Claude Simon – Der Wind / Le Vent

  • Ganz unbedarft ein Buch anfangen und dann völlig in den Bann geschlagen werden von den Worten, der einzigartigen Art des Erzählens, die versucht, sich dem unentwirrbaren Kuddelmuddel des modernen Lebens zu nähern, das so voll unbegreiflicher sozialer Vorgänge und undurchschaubarer menschlicher Befindlichkeiten ist, dass ein allwissender Erzähler wahrlich nicht anders als eine Anmaßung und Verharmlosung erscheinen sollte.


    Claude Simon (1913-2005) war ein französischer Schriftsteller, der 1985 den Literaturnobelpreis erhielt. Häufig bemühte Themen sind die Geschichtlichkeit, seine Familiengeschichte, die Erinnerung, Krieg und die in Kriegszeiten erlittene Gewalt. Er ist ein Vertreter der literarischen Strömung des Nouveau roman, die auf einen allwissenden Erzähler verzichtet und weder deutet, noch bewertet oder psychologische Erklärungen für Handlungsweisen der Figuren sucht. Das Buch „Der Wind“ mit dem auf den ersten Blick sehr kryptischen Untertitel „Versuch der Wiederherstellung eines barocken Altarbildes“ ist im Original von 1957 und Claude Simons zweiter Roman. (Quelle: Internet)


    Inhalt des Romans laut Klappentext: Antoine Montes kommt in eine südfranzösische Provinzstadt, um das Erbe des ihm unbekannt gebliebenen Vaters anzutreten: Der als Sonderling empfundene merkwürdige Fremde gerät ins Räderwerk eines unverstandenen Geschehens, das andere ins Unglück reißt und ihn selbst beinahe vernichtet hätte. Der Erzähler in Claude Simons epochalem Roman rekonstruiert aus Berichten, Gerüchten und Vermutungen das unglückliche Geschehen um Antoine Montes...


    Es mag viele geben, die Romane von Claude Simon wegen ihrer langen, verschachtelten Sätze entnervt beiseite legen. Tatsächlich füllen manche Sätze schon mal eine ganze Seite. Aber das ist kein Selbstzweck. Hier will sich kein bornierter Autor selbst gerne beim stilvollen Fabulieren zuhören. Es sind keine gedrechselten Syntax-Wunder, sondern folgen dem jeweiligen Gedankenfluss der handelnden oder erzählenden Figuren, die versuchen, sich selbst Vorgänge begreifbar zu machen, sich selbst zu vergewissern, Vergangenes zu rekapitulieren, sich mühsam zu erinnern. Tatsächlich machen die Sätze überwiegend auch stets nur kleine Schritte, ein Gedanke, ein Satzteil nach dem anderen. Dabei gehen sie dann und wann auch einmal fehl, sind abgehackt und sprunghaft wie das gesprochene Wort, müssen oft noch einmal ansetzten, in ihrem Wunsch, Eindrücke und Szenen „richtig“ zu beschreiben; mühselig aus dem Gedächtnis zurück ans Licht beförderte Erinnerungen – denen im Grunde nicht schwerer zu folgen ist, als einem Gespräch, das man mit nachdenklichen Freunden führt. Die Sätze scheinen manchmal einen Sachverhalt richtiggehend zu umkreisen, so wie ein Fotograf um ein Objekt herum springt, und aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehr viele Schnappschüsse macht, um den Gesamtcharakter des Objektes vollständig (wenn auch umständlich) abzubilden.


    Zu diesem erzählerischen Gestus passt dann auch sehr gut, dass die Hauptfigur Antoine - übrigens stets mit um den Hals gehängter Fotokamera unterwegs (nur von dem, was ihm lieb und teuer werden wird, wird er kein schönes Bild bekommen) - ein schüchterner Herr ist, der um seinen Platz in der Gesellschaft ringen muss. Selbst seine äußere Erscheinung scheint unsicher beziehungsweise Ansichtssache: obwohl er wie 50 wirkt, ist er doch nur 35 Jahre alt. Ein verhuschter Typ, der keinen Wert auf seine Kleidung legt und im Angesicht von zur Schau getragener Selbstsicherheit erstarrt. Er wird belächelt und nicht für voll genommen. Er ist ein etwas umständlicher Charakter, der sich für Kleinigkeiten und vermeintliche Belanglosigkeiten (was andere jedenfalls so belanglos nennen) interessiert.


