Wer als Leser die 1975 erschienene Erzählung „Montauk“ des Schweizers Max Frisch zur Hand nimmt, sollte in der Biographie des Schriftstellers schon ein wenig bewandert sein, will er verstehen, um wen oder was es hier geht. Soweit ich das bislang beurteilen kann, haben alle Werke Frischs zu großen Teilen einen autobiografischen Bezug, doch in keinem seiner Texte geht der Autor in der Verarbeitung seiner eigenen Biografie weiter, denn sowohl der Erzähler als auch die Hauptperson in „Montauk“ ist niemand anders als Frisch selbst.
Frisch ist zur Zeit der Entstehung von „Montauk“ 63 Jahre alt, hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere gescheiterte Beziehungen und Ehen hinter sich, darunter eine komplizierte Liaison zu seiner Schriftstellerkollegin Ingeborg Bachmann. Bereits im Jahr zuvor hatte Frisch auf einer Lesereise in den USA eine 30 Jahre jüngere Verlagsangestellte kennengelernt, mit ihr ein kurzes Liebesverhältnis begonnen und ein gemeinsames Wochenende in Montauk, einem Bade- und Erholungsort an der Ostspitze von Long Island verbracht, ehe er in der darauffolgenden Woche den Rückflug in die Schweiz anzutreten hatte. In dem Bewußtsein, daß dieses Liebesverhältnis wohl sein letztes sein würde, beschloss Frisch, dieses Wochenende rückblickend ohne fiktionale Zutaten zu beschreiben. Das Resultat ist eine schonungslos selbstentblößende und selbstbezichtigende, vielfach reumütige und autobiografisch unverhüllte Rückschau des alternden Schriftstellers auf sein bisheriges Leben.
Ausgehend von den Erlebnissen, Gesprächen und Empfindungen jenes Wochenendes im Mai 1974, an der Seite seiner Geliebten, welche im Buch den Namen Lynn trägt, beschreibt Frisch in assoziativen Rückblenden und Erinnerungen in vielen kurzen, aber auch einigen längeren Passagen seinen Anteil am Scheitern seiner ersten Ehe, seine starke emotionale Abhängigkeit und Eifersucht in Bezug auf Ingeborg Bachmann sowie seine Unfähigkeit, seiner Noch-Ehefrau trotz aller Zuneigung ein treuer, unterstützender Partner sein zu können. Frisch gesteht, seine jeweiligen Partnerinnen zu Schwangerschaftsabbrüchen gedrängt zu haben, ihnen untreu und insgesamt eine Zumutung gewesen zu sein.
Gerade die sich auf seine ehemaligen Partnerinnen beziehenden Passagen sind von einer fast intimen Offenheit und berühren den Leser auf eine beinahe peinliche Art. Wollen wir wirklich wissen, daß es bei Frisch bereits im Alter von 35 Jahren zu ersten Fällen von Impotenz gekommen ist ? Daß er aus Eifersucht heimlich die Briefe seiner Geliebten Ingeborg Bachmann gelesen hat ? Die Neugier und den Voyeurismus des Lesers, den der berühmte Max Frisch hier allzu großzügig bedient – will der Leser all dies wirklich im Detail lesen und entspricht die Schilderung all dessen wirklich dem Bedürfnis seines Urhebers, Bilanz zu ziehen über sein bisheriges Leben ? Oder ist es doch ein allzu eitles und auch ein wenig weinerliches Spiel mit der eigenen Biografie ?
Ebenfalls von biographischem Interesse, jedoch auf eine weit weniger kompromittierende Weise, sind diejenigen Textpassagen, in welchen Frisch von den Anfängen seiner Schriftstellerei berichtet, welche zeitlich zusammenfallen mit seiner Tätigkeit als freischaffender Architekt. Frisch erinnert sich an den Spagat zwischen der Arbeit im Architekturbüro und den Theaterproben in den Mittagspausen, den Manuskripten unter dem Zeichentisch. Und er erinnert sich an seine Kindheit, seinen Vater, seine Mutter, deren Todesstunde er trinkend mit einem Schriftstellerkollegen verbracht hat: Auch dies das Eingeständnis einer Schuld, eines nicht wieder gut zu machenden Versäumnisses.
