Jocelyne Saucier - Ein Leben mehr / Il pleuvait des oiseaux

  • Original : Französisch (Quebec/Canada, 2011)


    INHALT :
    1996 : Eine Photographin ist unterwegs in den weiten Wäldern Kanadas und sucht Edward (oder auch Ted, Ed) Boychuck, einen der letzten Zeitzeugen der Großen Feuer der Jahre 1911-16. Zu spät : als sie in einer abgelegenen Gegend mit drei Baracken ankommt, war er gerade die Woche vorher hochbetagt gestorben. Die beiden anderen ebenfalls weit über achtzigjährigen Waldkäuze Charles und Tom zeigen sich eher unbeeindruckt vom Tode ihres Kumpels, machen über den Tod eher ihre Witze, empfinden sichtbar das Erscheinen der namenlos bleibenden Photographin als Störung. Was ist hier aber wirklich passiert ? Was hat sie hierher geführt ?
    Später taucht auch noch eine alte Dame auf, die Tante eines Mittelmannes zwischen Außenwelt und der Waldsiedlung. Die beiden Frauen bringen die alten Regeln und die Waldgemeinschaft durcheinander. Und eine (?) Liebesgeschichte der besonderen Art entsteht


    GLIEDERUNG
    Die verschiedenen Kapitel werden – in meiner französischen Ausgabe – eingeführt durch so was wie panoramahafte, kursiv gedruckte Überblicke. Die ersten drei Abschnitte werden in der Ich-Erzählung von drei verschiedenen Akteuren die Handlung und ihre Sicht der Dinge, ihr Kennen der « Alten », erzählt : die Photographin, dann zweie der Mittelsmänner (Bruno und Steve), die Brückenfunktion zur Außenwelt haben. Im Anschluß dann ein allwissender Ich-Erzähler, der in verschiedenen Etappen, teils chronologisch, teils in der Rückschau, Elemente preisgibt.


    BEMERKUNGEN :
    1996 ist Tom 86 und Charles schon 89. Mit Ed waren sie mehr oder weniger lang in dieser Abgeschiedenheit und da muss schon was dahinterstecken. Ed war wohl der erste gewesen : er hatte - was öfter als eins der Zentralmotive wiederkommt – das große Feuer von Matheson 1916 überlebt, zog sich viel später hier zurück und arbeitete monatelang an seinen Bildern.
    Was ist wohl bei ihnen allen passiert ? Woher das anfängliche Mißtrauen gegenüber der Neuen ? Die Story gibt es nach und nach preis. Und führt uns, meines Erachtens oft auf leicht falsche Fährten. Darin ähnelt es nahezu einem Thriller, denn anfangs liegt fast was Dunkles, Unheimliches in der Luft.


    Doch im Laufe der Geschichte - insbesondere durch das Eintreffen und der Seßhaftigkeitwerdung von Gertrude, die über 60 Jahre in einem « Irrenhaus » interniert worden war und nun auf der Flucht ist - werden die ganzen Gewohnheiten dieser Männer durcheinandergeworfen, andere Gefühle geweckt und Leben in die Bude gebracht. Immer wieder geht es in dieser Geschichte um Freiheit. Wovon ? Wofür ? Und um das Altern, die Würde und den Tod...


    Manche Andeutung falscher Pisten führte mich in die Irre und ließ mich fragend zurück, als ob kleine Ecken und Widerhaken eingebaut worden wären und die Autorin sich von verschiedenen Genres versuchen läßt? Aber geschieht vielleicht ganz recht ! Ein guter Roman, eine zarte Liebesgeschichte, aber auch ein Zeitzeugnis über die Schrecken der Großen Feuer, die zwischen 1911 und 1916 weite Teile des Nordens von Ontario zerstört hatten. Und so manche Überlegung über das Altern...


