dem Greis, der sich von Polenmädchen auspeitschen lässt, einem jähzornigem Krüppel, der von einem russischen Riesen herumgetragen wird, einem Hund, der seinen Herren durch die Gegend ziehen muss und extra abgemagert wird, damit die Leute sehen, wie arm die Herrschaft ist, vielen Ratten, Nazi-Schergen, wild gewordenen Huren aus Berlin, Zigeunern, die Stühle reparieren, einem KZ-Trupp von Bibelforschern, die Hütten bauen, und zwei Résistance-Leuten, die natürlich besonders schlecht auf die Vichy-Kollaborateure zu sprechen sind. Gefahr, Misstrauen, Niedertracht. Alle fressen heimlich versteckte Vorräte auf, tun aber nach vorne hin abgemagert! Man muss halt sehen, woher man sein Essen bekommt! Eine ausweglose Lage, Menschen in unklaren Verhältnissen, irgendwie unsympathische Helden. Und man bekommt den Eindruck, als käme es da gar nicht darauf an. Als sei jeder irgendwann mal Kotzbrocken, gleichzeitig clever und dumm, Täter und Opfer zugleich. Oder nur durch Zufall. Oder Auslegesache. Sind doch eh alles nur Zuschreibungen, die andere vornehmen, um damit die eigene Haut zu retten. Hinter Sympathie steckt immer nur Absicht. Eine Zeit für Wendehälse, die ihr Fähnchen in den Wind hängen. Apokalyptisch, unmenschlich, unfreundlich. Jeder denkt an sich. Uns wird's schon nicht treffen. Warum die, und nicht wir? Wenn wir nicht, dann die da auch nicht!


    Doch während die Handlung quasi auf der Stelle tritt, wird die Szenerie immer dichter beschrieben - das Einfühlen in die Atmosphäre gelingt immer besser. Eine Groteske – Grauen und Komik. Der Roman fräst sich ins Gehirn hinein. Und der wütende Schreibstil, gehetzt, oft ohne Absätze, getrennt durch lauter Auslassungpünktchen, voller Vorwürfe und Exkurse in Célines Leben nach dem Krieg, ein reiner Fluss an Worten und Beleidigungen und (ja, auch) viel Gejammer macht auf eine masochistische Weise sogar ziemlich viel Spaß. Nach und nach wird man normaler Erzählweise so gut wie entwöhnt! Außerdem spricht durch diesen Schreibstil, nur durch die Sprache und die Erzählhaltung, ohne dass es mühselig „dramaturgisch“ belegt werden müsste, eine besondere Sicht auf die Welt: Der Mensch ist ein Tier auf zwei Beinen, seine Kultiviertheit steht auf wackligen Füßen, Moral dient nur als Erklärung dafür, warum man anderen die Köpfe einschlagen will, die Welt ist ein Misthaufen, Zivilisation ist Schicksal oder Ansichtssache, sich auf der richtigen Seite zu wähnen fußt auf purem Glück oder dem lautesten Geschrei.


    Das Bereichernde der Lektüre ist, dass kein literarischer Plan, keine clevere Absicht dahinter steckt, diese pessimistische, selbstmitleidige, menschenfeindliche Haltung zu belegen, die wirklich an niemandem ein gutes Haar lässt. Der Roman belegt sich quasi selbst! Es geht nicht darum, am Beispiel von Figuren vorzuführen, dass die Welt und die Menschen verdorben und schlecht sind. (Die beste Figur wäre/ist der Autor selbst, und er weiß es vermutlich.) Diese nicht neue Ansicht, dass den Menschen nicht zu helfen ist, dass alles den Bach runtergeht, wird nicht durch dramaturgische Kniffe, nicht durch eine an klassischer Erzählkunst geschulte Anordnung und Handlungsführung widerstreitender Interessen der Hauptfiguren und ihrer Gegenspieler vorgeführt und bewiesen. Hier wird kein Für und Wider abgewogen! Hier ist nichts gezirkelt, clever ausgedacht und in narrative Schemata gebogen. Hier wird der klassischen Romanform eine klare Absage erteilt!


