Paul Auster - Mond über Manhattan / Moon Palace

  • Über den Autor:
    Den ersten Entwurf eines Romans schreibt Paul Auster noch immer mit der Hand, ein echtes Manuskript also. Die Arbeitsweise passt zu dem Autor, der mit seiner Frau zurückgezogen in Brooklyn lebt und nicht gern über seine literarische Arbeit spricht. Geboren wurde Auster 1947 in Newark, New Jersey. Seine Vorfahren waren jüdische Einwanderer aus Österreich. Nach dem Studium fuhr er als Matrose auf einem Öltanker zur See. Von 1971-74 lebte Auster in Frankreich. Danach hatte er einen Lehrauftrag an der Columbia University und war Übersetzer und Herausgeber französischer Autoren. Mit Romanen wie "Mond über Manhattan", "Die Brooklyn Revue" und "Unsichtbar" sowie seiner klaren, bildreichen Sprache avancierte er zu einem der erfolgreichsten US-amerikanischen Autoren. (Quelle: amazon)


    Buchinhalt:
    It was the summer that man first walked on the moon. I was very young back then, but I did not believe there would ever be a future...
    Spanning three generations, Moon Palace ist the story of Marco Stanley Fogg and his quest for identity in the modern world. Moving from the concrete canyons of Manhattan to the cruelly beautiful landscape of the American West, it is a meditation on and re-examination of America, art and the self, by one of America's foremost authors. (Quelle: Klappentext meiner Ausgabe)


    Der Protagonist ist der junger Student Marco Stanley Fogg, der sich selbst und sein Leben sucht, begleitet dabei von zwei Männern und einer Frau. Die junge Kitty wird auf seinem Weg seine Liebe, seine Sehnsucht nach Familie, die er nicht halten kann. Die beiden Männer, die in sein Leben treten und es eine Zeit lang begleiten, versuchen ihn und seinen Weg zu beeinflussen, auch wenn die Gründe dafür zunächst nicht offen darliegen. Am Ende der Geschichte steht Marco wieder alleine da, aber ob wirklich mit einem neuen Blick auf sich und die Welt, die sich weiterdreht, gleich wie sich die Kreise schließen oder nicht?


    Die englische Ausgabe, die ich gelesen habe (Faber and Faber Ltd, London, 1989), umfasst 298 Seiten unterteilt in 7 unterschiedlich lange Kapitel. Zu Umfang und Qualität der Übersetzung kann ich keine Angaben machen. Erzählt wird die Geschichte vom Protagonisten selbst im Rückblick auf sein Leben.



    Meine Meinung:
    Ich bin froh, dieses Buch in einer Leserunde gelesen zu haben – sonst hätte ich vieles überlesen, manches einfach ad acta gelegt und mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Auf der anderen Seite war unsere Leserunde so ergiebig, dass ich mir jetzt grad ein wenig schwer tue, eine abschließende Rezension zu schreiben. Wir haben so viel darüber gesprochen, so viele Fäden gesponnen, Spuren verfolgt und wildeste Theorien aufgestellt, dass ich meine Gedanken jetzt versuchen muss zu bündeln...... wer sich für unsere Leserunde interessiert, hier ist der Link dazu.


    Im Vordergrund der ganzen Geschichte, die in erster Linie Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre in New York spielt und in Rückblenden unterschiedlicher Länge aus dieser Zeitschiene fällt, steht Marco Stanley Fogg, ein junger Student, der als Kind seine Mutter verlor und bei seinem Onkel Victor, einem erfolglosen, verträumten Musiker, aufwuchs und liebevoll umsorgt wurde. Nach dessen Tod fällt Marco in ein tiefes Loch und entscheidet sich fürs Nichts-Tun, für totale Entscheidungs-Verweigerung – eine Haltung, die er in seinem ganzen weiteren Leben so beibehält... Das macht das Leben vielleicht auf den ersten Blick einfacher, denn so lässt er den Ereignissen freien Lauf und muss für nichts die Verantwortung übernehmen, aber andererseits macht er sich so auch zum Spielball – aber das will er wohl so. Geprägt durch seinen Onkel und schon immer etwas exzentrisch beginnt Marco, in allem und jedem ein Zeichen zu erkennen. Gleich was passiert und wie schlimm seine persönliche Situation auch wird, er hält alles für bedeutungsschwer und überall sieht er Zusammenhänge – egal wie abstrus diese uns auch erscheinen. Durch sein Nicht-Handeln demontiert er systematisch Schritt für Schritt sein Leben, seine Zukunft und auch seine Vergangenheit. Sein Gegenpart dazu ist Kitty, die andere Seite der Medaille. Bei vergleichbarem Hintergrund packt sie das Leben bei den Hörnern und trifft ihre eigenen Erscheinungen. Sie ist das Bild für die junge, schöne, eigenständige Frau wie sie Ende der 60er Jahre die gesellschaftliche Bühne betritt – sich frei machend von gesellschaftlichen Zwängen geht sie ihren eigenen Weg. Als Marco mal versucht, sich am Riemen zu reissen, fällt er gedanklich natürlich wieder in das andere Extrem – normal geht nicht, einen Mittelweg gibt es für ihn nie. Aber letztendlich ändert er sich nicht, er lässt sich ziellos treiben und braucht immer eine führende Hand.