    Im Roman kommt er an den ihm unbekannten Ort in Südfrankreich, wo sein ihm ebenfalls unbekannter Vater verstarb. Die hier lebenden Menschen sind ihm fremd, so wie sie ihn argwöhnisch und klatschsüchtig beäugen. Er versucht einen passablen Weg zu finden, sein „problematisches“ Erbe (ein Grundstück mit Weinberg) richtig anzugehen. Soll er verkaufen oder nicht? Der Notar rät ihm dazu, das Grundstück abzustoßen. Doch wenn der Vater den nicht einträglichen Besitz bis zu seinem Tod behalten hat, wäre es da nicht eher in seinem Sinne, ihn auch über seinen Tod hinaus in der Familie zu halten? Macht er sich mal wieder zu viele Gedanken?


    In der Folge wird Antoine in eine absonderliche Geschichte verstrickt, die mit einem vielleicht „vulgären“, doch bestimmt mittellosen Dienstmädchen, bürgerlichen Töchtern mit seltsamen Ambitionen, vorsichtigem, nicht in Worte gekleidetem Sichverlieben, nicht sesshaften Kleinganoven, Schmuckdiebstählen, einem gesprächigen Notar, auf Amtsstuben vergeudeter Lebenszeit, einem Gutsverwalter, der gegen seine Entlassung klagt (was Antoines Aufenthalt vor Ort unnötig in die Länge zieht), einem aufdringlichen Handelsvertreter als Zimmernachbarn im schäbigen Hotel, einem Erpressungsversuch, Denunziation und gewaltsamem Tod zu tun hat. Doch über die Geschichte will ich hier keine weiteren Worte verlieren, um der eigenen Lektüre nichts vorweg zu nehmen.


    Die Erzählung des Romans ist jedenfalls der Versuch, diese absonderlichen Abläufe zu rekonstruieren. Der Ich-Erzähler ist übrigens ein unbeteiligter Gymnasiallehrers des Ortes, der die Hauptfigur kürzlich erst kennengelernt hat, sich aber für die von Gerüchten umrankte Geschichte Antoines anscheinend interessiert. Über ihn erfährt man nichts, er ist nur der Durchlauferhitzer der Handlung. Die Geschichte, derer der Roman habhaft werden will, ist im Grunde eine Abfolge von Niederlagen, die die Hauptfigur während ihrer Anwesenheit in der alten, ständig vom Wind durchtosten, staubigen, heruntergekommenen, alten Provinzstadt im Süden Frankreichs erlebt. Inwiefern Antoines Charakter für das Eintreten der Niederlagen, Demütigungen und Katastrophen verantwortlich ist, lässt der Roman offen. Ein Grübler, der immer das Gute will, aber stets nur Unglück bringt. Nicht komisch, sondern sehr tragisch.


    Was den Roman neben der puren, opulenten Schönheit seiner Sätze, seiner soghaften Satzmelodie für mich so wertvoll macht, ist sein Interesse an den Menschen am Rande der Gesellschaft, an Menschen in prekärer Armut und an zaghaften Außenseitern, Träumern und all den Herumgeschubsten.


    Die zögerlich sich herantastende Erzählweise, die weniger versucht, eine spannende Handlung wiederzugeben, sondern vielmehr die unbegreiflichen, hinter der Handlung liegenden, sozialen Vorgänge begreifen möchte, die das Leben der Menschen in dem großen, lauten Getümmel der modernen Welt verwirren, war für mich ein wirklicher Lesegenuss. Und kam mir während des Lesens fast wie eine Befreiung vor: Ohne vordergründige Handlungsbausteine, ohne die brav gelernte Fünf-Akt-Struktur (innerhalb derer man eigentlich gar nicht zu fragen braucht: „Was passiert gerade?“ - es reicht „Wo sind wir?") und ohne denkfaule Story-Schemata kommt man den Figuren und dem, was sie antreibt oder quält eben manchmal doch viel näher!