    Sicherlich ein gutes Buch für viele Büchertreffler! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    AUTORIN :
    Jocelyne Saucier ist eine kanadische Schriftstellerin französischer Sprache. Sie wurde 1948 in Clair/Nouveau-Brunswick geboren und studierte zunächst Politikwissenschaften an der Universität Laval. Danach schlug sie eine Laufbahn als Journalistin ein und veröffentlichte seit 1996 vier Romane, die alle in Quebec angesiedelt sind. Allein der hier vorgestellte Roman erhielt ua folgende Auszeichnungen : Prix des cinq continents de la francophonie, Prix littéraire des collégiens, Prix France-Québec und den Prix Ringuet.


    Zahlreiche weitere Auszeichnungen.


    Détails sur le produit
    Broché: 208 pages
    Editeur : Denoël (22 août 2013)
    Collection : Romans français
    Langue : Français
    ISBN-10: 2207116107
    ISBN-13: 978-2207116104

  • Das Original erschien auf Französisch, doch für manche ist sicher Englisch zugänglicher :


    Produktinformation
    Taschenbuch: 157 Seiten
    Verlag: Coach House Books (30. April 2013)
    Sprache: Englisch
    ISBN-10: 1552452689
    ISBN-13: 978-1552452684

  • Sicherlich ein gutes Buch für viele Büchertreffler! :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    Das Buch ist mal gleich auf meiner Wunschliste gelandet, das hört sich sehr, sehr interessant an. :) Danke für Deine Rezension… über die Brände in Kanada muss ich mich wohl erst mal kundig machen, davon hab ich noch nie gehört ?(

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Das Buch ist mal gleich auf meiner Wunschliste gelandet, das hört sich sehr, sehr interessant an. :) Danke für Deine Rezension… über die Brände in Kanada muss ich mich wohl erst mal kundig machen, davon hab ich noch nie gehört ?(


    Das Buch wird Dir wahrscheinlich gefallen! :thumleft: Du findest innerhalb des Buches einige sehr erhellende und auch erschreckende Infos zu den Bränden. Allein der Titel ist schreckenerregend (obwohl er irgendwie poetisch klingt). Auf Deutsch wäre es so etwas wie: Es regnete Vögel...


    Falls Du Dich noch im Vorfelde kundig machen willst, schaue zB hier:


    http://en.wikipedia.org/wiki/Great_Porcupine_Fire
    und
    http://en.wikipedia.org/wiki/Matheson_Fire (auf Englisch)

  • Gute Nachricht! Ich sah gerade, dass dieses Buch tatsächlich im August auf Deutsch erschienen ist, allerdings unter ganz anderem Titel:
    "Ein Leben mehr". Es kann wirklich sein, dass der französische Originaltitel Assoziationen an die Großbrände ausgebombter deutscher Städte erinnert hätte???


    "Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneiges auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von achtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, entsteht etwas unter diesen Menschen, das niemand für möglich gehalten hätte. Ein Leben mehr ist ein wundersam beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: traurig und schön."


    Vielleicht kann ein Mod nun den Fredtitel durch den deutschen erweitern?

  • Da hatte ich mal gedacht ein Buch vor dir zu lesen und wenigstens einmal in meinem bescheidenen Leserleben dir mal eine tolle Empfehlung geben zu können. Pustekuchen, der gute @tom leo hatte das Buch schon gelesen. Hätte ich mal da gesucht #-o


    Egal, ich bin gerade dabei das Buch zu lesen und kann -bis jetzt- deine Begeisterung teilen. :D

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Es kann wirklich sein, dass der französische Originaltitel Assoziationen an die Großbrände ausgebombter deutscher Städte erinnert hätte???

    Meinst du? Ich weiß nicht. Daran hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht. Ich finde eher, dass der Titel "Es regnet Vögel" irgendwie nicht so gut rüberkommt wie "Ein Leben mehr". Und auch dazu gibt es passende Zusammenhänge im Buch. Den einen Satz finde ich gerade nicht auf die Schnelle, aber den hier: "Sieht ganz so aus, als hättest du ein drittes Leben geschenkt bekommen."
    Manchmal muss ich mich wirklich über die Titelwahl bei Übersetzungen wundern, aber diesmal fand ich es für mich stimmig. Und dazu noch dieses wunderschöne Cover!

