Anthony Marra - Die niedrigen Himmel/A Constellation of Vital Phenomena

  • Tschetschenien, die Zeit des zweiten Krieges. Marra erzählt die Geschichte der kleinen Hawah, einem achtjährigen Mädchen das aus seinem Versteck miterleben muss, wie sein Vater verschleppt und ihr Haus niedergebrannt wird. Achmed, ein Freund und Nachbar kümmert sich um sie und versucht sie im nächstgelegenen Krankenhaus unterzubringen, wo Sonja, eine im Ausland erfolgreiche Chirurgin und Deshi, eine Krankenschwester im Rentenalter, als Einzige den Betrieb aufrechterhalten. Nur mit Widerwillen nimmt Sonja Hawah auf und auch nur, wenn Achmed im Krankenhaus mithilft. Die nun folgenden fünf Tage stellen so etwas wie den roten Faden des Buches dar: wie Achmed in die Arbeit im Krankenhaus integriert wird, wo Hilfsmittel beschafft werden usw. Dennoch bildet dieser 'Faden' nur den Rahmen, aus dem die eigentlichen Geschichten hervorbrechen mit Rückblicken in die jüngste und längst vergangene Vorzeit sowie Ausblicken in die ferne und nahe Zukunft. Weshalb Sonja Ärztin wurde und trotz erfolgversprechender Aussichten im Ausland in ihre Heimat zurückkehrte. Wieso Achmed unter den schlechtesten 10% der Absolventen seines Jahrgangs war und was ihn mit Hawah verbindet. Warum Dokka, Hawahs Vater keine Finger mehr hat. Doch nicht nur die Hauptfiguren bekommen ihre Geschichte. Jede Person, auch wenn sie nur kurz erwähnt wird, erhält ein Leben im gestern, heute und morgen und so ist dieses Buch prall gefüllt mit Einzelschicksalen, die alle durch diese Kriege geprägt wurden.
    Dies mag für Manche/n zuviel des Guten sein, aber ich empfand dies als eine unglaublich eindringliche Art, die Grausamkeit eines Krieges vor Augen zu führen. Nicht nur eine Familie ist betroffen, nein, jede und jeder der einem über den Weg läuft, hat darunter zu leiden. Viele sterben, werden verwundet, auseinandergerissene Familien, zerstörte Existenzen - so viele Menschen, so viele Schicksale. Dazu Marras Sprache, ungeheuer bildhaft, poetisch und aussagekräftig: '...und man kann in der Erinnerung baden, versinken und ertrinken, aber halten können die Finger sie nicht.' Oder 'Eine Arbeit erhält nicht automatisch Sinn, bloß weil man sein Leben auf sie verwendet.' Dennoch werden die Menschen vergleichsweise nüchtern beschrieben, was mich jedoch nicht störte. Denn man erfährt so viele Details über sie, dass meine Phantasie sie ausreichend mit Emotionen versorgen konnte ;-)
    Das einzige Manko (sofern es überhaupt eines ist): Das Buch spielt in Tschetschenien, was jedoch durch die ungewöhnliche Detailgenauigkeit der vielen Leben nicht so im Vordergrund steht. Vermutlich hätte die Geschichte ebenso gut in Ruanda, Bosnien, Syrien oder anderen Kriegsgebieten angesiedelt sein können (mit entsprechenden Anpassungen) - die Quintessenz würde die gleiche bleiben. Nichts ist grausamer als Krieg und das Einzige, was einem die Kraft gibt, diesen zu überstehen, ist die Liebe.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • „Ihr ganzes Leben lang, schon bevor sie einander begegneten, trugen dein Vater und deine Mutter ihre Liebe zu dir in ihren Herzen, so wie die Eichel den Eichenbaum in sich trägt.“


    Tschetschenien. Als im Jahr 2004 Dokka nachts von Föderalen aus seinem Dorf verschleppt und auch noch sein Haus niedergebrannt wird, kann sich seine 8-jährige Tochter Hawah nur knapp retten und sucht beim Nachbarn Achmed Hilfe. Achmed bringt Hawah in die Stadt ins Krankenhaus, wo die beiden die Ärztin Sonja kennenlernen. Achmed bittet Sonja um ihre Hilfe, bis sich eine Unterbringungsmöglichkeit für Hawah gefunden hat, wo sie sicher ist. Als Gegenleistung hilft Achmed im Krankenhaus aus. Zwischen den dreien entwickelt sich langsam, aber stetig, eine Beziehung und Sonja, die anfänglich noch regelrecht widerwillig ihre Hilfe angeboten hatte, merkt nun, wie sehr ihr die kleine Hawah immer mehr ans Herz. wächst. In den schlimmen Kriegszeiten hält dieses Gefühl von Zuneigung, Liebe und Empathie die Menschen am Leben und gibt ihnen Hoffnung. Wird es ihnen gelingen, Hawah in eine sichere Welt zu geben und wie wird ihr eigenes Leben sich weiter entwickeln?


    Anthony Marra erzählt seinen Debütroman „Die niedrigen Himmel“ vor dem Hintergrund des Krieges in Tschetschenien. Der ausdrucksstarke Schreibstil ist flüssig und einfühlsam. Oft bedient sich der Autor auch einer sehr bildreichen Sprache, um dem Leser die Bedeutung dieser Sätze besonders ans Herz zu legen. Auch lässt er eine Spur von Sarkasmus und eine eigene Art von Humor nicht fehlen. Marra beschreibt das vom Krieg gebeutelte Land und die ständigen Kämpfe zwischen den Rebellen und den Föderalen. Vor dieser Kulisse entwickelt er die Geschichte seine Protagonisten, die jeder sein eigenes Schicksal aufgrund dieses Krieges haben und wie sich ihre jeweiligen Leben miteinander verbinden oder bereits verbunden sind. Über einen Zeitraum von 10 Jahren wird der Leser über die Ereignisse und die einzelnen Charaktere informiert, um am Ende wieder auf die Gegenwart zurückzukommen. Die Protagonisten sind so vielfältig wie dieser Roman. Jeder Charakter ist auf seine Weise besonders, und als Leser erfährt man das ganze Gefühlsbarometer von Liebe, Verrat, Empathie, Hoffnung und Verzweiflung, welches die Protagonisten umgibt, und kann sich selbst nicht von diesen Gefühlen beim Lesen frei machen.


    Marra hat ein sehr eindrucksvolles Debüt über ein doch sehr unbekanntes Land vorgelegt, das den Leser tief bewegt und nachdenklich zurück lässt. Von diesem Autor wird man noch einiges zu erwarten haben, hat er doch die eigene Messlatte mit „Die niedrigen Himmel“ sehr hoch gelegt. Dafür gibt es einen absolute Leseempfehlung.
    Dafür vergebe ich :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: .

    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten