Bill James - Auf Rosen gebettet / Roses, Roses

  • Der inzwischen 84-jährige walisische Autor James Tucker veröffentlicht unter dem Pseudonym Bill James seit 1985 alljährlich einen Roman seiner in Großbritannien hoch geschätzten Harpur-&-Iles-Krimiserie. In Deutschland haben sich die Verlage Ullstein und Rotbuch an drei aus dem Reihenzusammenhang gerissenen Veröffentlichungen versucht (die Bände 10, 14 und 15), bis des deutschen Krimilesers Interesse anscheinend erlahmte und er sich wieder „kreativ“ gefolterten schönen, jungen Mädchen, skandinavisch verdüsterten Vaterfigur-Ermittlern oder bräsigen Regionalschmunzelkrimis zuwandte.


    Der Roman „Auf Rosen gebettet“, der von Ullstein mit einem schmonzettigen Umschlagbild ausstaffiert wurde, beleuchtet die innerfamiliären Vorgänge nach dem Mord an der Ehefrau von Chief Detective Colin Harpur und zeigt dem unvoreingenommenen Leser auf wunderbare Weise, dass die literarische Behandlung eines Kriminalfalles nicht der ewig gleichen Handlungsschemata bedarf, wie sie einem - hierzulande auch dank der einfallslosen deutschen Fernsehkrimilandschaft verödet - dutzendfach vorgesetzt werden. Wer jedoch gerade auf stereotype Handlung abfährt, wird sich gelangweilt abwenden - und die Geschichte vielleicht eine Soap Noir schimpfen (mit der Bezeichnung läge man allerdings gar nicht so daneben).


    In diesem Roman übernimmt der Detektiv weder die (an sich erwartbare) Rolle des Rächers am Mörder seiner Frau, noch die des cleveren Helden, der in einer klassischen Abfolge von Beweisaufnahme, Verhör und Verhaftung der Rechtsstaatlichkeit zu ihrem Recht verhilft; ob positiv oder negativ gezeichnet: Colin Harpur macht einfach weiter seinen Job. Außerdem vollzieht sich die Ermittlungsarbeit in dieser Geschichte quasi im Hintergrund, da Harpur natürlich nicht mit dieser speziellen Mordsache betraut wird. Dann und wann wird der Leser über Verhöre und kriminalistische Fortschritte informiert. Doch der Fokus liegt (wie anscheinend in jedem Buch der Serie) auf Harpurs Kindern, seiner Familie und den persönlichen Entwicklungen der beteiligten Personen, Polizeikollegen und Freunden der Familie. Allen Figuren wird viel Platz eingeräumt, so dass der Leser es durch die Bank weg mit gerundeten, lebensnahen Charakteren zu tun hat. Insofern bekommen auch Trottel viel Redezeit - aber das ist im wirklichen Leben ja auch so. Überhaupt wird der Verlauf der Geschichte von den Charakteren getragen und nicht wie in vielen "Murder Mysteries" von einem verzwickten Plot-Konstrukt.


    Dass Harpur nach einiger Zeit seine Spitzel und halbkriminelle Zuträger auf den Fall ansetzt, führt etwas - allerdings nur geringfügig - schneller als die offiziellen Ermittlungen (auch hier wird den Story-Schemata und Creative-Writing-Klischees schön in die Breitseite gefahren: der "Held" bürgt in diesem Roman einfach nicht für außergewöhnliche Lösungsansätze) in die gesichtslosen und beunruhigenden Kreise des finanzstarken und organisierten Verbrechens der englischen Hauptstadt, in der Harpurs Frau Megan eine das Ende ihrer Ehe besiegelnde Affäre mit einem seiner früheren Arbeitskollegen hatte. Einst war dieser das integere, intellektuelle Gegenstück zu ihrem Mann, was sich nach seiner Beförderung und Versetzung nach London geändert zu haben scheint. Eine Lüge hinter der Lüge gewissermaßen. Megans Tod ist das Zentrum der Erzählung: Der eine Handlungsstrang beschreibt die Ereignisse nach dem Mord, der andere Strang gewährt aus Megans Sicht Einblicke in das Werden ihrer Liebschaft, sich entwickelnde Misstöne der Beziehung, ihre Wünsche und Ambitionen und das Leben an der Seite eines Polizisten im Dunstkreis des Verbrechens. Diese Kapitel laufen chronologisch auf den Mord zu, genauso wie die Gegenwartskapitel auf seine Aufklärung zielen, so dass am Ende des Buches Auflösung und Mord nebeneinander stehen.


    Berufsverbrecher, Undercoverarbeit, vielleicht auch die strukturelle Ähnlichkeit von organisiertem Verbrechen und Familie und die schmale Grenze zwischen Legalität und Unrecht interessieren Bill James weit mehr als überkonstruierte Verbrechensszenarien, clevere Schlagabtäusche zwischen Gerichtsmedizinern und Ermittlern, forensischer Schnickschnack und psychologische Täterprofile. Ihm geht es darum, wie Kriminalität menschliche Beziehungen verändern kann und wie sich Menschen und die Gesellschaft folglich mit dem Verderben arrangieren. In diesem Roman gibt es jedenfalls nur Opfer, die allerdings noch ganz kräftig mit den Füßen strampeln und austeilen können, um menschlich und gesund zu bleiben. "Auf Rosen gebettet" ist ganz große, desillusionierende Schreibkunst mit sarkastischem Witz, klischeefreien Dialogen, realistischen Beweggründen, spannendem Schluss und überaus interessant gezeichneten Haupt- und Nebenfiguren. Ein Erlebnis!


    (Eigenzitat von amazon.de)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Der Originaltitel lautet "Roses, Roses". Zuerst erschienen 1993 (in Deutschland dann im Jahr 2000). Dies ist eine Ausgabe von 1998 vom Verlag W.W. Norton:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

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