Peter Stamm - Nacht ist der Tag

  • Gillian erwacht im Krankenhaus. Es sind immer nur kurze verschwommene Phasen, die sie wahrnimmt. Als es ihr besser geht, erinnert sie sich langsam, aber bruchstückhaft. Matthias und Gillian hatten Streit, kurz bevor sie zu einer Silvesterfeier aufgebrochen sind. Es ging um Aktfotografien, die Gillian hat machen lassen. Matthias hatte den Film gefunden und die Bilder zum entwickeln gebracht.
    Bei dem Unfall war Matthias total betrunken, sie haben ein Reh gestreift. Dabei ist er ums Leben gekommen.
    Gillian hat schwere Verletzungen davon getragen. Ihr Gesicht muss größtenteils rekonstruirt werden.
    Als sie alle Operationen hinter sich hat, beschließt sie nicht mehr als Kulturmoderatorin vor der Kamera zu stehen und vorübergehend in Ferienhaus ihrer Eltern in die Berge zu ziehen.


    Hubert ist Künstler. Er hat einmal relativ erfolgreich Aktmodelle gezeichnet. Um Modelle zu finden hat er Frauen auf der Straße angesprochen, von denen er das Fotos gemacht hat. Er lernt Gillian bei einem Fernsehinterview kennen. Insgeheim fühlen sie sich voneinander angezogen. Doch seine Freundin Astrid erwartet ein Kind. Er gibt seinen Weg als freier Künstler auf und wird Kunstprofessor an einer Hochschule. Astrid trennt sich von ihm, er hat eine Affäre mit einer Studentin.
    Und dann wird er in ein Bergdorf eingeladen um selbst auszustellen.


    Dort treffen sich Jill, die sich ein neues Leben aufgebaut hat und Hubert wieder. Sie beginnen eine Beziehung und Jill glaubt, dass sie jetzt ein richtiges Leben gefunden hat. Aber als Hubert plötzlich wieder in dieStadt muss, um sich um seine Ex-Freundin zu kümmern, zweifelt sie an ihrer Beziehung und an sich selbst.


    Fazit:
    Peter Stamm hat einen dichten gefühlvollen Roman geschrieben.
    Er ist poetisch und fesselt den Leser. Mich hat vor allem die Zeit nach Gillians Unfall sehr gerührt. Sie ist gut beschrieben und man kann sie voll und ganz nachvollziehen. Sie ist viel mit sich beschäftigt und kann Michaels Tod lange einfach nicht begreifen, nicht wahrnehmen.
    Hubertss Charakter ist mit dahingegen etwas rätselhaft. Aber er ist eben Künstler und deswegen wirkt er auch ein wenig, wie von einem anderen Stern. Er ist sympathisch aber eigen. Als Leser bekommt man nicht heraus, was er eigentlich wirklich will!
    Ein bisschen seltsam finde ich auch die Beziehung zwischen Gillian und Matthias. Man kann sich davon kein Bild machen. Abrisse werden im Roman erzählt, aber die geschichte beginnt nach dem Unfall und die Beziehung ist sozusagen vorbei. Ich konnte keine Trauer in der Geschichte wahrnehmen.


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  • Der Klappentext verspricht: >>Mit leisen Worten und eindringlichen Bildern erzählt Peter Stamms neuer Roman von einer Frau, der das ganze Leben genommen wird, die aber doch am Leben bleiben muss – eine Tragödie, die zu einem Neuanfang wird.<<


    Und höchstwahrscheinlich hat diesmal der Autor so leise erzählt, dass man von der Eindringlichkeit nicht viel gemerkt hat. Die Tragödie wird gar nicht transportiert, eigentlich nur Lethargie, und diese dann auf allen Ebenen: Protagonistin, Handlung und Geschichte – leer.


    Gillian führt mit ihrem Mann keine gute Ehe, als er dann ihre Aktfotos findet, kommt es auf der Silvesterparty zum Streit, und später zum Unfall, wobei Michael stirbt und Gillian schwer verletzt wird.