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  • Da hatte ich mal gedacht ein Buch vor dir zu lesen und wenigstens einmal in meinem bescheidenen Leserleben dir mal eine tolle Empfehlung geben zu können. Pustekuchen, der gute @tom leo hatte das Buch schon gelesen. Hätte ich mal da gesucht #-o


    Egal, ich bin gerade dabei das Buch zu lesen und kann -bis jetzt- deine Begeisterung teilen. :D

    Und ich entdeckte auch dank Deines Kommentars im "Zitate, Sätze..."-Fred, dass dieses Buch nun auf Deutsch erschienen war. Ich bildete mir schon stolz ein, dass Du eventuell den Beitrag oben früher gelesen und Dir die Autorin notiert hattest. Aber verschiedene Wege führen nach Rom...

    Meinst du? Ich weiß nicht. Daran hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht. Ich finde eher, dass der Titel "Es regnet Vögel" irgendwie nicht so gut rüberkommt wie "Ein Leben mehr". Und auch dazu gibt es passende Zusammenhänge im Buch. Den einen Satz finde ich gerade nicht auf die Schnelle, aber den hier: "Sieht ganz so aus, als hättest du ein drittes Leben geschenkt bekommen." Manchmal muss ich mich wirklich über die Titelwahl bei Übersetzungen wundern, aber diesmal fand ich es für mich stimmig. Und dazu noch dieses wunderschöne Cover!

    Es ist halt der Originaltitel und verweist auf die Großbrände in Kanada. Doch diesen Ausdruck von den "regnenden Vögeln" habe ich tatsächlich in einem Roman gefunden. Nun erinnere ich mich nicht mehr genau, was es war..., doch in Dresden und Hamburg war das tatsächlich bei den Flächenbränden ungeheuren Ausmasses infolge der Bombardierungen der Fall.
    Es handelte sich bei dem Buch, glaube ich, um eine Schilderung eines Ornithologen in Dresden? Müsste nach dem Titel suchen...

  • Aber verschiedene Wege führen nach Rom...

    Genau :thumleft:



    Doch diesen Ausdruck von den "regnenden Vögeln" habe ich tatsächlich in einem Roman gefunden. Nun erinnere ich mich nicht mehr genau, was es war..., doch in Dresden und Hamburg war das tatsächlich bei den Flächenbränden ungeheuren Ausmasses infolge der Bombardierungen der Fall.
    Es handelte sich bei dem Buch, glaube ich, um eine Schilderung eines Ornithologen in Dresden? Müsste nach dem Titel suchen...

    Da läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Wenn dir der Titel wieder einfallen sollte, sag bitte Bescheid!

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  • Da läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Wenn dir der Titel wieder einfallen sollte, sag bitte Bescheid!

    Yep: gefunden! Es handelt sich um Kaltenburg von Marcel Beyer! Siehe Rezi hier: Marcel Beyer - Kaltenburg und in den ersten Zeilen der Rezi von Dr Watson erzählt er genau von diesem Bild!!!

  • Gestern habe ich das Buch -leider- beendet.


    Da tom leo eine gute Einführung gebracht hatte, kann ich mir das ja sparen und direkt meine Meinung schreiben :)


    Es gibt Bücher, die fängt man an zu lesen und fühlt sich direkt wohl. Und so ging es mir mit diesem hier. Die Protagonisten waren so liebevoll gezeichnet, so skurril, so weit entfernt was man gerne als gut bürgerlich bezeichnet. Schon alleine das hatte mir gut gefallen. Ich mag einfach Typen die aus der Norm fallen. Eindrücklichst wurde auch über die großen Brände zwischen 1911 und 1916 berichtet.
    Wunderschön beschrieben war die Liebesgeschichte. Ich spoiler mal:


    Interessant auch ein weiteres Detail (auch hier spoiler ich vorsichtshalber):


    Ein tolles Buch über das Alter(n), über die Liebe, über das "eigene Leben" zu führen und über den Tod. Vielleicht nicht in aller epischster Breite dargestellt, aber schon alleine in dieser Form stösst es einiges zum nachdenken an.