    Viele Vorgänge wiederholen sich, die Figuren erledigen viele kleine Schritte, gehen mal hierhin, schauen sich jenes an, versuchen an Informationen zu kommen, versuchen zu schlafen. Ihre Lage entwickelt sich von ausweglos zu bedrohlich. Eine Eskalation. Menschen sterben. Céline, seine Frau Lucette, Schauspielerfreund Le Vigan und Katze Bébert werden auf einen Treck in Richtung Stettin oder Königsberg verladen, wo sie auf einem anderen Landgut untergebracht werden sollen. Buch endet nach knapp 400 Seiten ohne Auflösung, ohne Besserung. Ob es ihnen gelingt, sich nach Dänemark abzusetzen (was kurz etwas planlos erwogen wurde), bleibt offen. Ist auch egal!


    Als das Buch endet, hat sich im Grunde nichts verändert. Und wenn doch, so ist die Lage schon dadurch schlechter geworden, dass Zeit ohne Nutzen verstrichen ist. Einige Personen sind gewaltsam ums Leben gekommen und die größten Schurken wurden befördert, damit die Obrigkeit sie „besser im Auge behalten kann“: Auch eine Methode, seine Feinde zu befrieden, sie bei sich einzureihen.


    Es ist allein schon der eigentümliche Tonfall dieses ambivalenten Erzählers, der „Bedeutung“ in sich trägt, diese äußerst detaillierte Chronik der Ereignisse, die dafür sorgt, dass Handlung über all den Beschreibungen, all dem Gewusel, all dem Abwartenmüssen gar nicht erst in Gang kommen kann. Das Auf-der-Stelle-Treten der Handlung zeigt, dass alles, was man tut, einfach zu nichts führt! Das Ziel- und Hoffnungslose, all das Elend, die nicht zu beherrschende Not des täglichen Daseins, begründet im Übel des Menschseins, spricht aus jedem Satz der Erzählung, mal aggressiv, mal behutsam, aber nie plump und nie falsch. Kein vordergründiger Effekt um des Effektes willen, keine Lügen, weil es nichts zu verbergen gibt!


    Ein wahrhaft toller Roman, wobei alle Facetten des Wortes „toll“ zutreffen: Er ist exzentrisch, verrückt, tollwütig, anmaßend, einfältig, sinnlos, überkandidelt, großartig, wunderbar, außergewöhnlich.



    Louis-Ferdinand Céline (1894-1961) war ein französischer Schriftsteller und Arzt. Sein eigentlicher Name lautete Louis-Ferdinand Destouches. Er nahm freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Kriegsbeschädigt. Begann 1918 ein Medizinstudium. Spezialisierte sich auf Seuchenmedizin. Erste Heirat 1919. Promovierte 1924. Scheidung 1926. Arbeitete für den Völkerbund als Sekretär am Institut der Hygiene und Epidemiologie. Weltweite Reisen im Auftrag der Seuchenforschungsstelle. Arbeit an seinem ersten Roman 1928 bis 1932 (Reise ans Ende der Nacht). Arbeitete mit wenigen Ausnahmen bis zu seinem Tod privat als praktischer Arzt.
    Misanthrop, erst fast Kommunist, dann mit einiger Virulenz Antisemit. Veröffentlichte mehrere Hetzschriften gegen Juden. Seine 2009 veröffentlichten Briefe zeigen, dass sein Judenhass tief verwurzelt war. Erklärte ab 1937 offen seine Sympathie für Hitler. Während der deutschen Okkupation Frankreichs kollaborierte er mit dem Vichy-Regime. 1940 Heirat mit Lucette. Nach Morddrohungen und Anschlägen Flucht nach Dänemark, dann nach Deutschland. Zuerst untergebracht in Baden-Baden, dann in Schloss Sigmaringen. Danach Internierung in Neuruppin. Ende April 1945 Flucht nach Dänemark. Dort Internierung und Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord. 1949 Inhaftierung aufgehoben. In Abwesenheit in Frankreich wegen Kollaboration zu Tod und Vermögensverlust verurteilt. 1950 begnadigt, 1951 Rückkehr nach Frankreich. (Quelle: Wikipedia)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


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    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Und dies ist die regulär noch erhältliche, französische Gallimard-Ausgabe von 1976. Eine Kindle-Ausgabe gibt es ebenfalls.

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