David Grand - Körperfluchten/ The Disappearing Body

  • Die Handlung des Romans, der im Original viel treffender "The Disappearing Body" heißt, ruht auf vielen Schultern. Auf diese Weise kann eine Unmenge US-amerikanischer Zeitthemen der 1930er-Jahre angeschnitten werden: das Ende der Prohibition, die Wandlung des organisierten Verbrechens, Waffenschmuggel für die Sowjets und das Toben des gewerkschaftlichen Arbeitskampfes. Außerdem geht es um Rauschgifthandel, Korruption, Rache, Erpressung, eine politische Intrige, einen unschuldigen Ex-Häftling, einige unglücklich verliebte Männer, eine zu billig abgespeiste Frau, eine gewiefte Enthüllungsjournalistin und ein russisches Malergenie, das lieber den Freitod wählt, als sich in der Sowjetunion der staatlichen Einschränkung seiner Freiheiten zu beugen. Die Szenerie seines brutalen Selbstmordes hält das Enfant terrible kurz vor der Tat in einem sagenumwobenen Gemälde fest, das alsbald vom Tatort der polizeilichen Ermittlung verschwindet. Auf verschlungenen Pfaden wird es im Laufe des Romans aus Russland nach Amerika gebracht, um auf einer Auktion reicher Bildungsbürger versteigert zu werden. Der Titel des Bildes lautet "Körperfluchten".


    Trotz der Vielzahl handelnder Personen ist es weniger schwierig als befürchtet, die Übersicht zu bewahren. Die dem Roman angehängte Figurenliste mag dann und wann helfen. Die Charakterzeichnung ist angenehm detailliert und melodramatisch umrankt, dabei recht stark an Genrekonventionen orientiert. Es wird viel gehadert, gelitten und sich gefügt. Manchmal bekommt man die Fresse poliert. Das Setting des Romans ist sehr noir: Ein Flair allgemeinen Niedergangs liegt über der Erzählung, die das Gefühl individueller Ohnmacht gegenüber übermächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Strukturen vermittelt. Ob Ideologien bei der Sinnsuche helfen, ist fraglich, es sei denn, man kann sie einträglich verschachern. Der Einzelne ist und bleibt Rädchen einer unbarmherzigen Maschinerie. Der Körper (Disappearing Body) verschwindet in der Masse, ist austauschbar im System, im Kampf und am Fließband. Am Schluss bleiben wenige Gewinner zurück, nachdem alle jemand anderen für die eigenen Zwecke manipuliert haben.


    Alle ausgelegten Fäden werden zum Ende hin meisterlich entwirrt. Der Lesegenuss steigert sich mit dem Verrinnen der Seiten, wenn sich nach und nach Zusammenhänge herausschälen und bestimmte Vorgänge anfangen, in einem größeren Plan verständlich zu werden. Der Romancier David Grand beweist große dramaturgische Fingerfertigkeit. "Körperfluchten" unterhält und regt an, geht allerdings nicht zu Herzen. Dennoch schaute ich dieser Hardboiled-Pastiche mit offensichtlichem, literarischem Anspruch gerne beim Auflösen aller rätselhafter Vorgänge zu, so wie man einen Jongleur beim Halten der Bälle in der Luft anstaunt. Doch einige Zeit nach dem Beenden der Lektüre sind einem die Figuren leider bald sehr egal ...


    Wie auch immer: Der sehr filmisch erzählte Stoff wäre eine großartige Grundlage für eine ambitionierte TV-Miniserie!


    (Eigenzitat von amazon.de)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)