    Manche Andeutung falscher Pisten führte mich in die Irre und ließ mich fragend zurück, als ob kleine Ecken und Widerhaken eingebaut worden wären und die Autorin sich von verschiedenen Genres versuchen läßt? Aber geschieht vielleicht ganz recht !

    Darf ich fragen wie du das meinst? Ich weiß gerade nicht, ob ich dich da richtig verstehe, ob du das in Richtung Thriller meinst?

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  • Darf ich fragen wie du das meinst? Ich weiß gerade nicht, ob ich dich da richtig verstehe, ob du das in Richtung Thriller meinst?

    Es fällt mir etwas schwer, mich genau daran zu erinnern, was ich damals gemeint hatte, aber Deine Bemerkung geht wohl in die Richtung, die ich meinte: als ob sich die Autorin von Merkmalen verschiedener Genres hat leiten lassen. Ich hätte dieses Buch - allein wegen dem französischen Originaltitel, oder eventuell einfach aus der Tatsache heraus, dass ich ein Mann bin??? - zum Beispiel niemals als reinen Liebesroman eingeordnet. Da werden - wie Du es auch erwähnst - andere gesellschaftliche Themen angedeutet, und es gibt auch einen Touch "Thriller" am Anfang, wo die Türen wie offenstehen, und der Leser (wenn ich richtig erinnere) gar nicht genau weiß, worauf es hinauslaufen wird. Durch die Rückbindung an historische tatsächliche Ereignisse gibt es auch einen "objektiven" Aspekt.

  • Ich habe das Buch gestern beendet. Meine Erwartungen waren wohl zu hoch, ich bin ziemlich enttäuscht :-? Das Buch ist wirklich wunderschön geschrieben. Die Figuren sind alle vom Leben gebeutelt und bauen sich eine neue Existenz in den Wäldern auf. Das Raue aber auch die Ruhe der Natur spiegelt sich in ihnen wieder. Für solche Charaktere hatte ich schon immer eine Schwäche :love:


    Dann taucht Marie-Desneiges auf und bringt die eingeschworene Gemeinschaft gehörig durcheinander. Und genau ab diesem Zeitpunkt geht es für mich mit der Geschichte bergab. Dann geht es wirklich mehr in Richtung Liebesgeschichte. Sie kriegt ein Häuschen mit allem, was sie sich wünschen kann und natürlich ist es sie, die Boychucks Werdegang entschlüsselt und natürlich ist sie es, die Boychucks Charakter erkennt.


    Mein Ärger gilt nicht der Person an sich, sondern eher der Rolle, die ihr zugedacht wurde. Ein bisschen sehr utopisch angelegt und somit für mich leider etwas realitätsfern.


    Ich habe auch nicht verstanden, warum


    Fazit:
    Ein starker Anfang, dann nimmt die Geschichte eine Wendung und meine Faszination bricht ein :cry: Leider nur :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Ich bin gerade wieder sehr fasziniert wie unterschiedlich Literatur wahrgenommen werden kann. Bitte nicht mißverstehen, dass meine ich durch und durch positiv!


    Marie-Desneige fand ich als Protagonistin in dem Roman ziemlich stimmig.


    Aber deine 3 Sterne-Bewertung fand ich doch noch nicht einmal so schlecht!


    Zum Spoiler:

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  • Meine Meinung:


    Das Leben, das Altern und der Tod


    Jocelyne Saucier erzählt hier von ganz eigenen/alten Menschen, die sich im Wald versteckt/sich zurückgezogen haben, um dort, abseits der Zivilisation, ihren Lebensabend zu verbringen. Die Rede ist von Charlie, Tom und es gab auch noch einen dritten Alten, Boychuck, aber der ist vor kurzem gestorben ...
    Wer sich nun fragt, wie man als über 90-Jähriger in einer Waldhütte auf Dauer überleben kann: es ist nämlich so, dass die Männer von jüngeren Freunden, die dubiose Geschäfte führen, Hilfe in Form von allem möglichen materiellen Zeug erhalten.


