Der Oktober ist Buchmessen-Zeit, jedes Jahr gibt es ein anderes Gastland und jedes Jahr werden in Vorbereitung auf die Buchmesse neue, lang vergessene oder bisher unbekannte Autoren des jeweiligen Gastlandes ausgegraben, wiederentdeckt, neuübersetzt und deren Bücher auf den deutschen Markt geworfen. Den Überblick kann man bei der Flut der jeweils erscheinenden Werke leicht verlieren, doch immer sind auch einige literarische Perlen dabei, die Einen jedes Jahr auf´s Neue der Buchmesse voller Spannung entgegenfiebern lassen.
2011 war Island das Gastland der Frankfurter Buchmesse und eines der außergewöhnlichsten Bücher aus der Menge der Neuerscheinungen war „Schwarze Vögel“ des 1975 verstorbenen isländischen Dichters Gunnar Gunnarson. Wie wir aus dem Nachwort erfahren, stammt der Roman selbst aus dem Jahre 1930 und wurde unter dem Titel „Schwarze Schwingen“ schon einmal ins Deutsche übersetzt. Aufgrund einer in das schriftstellerische Werk des Isländers Gunnarson hineininterpretierten Sympathie mit dem Nazi-Regime in Deutschland einerseits und einer Vereinnahmung Gunnarsons als „nordischer Erzähler“ durch die Nazis andererseits unterblieben nach 1945 bisher weitere Übertragungen oder Neuübersetzungen ins Deutsche.
Gottlob wurde zwischenzeitlich erkannt, daß die lange postulierte Sympathie Gunnarsons zum deutschen Faschismus jeder Grundlage entbehrt und auch die Literatur im Allgemeinen sich des Lobes von falscher Seite nicht immer erwehren kann. So dürfen wir heute diesen ungemein spannenden und beklemmenden Roman neu entdecken und hoffen, daß künftig weitere Bücher aus dem umfangreichen Werk Gunnarsons den Weg in den deutschsprachigen Raum finden.
Der Erzähler der 1804 an Islands rauher Westküste spielenden Handlung ist Eiúlfur Kolbeinsson, der junge Kaplan einer nur wenige Seelen zählenden Gemeinde am Fuße einer steilen Felswand. Das Leben an diesem Ende der Welt ist hart, denn die Winter sind lang und streng, die Sommer kurz und eine gute Ernte ungewiss. Die Menschen leben in Häusern aus Grassoden, sie sind arbeitssam, wortkarg und gottesfürchtig, denn Krankheiten und frühe Tode sind allgegenwärtig. Da kommt eines Tages der Bauer Bjarni von seinen abgeschieden liegenden Hof Sjöundá angeritten, in einem merkwürdig breiten und kurzen Sarg die Leichname seiner beiden Söhne und „Jungbauern“ und der Bitte, diese auf dem Gemeindefriedhof zu beerdigen. Für Eiúlfur ist dies ein Vorgeschmack auf die Menschenverluste, die noch kommen sollen und schon hier und jetzt beschleichen ihn böse Vorahnungen hinsichtlich der schicksalhaften Verstrickungen, mit denen er es noch zu tun bekommen wird.
Bjarni ist verheiratet mit Gudrun, einer hustenden, schwächlichen und ewig nörgelnden Frau, und nach dem Tode seiner Söhne sieht sich Bjarni gezwungen, eine Hälfte seines Anwesens zu verpachten. So kommen der griesgrämige Jón, seine Frau Steinúnn und deren Kinder auf den Hof und beide Bauernpaare richten sich gemeinsam in der Einöde ein. Doch schon bald darauf ist Jón verschwunden, angeblich von den Raudúskridur, einer Reihe von Steilklippen, ins Meer gestürzt. Als dann wenig später auch Gudrun, die Frau von Bjarni, an ihrem alten Hustenleiden verstirbt, beginnt im Dorf das Getuschel und Gerede über Bjarni und Steinúnn, die nun allein und in „wilder Ehe“ mit der Schar ihrer beider Kinder auf Sjöunda in Sünde leben. Haben die beiden gemeinsam ihre unliebsamen Ehepartner umgebracht, um sich einander annähern zu können?