Doch den weitaus größten Teil des Textes nehmen die Schilderungen des gemeinsam mit Lynn verbrachten Wochenendes ein, und gerade diese Passagen sind es, welche die ganze Wehmut, Traurigkeit und Zukunftsangst ihres Verfassers atmen und gerade deshalb die Größe dieses Textes ausmachen. Denn Frisch weiß, daß die neuentfachte Liebe und Zuneigung zu Lynn keine Zukunft haben kann, zu groß sind die Unterschiede in Bezug auf das Alter, die Lebenserfahrung, den Intellekt. Hinzu kommen die sprachlichen Barrieren. Nein, von vornherein ist beiden klar, daß die gemeinsame Zeit und damit ihr Liebesverhältnis auf dieses eine Wochenende beschränkt bleiben wird. Und Frisch, gezeichnet durch die Kämpfe, Irritationen und Auseinandersetzungen zurückliegender Beziehungen, begnügt sich darin, den Augenblick in sich aufzunehmen, sich Bilder einzuprägen, zu beobachten: das leuchtende Rot ihrer Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Fröhlichkeit, ihre Spontaneität, ihre Unbekümmertheit. Es wird seine letzte Liebe sein, und Frisch weiß es: „Eine wird die letzte Frau sein, und ich wünsche, es sei Lynn, wir werden einen leichten und guten Abschied haben.“
Es ist dieses Bewußtsein über die Endlichkeit dieser einen, letzten Liebe im Angesicht des heraufkommenden Alters und des von Ferne drohenden Todes, welches „Montauk“ diese eigentümliche Stimmung aus Melancholie, Traurigkeit und Angst verleiht. Zugleich ist „Montauk“ aber auch eine der schönsten und zartesten Schilderungen einer Liebesbeziehung überhaupt.
Bemerkenswert auch der Aufbau des Buches: Der Text ist wie eine Collage aus einzelnen Passagen zusammengesetzt, manchmal durch eine stichwortgebende Überschrift eingeleitet, oft auch durch Fragmente eines Dialoges. Frisch springt dabei zwischen den Erlebnissen auf Long Island und seinen Erinnerungen hin und her, letztere oft assoziativ ausgelöst durch eine Äußerung, einen Gegenstand, eine Beobachtung, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge. Die Erzählperspektive wechselt von einem Ich-Erzähler in der Rückschau auf Vergangenes hin in die 3. Person bei der Schilderung des Wochenendes in Montauk, oft in ein und demselben Satz. Dies, und die Tatsache, daß insbesondere die Partnerinnen und Ehefrauen, auf welche sich die rückblickenden Passagen beziehen, nicht namentlich genannt sind, macht die Lektüre bisweilen etwas mühsam, doch hat man sich schnell eingelesen und eine Übersicht über Frischs Biografie ist außerordentlich hilfreich bei der Entschlüsselung der Personen und ihrer Einordnung in einen chronologischen Zusammenhang.
Mein Fazit: Insgesamt ein wunderschönes, auch wohl sehr traurig und wehmütig stimmendes Buch über die Liebe, das Alter und den Tod. In Frischs Spätwerk ist dies der thematische Dreiklang und Montauk ist das entsprechende Hauptwerk dazu. Allerdings machen uns einige der ausgeplauderten Intimitäten noch immer betroffen und berühren auf unangenehme Weise, auch wenn viele der beschriebenen Personen schon längst nicht mehr am Leben sind. Es scheint, daß Frisch mit seiner literarischen Ambition einer größtmöglichen Offenheit doch an vielen Stellen zu weit gegangen ist und insbesondere seine Partnerinnen und Lebensgefährtinnen über Gebühr kompromittiert hat.