    ~ "Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt." ~
    (S. 7)


    Aber wer glaubt, dass das wohl nur eine ziemlich langweilige Geschichte über alte Männer, die im Wald auf ihr Ableben warten, ist, der irrt. Einer der Freunde bringt nämlich schon bald seine Tante, die alte Dame, oder Marie-Desneige, wie sie schon bald genannt wird, mit in den Wald. Die alte Dame hat eine ein wenig traurige Lebensgeschichte hinter sich und je mehr man von ihr erfährt und man mitbekommt, wie sie im Wald und allen voran bei Charlie, aufblüht, desto mehr wünscht man sich, man hätte sie schon eher aus der Zivilisation in die wilde Natur, zu den Alten gebracht.
    Und dann gibt es da noch die Fotografin, eine plötzlich auftauchende, jüngere Besucherin, die sich erstens für alte Menschen, von denen sie Fotos schießen kann und zweitens für den toten Boychuck, der der letzte Überlebende vom großen Brand in Matheson gewesen sein soll, interessiert.


    ~ Die beiden Einsiedler waren ganz besondere Exemplare in ihrer Sammlung alter Leute. ~
    (S. 86)


    Aber dass die Fotografin gar nicht mehr gehen will bzw. immer wieder kommt, damit hat niemand gerechnet. Ich auch nicht. Aber nicht, weil ich die Idee, in einer Hütte im Wald zu leben, schrecklich finde, sondern eher, weil diese alten Menschen in den Wald gegangen sind um dort ihr restliches Leben bis zu ihrem Tod zu genießen und die Fotografin da eben irgendwie ... nicht reinpasst.


    Marie-Desneige ist ein ganz besonderer Charakter. Als zartes, zerbrechliches Vögelchen wird sie von der Autorin dargestellt und es war sehr schön, zu lesen, dass für sie nun, bei Charlie im Wald, ihr Leben erst richtig beginnt ...


    ~ Keiner von uns will sterben, fügte Charlie hastig hinzu, aber es hat auch niemand Lust auf ein Leben, das einem nicht mehr gehört. ~
    (S. 106)


    Auch die Liebe bekommt in diesem Buch noch ihren Platz, sie muss erst vielleicht noch ein bisschen warten, aber dann, dann kommt sie, zeigt den Charakteren, wie es mit ihr sein kann und lässt ein Gefühl zurück, das sich anfühlt, als hätte man ein Leben mehr ...


    4 :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: !

  • Ein sehr schönes Werk!


    Einsiedlerisch leben drei alte Männer in den nordkanadischen Wäldern. Morgens essen sie Bratkartoffeln mit Speck, sie reden über den Tod, um ihn fern zu halten und leben ihre Freiheit. Sie möchten über ihr Leben – und über dessen Ende – selber bestimmen können. Versorgt werden sie von Bruno und Steve, die beide die Freiheit und das Verbotene lieben. Sie bringen den Alten regelmäßig Dinge, die sie brauchen, das Geld dafür nehmen sie aus dubiosen Geschäften.
    Tom, der jüngste der drei, hat struppiges Haar und einen massigen Körper und einen Blick, der sagt, dass er die Welt kennt und mehr als genug von ihr gesehen hat. Ihm wurde, genauso wie Charlie, ein zweites Leben geschenkt, als sie in die Wälder kamen. Am meisten zu erzählen gehabt, als eine neugierige Fotografin nördlich des 41. Breitengrades auftaucht und Fragen stellt, hätte Ted. Ted, damals unter dem Namen Boychuck bekannt, floh vor seinen Dämonen in den Wald, so heißt es. Er war einer der letzten Überlebenden des Großen Brandes von Matheson 1916. Die große und kräftige Fotografin interessiert sich für die Großen Brände und egal wen sie deswegen trifft, jeder erwähnt Boychuck.
    Doch, so erfährt die junge Fotografin, ist Ted kürzlich verstorben. Aber auch eine zweite Person stößt zu der kleinen Gemeinschaft am See: Eine 82jährige geheimnisvolle Dame namens Marie-Desneige.
    Während die Fotografin immer mehr Informationen rund um die Großen Brände sammelt und die alte Dame in der Gesellschaft der Einsiedler aufblüht und das erste Mal zu leben beginnt, verändern sich auch Charlie und Tom. Ihre einst so lockere und selbstbestimmte Art mit dem Tod umzugehen wird anders, und nach langer Zeit weichen die langen kalten Wintertage im Norden dem Erblühen von Liebe und Freiheit.