    Auftritt Thomas Effing, Marcos Arbeitgeber, nachdem dieser komplett am Ende ist. Effing ist eine schillernde, nicht greifbare Persönlichkeit – nie weiß man ob das, was er sagt und erzählt, die Wahrheit ist.... der unzuverlässige Erzähler in Person. Selbst seine Behinderungen – er sitzt im Rollstuhl und scheint blind zu sein – könnten auch nur vorgetäuscht sein, sind manches Mal nicht das, was sie zu sein scheinen. Er ist undurchschaubar, seine Ideen und Wünsche nie greifbar oder vorhersehbar – er handelt spontan und für die anderen nicht logisch nachvollziehbar, scheint dabei aber immer einen Plan zu verfolgen. In all diesen Exzentrizitäten ist er mir sympathisch – er lebt das was er will, er ist zynisch, aber klug und gebildet, fordernd bis zum Exzess aber am Ende freigiebig in gewisser Weise. Ich mag extreme und schräge Charaktere wie ihn. Aber auch er war in seiner Jugend zeitweilig der eher planlose, sich fallenlassende Charakter wie Marco auch.


    Auftritt Solomon Barber, dem nächsten extremen Charakter – der aber sein eigenes Extrem offen zum Markenzeichen macht und sich seiner bedient. Der erste Charakter, der für mich ehrlich erscheint während neben Effing ja auch Marco nicht ehrlich ist und sich ständig selbst in die Tasche lügt – zwei unzuverlässige Erzähler in einer Geschichte.


    All diese Charaktere sind von Auster extrem überzeichnet, sie sind die absoluten Klischeebilder. Überhaupt habe ich das Buch über etliche Teile hinweg (besonders am Anfang) als Persiflage auf die 60er Jahre gelesen, da auch der Erzähler über sein junges Selbst immer mal wieder den Kopf schüttelt und sein früheres Ich nicht versteht. Nach meinem Empfinden macht sich Auster in diesem Buch auch sehr lustig über all diese Symbolik und Bedeutungsinterpretation und -schwere und die Menschen, die hinter allem und jedem einen tieferen Sinn ausmachen wollen und müssen, wie es in der Flower-Power-Zeit ja aufkam.

    Dennoch ist ein Symbol in diesem Roman für mich ernst zu nehmen und das Grundmotiv der Geschichte: der Mond, der immer und überall in den unterschiedlichsten Bildern auftaucht - von der Band des Onkels mit Namen „Moon Men“ über das Restaurant „Moon Palace“, vom Maler Blakelock und seinen „Mondbildern“ als Blick in die Vergangenheit bis zum kahlen Kopf, der wie ein Mond über dem Körper schwebt. Dabei steht der Mond für mich für die Kreise im Leben, die sich immer irgendwo wieder schließen, für Zyklen die enden und wieder beginnen so wie der Mond eben ab- und wieder zunimmt. So schließt sich der Kreis von Marcos bisherigem Leben am Ende ebenso wie sich die Kreise von Effing und Barber schließen, aber legt man ihre Leben übereinander, so erkennt man die gleichen Zyklen. Die Person Barber selbst ist zeitweilig wie ein zu- und abnehmender Mond.


    Dabei treibt Auster aber das Spiel mit den Symbolen so weit, dass er den Leser (uns in der LR auch :mrgreen: ) in eine fast zwanghafte Suche nach weiteren Symbolen treibt; angefangen bei all seinen Anspielungen auf menschliche Entdeckungsreisen wie die Mondlandung, die 1492 Bücher des Onkels (Entdeckung Amerikas) bis hin zu Marcos Namen, die alle irgendwie mit Entdeckern (reell wie fiktiv) in Zusammenhang stehen. Dann finden wir den Wilden Westen als Gegenpol zum Amerika der 60er Jahre - beides könnte aber auch wieder für Distanz, zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber auch räumliche Distanz stehen, die Weite des Wilden Westens. Gleichzeitig ist auch der Mond ja ein Symbol für Distanz, die erstmalig am Beginn des Buches verkleinert wird durch die erste Mondlandung. Aber den normalen Menschen bleibt der Mond unerreichbar weit weg obwohl er manchmal am Horizont zum Greifen nah erscheint. Und auch über den Mund stolpert man immer wieder in unterschiedlichsten Formen, mal bezogen aufs Essen, mal aufs Reden, dann aufs Schweigen bis hin zu dem Indianer George Ugly Mouth. Dient er wirklich als Symbol für Sprache? Oder nimmt uns der Autor nur fürchterlich auf den Arm, so dass wir uns an die eigene Marco-Nase fassen müssen weil wir genauso denken wie der Protagonist? Wie viel will der Autor uns mit diesem Buch wirklich eindeutig sagen oder will er uns nur auf die Reise schicken, damit wir uns unsere eigenen Gedanken machen? Viele Fragen bleiben am Ende des Buches offen, aber nach langem Nachdenken glaube ich: das soll so sein – und es gefällt mir!


    Ich habe versucht, in dieser Rezension die unterschiedlichsten Fäden und Ideen einzubringen, die wir in unserer Leserunde verfolgten und die für mich stimmig sind. Aber bestimmt hab ich die ein oder andere Idee wieder vergessen und wir waren ja auch nicht immer einer Meinung, was ich gut finde. :wink: Umso mehr hoffe ich, dass die anderen hier auch noch ihre abschließenden Meinungen äußern werden :winken: . Auch sag ich mal Entschuldigung dafür, dass Ihr so lange auf die Rezension warten musstet – sie ist mir tatsächlich schwerer gefallen als gedacht und ich hab sie öfter umschreiben müssen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Vielen Dank, dass du diese Herkules-Aufgabe stellvertretend für unsere MLR übernommen hast!!!! Deine Rezension ist sehr gelungen, da sie so viele Facetten berücksichtigt und unsere teilweise sehr wirren Gedanken noch einmal geordnet wiedergibt :applause: :friends: .

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Ein ganz dickes Dankeschön auch von mir, Squirrel :thumleft: Das du aus unseren Gedankenfäden so eine Rezension zaubern konntest! Boah! Toll! :applause::pray::thumleft:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024