    Und vielleicht das Schönste dieser besonderen Erzählweise ist, dass die Möglichkeit des eigenen Versagens, der Erzählung überhaupt habhaft zu werden, nicht ausgeschlossen wird! Schon durch die selbstgewählte literarische Form und Sprechweise wird etwas ausgesagt, Bedeutung und vielleicht Wahrheit transportiert: Durch die Lückenhaftigkeit der Rekonstruktion der Ereignisse, die mäandernden Gedanken und das Abgehackte, das Stammeln der häufigen Wortsuche nach der adäquaten Beschreibung wird ja ganz klar verdeutlicht, dass ein rationales, kognitives, sinnvolles Verständnis der chaotischen, vielfältigen - sowohl durch individuelle Hemmungen, Ansichten und Charakterschwächen, als auch durch gesellschaftliche, kleingeistige und missgünstige Lebensumstände torpedierten - Beziehungen zwischen den Menschen (oder Liebenden) eigentlich unmöglich ist. Und da ist sicherlich viel Wahres dran. Ich bin begeistert! :drunken:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

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  • Der Roman heißt im französischen Original "Le vent - Tentative de restitution d'un retable baroque". Diese Ausgabe ist von 2013. Eine Kindle-Edition gibt es natürlich auch.

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  • @ Jean, Du scheinst Dich zum Stachel in meinem Fleisch zu entwickeln. Mit Simons "Akazie" hatte ich meine Schwierigkeiten, was nicht an seinen Schachtelsätzen gelegen haben kann, denn schließlich sind einige meiner Lieblingsautoren wie Thomas Mann, Marcel Proust und Heimito von Doderer schachtelsatzmäßig ganz vorne mit dabei. Aber nach dieser Rezension schwant mir, dass die Sache mit Simon noch nicht ausgestanden ist. Der Gedanke, ich könnte einen guten Autor verpassen, ist zu fürchterlich.


    Gruß
    mofre

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  • Der Gedanke, ich könnte einen guten Autor verpassen, ist zu fürchterlich.

    Oh ja, ein schlimmer Gedanke! Ich bin schon sehr gespannt auf weiteres von Claude Simon (in meinem Regal harren noch "Der Palast" und "Das Seil") - und hoffe, dass er meinen so sehr positiven Ersteindruck nicht enttäuscht. Vielleicht ist "Die Akazie" auch besonders sperrig (allerdings scheinen die Redakteure der Süddeutschen ja drauf zu schwören. Aber die können ja auch mal irren). Der "Wind" hats mir aber nu wirklich angetan. Der Wind, der eigentlich auf jeder Seite des Romans durch die Stadt weht, als wäre er die eigentliche Hauptfigur, ein Grundtonus im Leben der Menschen. Und dann das Gelesene (manchmal Erahnte) abzugleichen mit dem kryptischen Untertitel... die Gedanken, der Nachhall, schlagen Purzelbäume! :)

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  • Eine sehr schöne, aussagekräftige Rezension! Ich muss zu meiner Schande gestehen, noch nie von diesem Buch/Autor gehört zu haben (trotz Franz-LK :pale: ) , aber jetzt habe ich mir vorgenommen, es bald zu lesen.

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Ich muss zu meiner Schande gestehen, noch nie von diesem Buch/Autor gehört zu haben (trotz Franz-LK :pale: ) , aber jetzt habe ich mir vorgenommen, es bald zu lesen.

    Oh, das freut mich! Ich hoffe, Dir gefällts! Was hattet Ihr denn so im Franz-LK gelesen? Entgegen dem gängigen Vorurteil haben wir in der Schule ja doch auch Bücher durchgenommen, die mir gefallen haben. Aber Französisch hatte ich nicht. Würde mich interessieren, was man da so liest. Irgendwie gefallen mir ja recht viele französische Autoren. Seltsam... ;)

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  • Das ist jetzt wahrscheinlich etwas off-topic (so nennt man das doch, oder :uups: ?), aber wir haben damals Flaubert, Moliere, Beckett, Ionesco,Sartre und Camus gelesen. Das ist jetzt schon ein Weilchen her, gute 15 Jahre, und ich habe keine Ahnung, wie sich der Lehrplan inzwischen verändert hat. Es war auf jeden Fall interessant!

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  • Stimmt, offtopic ist ja immer nicht so gerne gesehen ;) Aber Danke für die Antwort! Viele Dramen anscheinend. Lehrer scheinen sie zu lieben ...

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