    Mir hat “Ein Leben mehr” sehr gefallen. Zum Einen sind die Charaktere äußerst interessant und derart realistisch gezeichnet, dass man sich die kleine Gemeinschaft irgendwo tief in den kanadischen Wäldern sehr gut vorzustellen vermag. Da wären zum Beispiel die alten Einsiedler, jeder auf seine Weise vor irgendetwas geflohen – die einen vor dem Tod, die anderen vor den Dämonen der Vergangenheit – leben sie zusammen und doch jeder für sich. Sie leben in und mit der Natur, fernab der Zivilisation. Oder Marie-Desneige die, trotz ihrer 82 Jahre, zuvor noch nie gelebt hat und nun wie ein zerbrechlicher kleiner Vogel langsam das Fliegen wagt. Natürlich darf man auch die Fotografin nicht außer Acht lassen, von der jeder gedacht hätte, sie würde nicht wieder in den Wald zurückkehren, da Boychuck verstorben ist und alle eines besseren belehrt. Aber auch Steve und Bruno, die die Alten unterstützen und das Verbotene lieben, sind, obgleich man nicht so viel über sie erfährt, sehr faszinierende Personen.
    Zum Anderen ist es die Sprache die einen tiefen Eindruck hinterlässt. Mit großer Leichtigkeit erzählt die Autorin von der frischen Liebe, die in späten Jahren erblüht und mit ruhigem Ton beschreibt sie die Vergangenheit der Alten, lässt den Leser in die Ruhe des Waldes eintauchen, während ihre Sprache bei den Passagen zu den Großen Bränden, wie das Feuer selbst, zu lodern scheint.
    Man fühlt sich immer in das Geschehen gezogen, auch wenn man dennoch eine Gewisse Distanz verspürt.
    Die Perspektive des Buches wechselt von Kapitel zu Kapitel, sodass der Erzähler immer ein anderer ist und auch die Zeit wechselt. Eigentlich mag ich solche Sprünge überhaupt nicht, doch lockern sie hier die Geschichte auf, geben Antworten auf aufkommende Fragen oder führen den Leser kurz in eine falsche Richtung. Außerdem macht es das Buch noch spannender.
    Des weiteren ist die Thematik der Großen Brände zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr schön angesprochen. Das Ganze wird dem Leser informativ wie auch emotional nahegebracht.


    Ein ganz besonderes Buch, welches nahegeht und mit seiner bezaubernden Sprache eine stimmungsvolle Atmosphäre schafft. Auf 192 Seiten kommt man den Charakteren und ihrer Art frei zu sein und mit dem Tod umzugehen sehr nah. Eine klare Leseempfehlung von mir!


    “Die Flucht in eine andere Welt rettete uns das Leben.” (S.114, Z.1,f.)


