Die Autorin:
Zadie Smith, geboren 1975 im Norden Londons, wo sie heute noch lebt. Ihr erster Roman Zähne zeigen, 2001 erschienen, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, von der Kritik gelobt und ein internationaler Bestseller. Der Roman Von der Schönheit, 2006 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, war auf der Shortlist des Man Booker Prize 2005 und gewann 2006 den Orange Prize for Fiction. (amazon.de)
Klappentext:
Leah, Natalie, Felix und Nathan wachsen in einer Hochhaussiedlung auf, wie es sie in jeder Großstadt gibt – immer das Ziel vor Augen, Caldwell eines Tages zu verlassen und etwas Größeres, Besseres aus ihrem Leben zu machen. Dreißig Jahre später sind sie zwar erwachsen, doch richtig weit gekommen sind sie nicht. Nur Natalie hat es scheinbar geschafft. Als erfolgreiche Anwältin gibt sie mit ihrem Mann vornehme Dinnerpartys, auf denen sich ihre weit weniger zielstrebige Freundin Leah und deren Mann Michel alles andere als wohlfühlen. Überhaupt sind Natalie und Leah blind für die Probleme der jeweils anderen und neiden einander das vermeintlich perfekte Leben. Als eine Fremde an Leahs Tür klingelt, um sie um Hilfe zu bitten, überschlagen sich die Ereignisse …
Zadie Smiths Roman über North West London, das jenseits der Touristenströme liegt, ist ein sehr heutiger, schneller, eindringlicher Text über einen multikulturellen Stadtteil und die Schicksale seiner Bewohner. Das Buch wurde von der New York Times zu einem der »zehn besten Bücher des Jahres« gewählt.
Inhalt:
Leah und Natalie sind in Kilburn aufgewachsen, im Nordwesten Londons. Sie kommen beide aus Familien, die ein Außenstehender vielleicht als “sozial schwierig” einstufen würde, sie haben gekämpft für das, was sie heute haben. Leah ist Sozialarbeiterin, Natalie sogar eine erfolgreiche Anwältin. Beide haben die Sozialwohnungen in Kilburn eigentlich hinter sich gelassen – vor allem Natalie hat, zumindest nach außen hin – den sozialen Aufstieg geschafft und ist ein ganz neuer Mensch geworden. Doch stimmt das wirklich? Hinter der Fassade der glücklichen Ehefrau und Mutter und der erfolgreichen Anwältin ist Natalie eigentlich immer noch ein Mädchen aus Kilburn, eine junge Frau, die sich ihrer Familie gegenüber gleichzeitig irgendwie schuldig und überlegen fühlt und die immer noch das Gefühl hat, den Erwartungen ihrer Familie gerecht werden zu müssen.
Ähnlich geht es auch Leah, die mit Michel verheiratet ist, im Gegensatz zu ihm aber keine Kinder möchte. Doch kann sie ihm das wirklich sagen? Man erwartet doch von ihr, Mutter zu werden, die Mutterrolle zu leben. Warum nur sträubt sich alles in ihr so dagegen?
Natalie und Leah sind Freundinnen, auch wenn sie im Verlauf ihrer Leben ganz unterschiedliche Wege gehen, sich zum Teil fremd werden, in unterschiedlichen Welten zu leben scheinen. Doch wenn es darauf ankommt, dann sind und bleiben sie Freundinnen, die sich aufeinander verlassen können, zueinander stehen und die einander verstehen. Auch das scheint der bunte, multikulturelle, vibrierende, laute Nordwesten Londons zu tun – er schweißt Menschen zusammen, und das nicht nur aus familiären Gründen oder aus Schuldbewusstsein.
Meine Meinung
"NW” ist ein großartiges Buch, das durch und durch mit seinem Schauplatz verwachsen ist und das in keiner anderen Stadt spielen könnte. Es versetzt einen beim Lesen direkt nach London. Ich bin im Dezember das letzte Mal dort gewesen und habe zufällig in Kilburn gewohnt. Ich konnte in Smith’ Roman Straßen, Gebäude und Plätze wirklich wiedererkennen, und durch ihre Art des Erzählens schafft sie es, dass man das Gefühl hat, auch die Gerüche und die Geräusche des Londoner Nordwestens wahrnehmen zu können. Wenn britische Zeitungen schreiben, dies sei die Geschichte ihrer Stadt, kann man ihnen genau nachfühlen, was sie damit meinen.
Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, die ganz unterschiedlich aufgebaut sind und die zum Teil auch verschiedene Geschichten erzählen, bis im letzten Teil dann alle Stränge zusammenlaufen. Es gibt zwar zwischendurch immer wieder Verweise auf Personen oder Begebenheiten, die in anderen Teilen des Romans wichtig werden, aber erstmal stehen sie – auch erzählerisch – für sich. Dass sich sowohl der Erzählstil als zum Beispiel auch der Zeitraum, über den berichtet wird, von Abschnitt zu Abschnitt ändert, macht auch eine Faszination aus, der man sich beim Lesen schwer entziehen kann.
nwFür mich war Natalie die interessanteste Figur, auch wenn auch Leah, die Partner der beiden Frauen, ihre Familien und nicht zuletzt Felix, der einen kleinen aber traurigen Part in diesem Roman spielt, auch faszinierend waren. Natalie, die es trotz ihrer familiären Verhältnisse zumindest nach außen hin schafft, sozial aufzusteigen, die aber in ihrem neuen Leben lange nicht so glücklich ist, wie man es erwarten könnte, habe ich dennoch am liebsten begleitet. Es ist schwer, sie wirklich zu verstehen, vielleicht sogar unmöglich, aber gerade das war so spannend an ihr.
Ich musste mich ein bisschen einlesen in “NW”, sich an Smith’ wechselnde erzählerische Techniken gewöhnen, den “Slang” der Kilburner aufnehmen und durch das ein oder andere Kapitel kommen, das als stream-of-consciousness erzählt wird, bis ich das Gefühl hatte, dass ich wirklich in dem Roman angekommen war. Doch der Puls der Geschichte, das bunte London abseits der Touristenattraktionen und die faszinierenden Menschen, die die Metropole zu bieten hat, holen einen schnell ein.
This is London. Was Charles Dickens fürs viktorianische London getan hat, tut Smith hier für London heute. Amazing.