(echt jetzt? Keine Rezension bisher?)
Die Neuromancer-Trilogie besteht aus:
- Neuromancer (1984)
- Biochips (engl. Count Zero, 1986)
- Mona Lisa Overdrive (1988 )
Die einzelnen Teile werden in Deutschland meines Wissens nur noch als E-Book aufgelegt, ich bespreche daher alles zusammen, konzentriere mich aber auf Neuromancer.
Disclaimer: Vor fast zehn Jahren war der Roman Thema meiner Magisterprüfung; ich hatte mir das nicht ausgesucht, ich hatte meine Probleme mit dem Buch, bin aber irgendwie hängengeblieben. Ich habe den ersten Teil nun wieder gelesen, ohne bestimmte Fragestellung im Hinterkopf, und versuche mal, nicht zu sehr ins Schwafeln zu kommen.
Über den Autor:
William Gibson, geboren 1948, schrieb zunächst Science Fiction-Kurzgeschichten, bevor er mit Neuromancer seinen ersten Roman vorlegte. Gibson entwickelt darin Ideen weiter, die er bereits für seine Kurzgeschichte Johnny Mnemonic erarbeitete. Er gilt als Vater des Cyberspace und hat nachfolgende Autoren wesentlich beeinflusst.
Inhalt:
Chiba, Japan, in einer alternativen Zukunft: Case ist Cyberspace-Cowboy, ein Datendieb, mit Defekt. Seine im Körper integrierten Ports, die ihm den Eintritt in den Cyberspace ermöglichen, wurden chemisch versiegelt. Case ist draußen und entsprechend am Boden. So findet ihn Molly, die ihn für einen Auftrag des undurchsichtigen Armitage rekrutiert. Case Ports werden wiederhergestellt, er kann wieder in den Cyberspace - allerdings erhält er Giftkapseln implantiert, die seine Zugänge schließen, wenn er den Auftrag nicht wunschgemäß ausführt. Armitage entpuppt sich als Marionette der künstlichen Intelligenz Wintermute, die darauf programmiert ist, nur ein Ziel zu verfolgen: die Vereinigung mit der Zwillingsentität Neuromancer, die eine neue, umfassende künstliche Intelligenz, aufgegangen in der Matrix, entstehen lassen soll. Case soll Wintermute zum Erfolg verhelfen.
Meine Meinung
Gibsons Version der Zukunft ist düster und chaotisch. Die USA gibt es in ihrer derzeitigen Form nicht mehr, die Sowjetunion dagegen immer noch, als einzige große Supermacht. Im Orbit schweben die Raumstationen der Superreichen, Ferienzentren und Fluchtpunkt gleichermaßen. Der Cyberspace ist der himmelsgleiche Zufluchtsort, zumindest für die Daten-Cowboys. Fast alle Charaktere sind heruntergekommen, gescheiterte Existenzen, tragische Gestalten, mit mehr oder weniger vielen Körpermodifikationen, mehr oder weniger auf dem Weg zum Cyborg. Psychopathisch erscheinen viele, vom einfachen Hehler bis zu den Mitgliedern der einflussreichen Tessier-Ashpool Familie, die die Fortpflanzung nach zwei Kindern drangegeben hat und diese Kinder lieber in jeder Generation klont. Nebenbei hat Marie-France Tessier die KIs Neuromancer und Wintermute erschaffen und wurde dafür von ihrem Mann John Ahspool erdrosselt – vor Vollendung ihres eigentlichen Vorhabens. Die KI Wintermute macht sich daher selbst daran, Marie-Frances Plan umzusetzen. So ungefähr muss man sich das Universum von Neuromancer vorstellen. Überbordend vor Ideen – schon fast zu viele Ideen für ein doch recht schmales Büchlein. Die Protagonisten hetzen von Schauplatz zu Schauplatz, der Leser folgt ihnen atemlos; und ich verstehe durchaus, wenn da manch einer die Orientierung verliert.
Gibson hat für seine Protagonisten einen sehr eigenen Straßenslang kreiert, der leidlich gelungen ins Deutsche übertragen wurde. Der Neuübersetzung von Peter Robert gelingt das für mein Empfinden besser als dem ursprünglichen Übersetzungsversuch. Die Gossensprache mutet zunächst gewöhnungsbedürftig an, mit der Zeit findet der Leser jedoch hinein. Die Beschreibungen rund um die Dialoge sind so funkelnd und schön wie ein nagelneues Tablet, ein Highend-Smartphone oder die neueste Spielekonsole auf dem Markt. Bildhafte Techno-Poesie vom Feinsten.
Nur präzise und konkret ist Gibson in Neuromancer oftmals nicht. Er klatscht Begriffe, erfundene und existierende, mit einem Tempo aneinander, dass einem schwindlig werden kann. Erklärungen? Fehlanzeige. Manches erschließt sich im Kontext, anderes bleibt ungeklärt. Wenig technikaffine Menschen werden wahrscheinlich ihre Schwierigkeiten haben (aber lesen wenig technikaffine Menschen Cyberpunk?). Gibson stellt zahlreiche Dualismen gegenüber: Mensch versus Maschine, Körperlichkeit versus Entkörperlichung, Realität versus Jenseitserfahrung im Cyberspace, Chaos versus Ordnung, Bewusstsein (Neuromancer) versus Programmierung (Wintermute). Was auf den ersten Blick oberflächlich wirkt, hat doch gar nicht so wenig Tiefe – ist aber auch nicht bitterernst zu nehmen.
Metaphysische Symbolik nutzt Gibson für seine Geschichte permanent; in der Figur des Neuromancer wird das Metaphysische schließlich manifest. Traum, Nahtoderfahrung und virtuelle Realität überlagern sich, verschmelzen, werden eins. Nicht immer leicht zu schlucken für reine Realisten wie mich. Etwas nebulös bleiben zudem Sinn und Zweck der ganzen Show, nur reichlich abstrakt wird beschrieben, was der ganze Aufwand eigentlich soll. So ideenreich die Geschichte daher auch ist, ein wenig unbefriedigend finde ich sie auch nach zweiter Lektüre (und nach der Lektüre von bergeweise Sekundärliteratur ) immer noch.
Fazit:
Gibson hat mit seiner Version des Cyberspace nicht nur zahlreiche andere Autoren inspiriert und ein literarisches Subgenre, den Cyberpunk, kreiert (wenn auch Gibson selbst mit dem Label nichts anfangen kann), sondern auch Computerentwicklern und Programmierern als Vorbild gedient. Das kann man mit Fug und Recht als bahnbrechend bezeichnen. Unterhaltsam ist seine Zukunftsversion außerdem; allerdings muss man damit leben, dass vieles recht abstrakt und manchmal ein wenig unverständlich bleibt. Nicht ganz so prophetisch wie George Orwell, nicht so viel Tiefgang wie einige Romanen von Philip K. Dick, aus heutiger Sicht vielleicht ein winziges bisschen antiquiert - aber wegweisend.