    5/5 Sterne

  • Ich kann @bittersweetlight nur zustimmen. Das Buch ist eigentlich grandios geschrieben, mit stimmigen Charakteren. Es werden viele interessante Themen angeschnitten, wie Liebe im Alter, frei wählbarer Tod, die grossen Waldbrände, etc - aber spätestens mit dem Auftauchen von Marie-Desneiges sackte der Roman etwas ab. Schlecht ist er nicht, vielleicht lag es ebenfalls an meiner Erwartungshaltung, und die erste Hälfte der Geschichte fand ich rundum gelungen, aber irgendwann wurde es mir zu gefühlvoll und unrealistisch. Gertrudes Lebensgeschichte, Boychucks Wanderungen, die Liebesgeschichte mit dem Geschwisterpaar - das fand ich alles wenig interessant, ich hätte gerne entweder mehr über die Waldbrände gelesen, oder über die Einsiedelei der Männer. Die Liebesgeschichte und das wundersame Deuten der Gemälde konnte ich schwerer nachvollziehen...

  • Hallo,

    wir haben dieses Buch in unserem Literaturkreis gelesen.

    Mir hat es auch gut gefallen: eine schöne, poetische Geschichte; Charaktere, die man sich sofort vorstellen kann, die man gerne da oben in den Wäldern besuchen möchte; verschiedene Themen, die nicht gerade Mainstream sind, das alles zusammen macht den Zauber dieses Buches aus.

    Meine Kurzbeschreibung: drei alte Männer leben in den Wäldern von Kanada, plötzlich tauchen zwei sehr unterschiedliche Frauen auf und alles wird anders. :-,

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • Schade, dass man den Titel nicht irgendwie ins Deutsche übersetzt hat. "Ein Leben mehr" klingt so fade.

  • Es ist eine faszinierend schlichte, andere Welt, die die namenlos bleibende Fotografin betritt, als sie in die tiefen Wälder Ontarios reist, um dort einen Mann namens Boychuck zu finden, der als Jugendlicher die furchtbaren Waldbrände überlebt hat und, inzwischen hochbetagt, immer noch in der Gegend leben soll. Sie trifft auf zwei weitere alte Männer, Tom und Charlie die in simplen Hütten mitten im Wald leben und übernachtet in einem mehr oder minder verlassenen Luxushotel, das einst in der Hoffnung auf Erschließung der Region und größere Reichtümer eröffnet wurde und jetzt nur noch den schwachen Abglanz verblasster Träume widerspiegelt. Fasziniert von den alten Herren, lässt sie sich deren Lebensgeschichten erzählen, porträtiert die knorrigen Gesichter und bekommt hautnah mit, wie eines Tages Marie-Desneige auftaucht, kaum jünger als Tom und Charlie, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf eigenen Füßen stehen und etwas Neues anfangen will.


    Mit sparsamen, treffenden Worten entführt Jocelyne Saucier ihre Leser*innen in die urtümliche Umgebung der kanadischen Wälder und zeichnet die nicht immer schnurgeraden Lebenswege der kleinen Gemeinschaft nach, die sich dort zwischen Bäumen, Hütten, Angelschuppen und dem Fluss gebildet hat. Der stillen Schönheit der Natur in der Gegenwart stellt sie die eindrücklichen, aber nie voyeuristischen Bilder der grausamen Feuersbrünste gegenüber, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts dort mehrfach tobten, und die Legendenbildung, zu der es infolge der Brände kam: der blinde Junge, der tagelang umherirrte, die Mädchen auf dem Floß, die Kinder, die stundenlang im Fluss ausharrten und nur deshalb überlebten.


    Und auch über den Geschehnissen in der Gegenwart schwebt bei allem Realismus auch ein zart märchenhafter Hauch, insbesondere der zerbrechlichen Marie-Desneige haftet etwas Besonderes an, das bei stark auf dem Boden den Realität stehenden Leser*innen Fragen aufwerfen mag, aber gleichzeitig einen stillen Zauber ausübt, von dem man sich gerne erfassen lässt.


    Ein ungewöhnliches Buch, das mir sehr gut gefallen hat (bis auf die Szene mit



    Was den deutschen Titel angeht, muss ich meine Annahme von früher korrigieren. Er klingt zwar im Vergleich zum Originaltitel auf den ersten Blick etwas langweiliger, passt aber dennoch gut zu dem, was im Buch passiert.