Der Verdacht wird zur Vorverurteilung, als im Frühjahr der halb verweste Leichnam von Jón an das Ufer gespült und zur provisorischen Aufbewahrung in die Kirche gebracht wird. Natürlich ist kein Arzt oder Kriminalbeamter zugegen, denn die Passhöhen sind noch verschneit und der nächste Ort damit unerreichbar: So finden sich deshalb der Kaplan Eiúlfur Kolbeinsson und einige Bauern zu einer improvisierten und makabren Leichenschau in der eiskalten Kirche zusammen. Müßte Jon nicht sämtliche Knochen im Leib gebrochen haben nach seinem Sturz von den Klippen? Was bedeuten die Druckstellen und Verfärbungen am Brustkorb? Und ist das Loch im Hals, deren Tiefe die Anwesenden durch das Stochern mit einem Stock zu ermitteln suchen, die Folge eines Messerstiches? Obwohl niemand zu deuten vermag, was der Leichnam über die Todesursache auszusagen vermag, ist das Urteil über Bjarni und Steinúnn gefällt: sie werden gefangen genommen und der Gerichtsbarkeit des Landrichters Scheving überstellt.
In Scheving begegnen wir der stärksten Figur des Romans. Auch für ihn steht fest, daß Bjarni und Steinúnn schuldig sind, wenn vielleicht auch nicht am Ableben ihrer ehemaligen Ehepartner, so doch auf jeden Fall durch ihr unmoralisches Verhalten, denn beide gestehen schließlich, über lange Zeit ein Verhältnis miteinander gehabt zu haben. In dem sich anschließenden Prozess, dem Kaplan Eiúlfur als Protokollant beiwohnt, tut denn Scheving alles, um Bjarni und Steinúnn dem Scharfrichter zuzuführen und aus den Angeklagten ein Mordgeständnis herauszupressen: er setzt Zeugen unter Druck, manipuliert Verteidigung und Anklage, poltert und tobt in seinem Gerichtssaal. Doch trotz Einschüchterung, Beschimpfungen und Erniedrigungen ist weder Bjarni noch Steinúnn ein Geständnis zu entlocken. Auch finden sich Entlastungszeugen, die für die beiden sprechen. Doch ein Beweis für ihre Unschuld kann von niemandem erbracht werden.
Und Kaplan Eiúlfur Kolbeinsson ? Einerseits möchte dieser Partei ergreifen für seine beiden sündigen Schafe, deren Liebe füreinander niemals eine Chance gehabt hat und denen von Beginn des Prozesses an klar vor Augen steht, daß ihnen ihr Schicksal keinen anderen Ausweg als denjenigen auf den Richtblock weisen wird. Andererseits möchte er einstimmen in die Verdammung der beiden Angeklagten, in die Verurteilung ihres unmoralischen und schändlichen Tuns, auch für den Fall, daß ihnen der Mord an Gudrun und Jón nicht wird nachgewiesen werden können. So kommt es, daß sein Verhalten Bjarni gegenüber zwar durch Zuneigung, Fürsorge und ein starkes Mitgefühl geprägt wird, dessen einziges Ziel es jedoch ist, Bjarni durch das Ablegen des Mordgeständnisses dazu zu bringen, seine eigenen moralischen Grundvorstellungen wieder zurechtgerückt zu sehen und ihn durch seine Reue aus der ewigen Verdammnis zu erretten. Doch der Fall nimmt eine dramatische Wendung und Eiúlfur muß erkennen, daß seine einfache Sicht der Dinge nicht ausreicht, die Welt nach seinen moralischen Maßstäben zu bewerten.
„Schwarze Vögel“ ist ein Buch über eine unerfüllbare Liebe, über den schmalen Grat zwischen Schuld oder Unschuld und über eine verhängnisvolle Vorverurteilung von Menschen. Gunnar Gunnarsson hat den geschilderten Fall anhand von historischen Prozessakten aus dem Jahre 1802 in Kopenhagen recherchiert und damit den ersten Island-Krimi geschaffen. Dieser steht seinen modernen Nachfolgern in Sachen Spannung in nichts nach, im Gegenteil: die Figuren in ihrer ganzen Zerrissenheit und Schicksalsergebenheit sind ungleich interessanter und vielschichtiger, die Geschichte und Handlung aufgrund ihrer unklaren Täter-Opfer-Zuweisung um Einiges ambitionierter und literarisch hochwertiger als die Kriminalromane neueren Datums. Mein Fazit: großartig, deshalb unbedingt lesen !!