    Der Roman beginnt dann in der Klinik, mit dem Erwachen und Realisieren was geschehen ist. Ihr fehlt das halbe Gesicht, und die Handlung beschränkt sich lange nur rein körperlich auf den Genesungsprozess. Danach wird eigentlich direkt die Perspektive gewechselt, Hubert schildert danach den Verlauf der Geschichte, der Aktfotograf. Erst ganz zum Schluss kommt wieder Gillians Sicht.


    Dadurch entwickelt das Buch keinen Sog, die Figuren bleiben nur schemenhaft, ihre Gefühle werden nicht transportiert – außer der Leere. Aber ein Buch der Leere liest sich nicht gerade gehaltvoll. Peter Stamm auf Abwegen!


    Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, u.a. in Paris und New York. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen vier weitere Romane, vier Erzählsammlungen und ein Band mit Theaterstücken. Zuletzt 2009 der Roman ›Sieben Jahre‹ und 2011 die Erzählungen ›Seerücken‹.

  • Nacht ist der Tag


    Nach der hier eingestellten Rezi, und meinem eher positivem Vorbehalt gegenüber Stamm, zumindest in den von mir sehr geschätzten Kurzgeschichtenanthologien, griff ich nach langem SUB-Aufenthalt endlich zu diesem Buch und erwartete das Beste ! Und 'ne Empfehlung von Denis Scheck gab's auch ! Na dann dar ich wohl nichts Negatives sagen?


    Nun, das Ganze las sich gut an : Mir gefiel die in sich schon verschwommene Beschreibung des Dämmerzustandes zwischen Wachen, Dösen und Halluzinieren der aufwachenden Gillian auf den allerersten Seiten. Da dachte ich schon, dass Stamm ohne Gefühlsduselei etwas empathischer geworden ist… Doch der distanzierte Ton war wie immer bei ihm schon da, doch die Beschreibung weckte anfangs bei mir schon Zustimmung. Doch dann missfiel mir später dieser distanzierte, nüchterne Ton immer mehr.


    Der Ausgangspunkt also : erfolgreiche Moderatorin muss oder müsste ihr Leben umkrempeln ?! Interesssant. Nicht nur Tragödie, meines Erachtens, sondern echte Chance. Aber…
    Der Klappentext geht meines Erachtens echt fehl. Zitat :


    Zitat

    Gillian ist eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin, sie ist eine schöne Frau,sie führt eine abgesicherte Beziehung mit Matthias, sie hat ihr Leben unter Kontrolle. Eines Nachts hat das Paar nach einem Streit einen Unfall, ihr Wagen rammt auf nasser Straße ein Reh. Matthias stirbt, sie erwacht im Krankenhaus. Mit einem zerstörten Gesicht. Erst langsam setzt sich ihr Leben wieder zusammen und eine Geschichte aus der Vergangenheit wird zu einer möglichen Zukunft.
    Eindringlich, mit leisen Worten und unausweichlichen Bildern erzählt Peter Stamms neuer großer Roman von einer Frau, die ihr Leben verliert, aber am Leben bleiben muss – eine Tragödie, die zu einem Neuanfang wird.


    Ist das nicht Quatsch ? Wird eigentlich nicht klar, dass diese Frau mit Bildern von sich selbst lebte (gut herausgefeilt von Stamm?!). Sich auf dieses « neue Gesicht einzulassen » erscheint fast als Möglichkeit die leeren Hüllen und Hülsen hinter sich zu lassen. Ja, eine Chance. Doch sie wird vertan, oder ? Den ganz grossen Neuanfang kann ich persönlich nicht entdecken, auch nicht am Ende des Stückes. Sie hat nicht nur ihren Matthias verloren, sondern im Prinzip ist ihr auch schon der Hubert dann egal. Von einer Leere zur anderen…. Das ist postmoderne Absurdität: ohne Auflehnung, ohne Sinn - eben Leere.


    Der Rückblick aus einer späteren Jetztzeit auf die Entstehungsgeschichte der Beziehung mit Hubert, dann der zweite Teil über Hubert, bzw aus seiner Sicht, sind beides in gewissem Sinne Zerfallsgeschichten. Darstellung, Bild hier, Realität dort. Nacktsein als sich zeigen wollen wie man ist, oder als Eingeständnis der Selbstentfremdung ? Darf ich sein wie ich bin, oder muss ich mich darstellen ?


    Es ist kein erbauliches Stück, und mich konnte nach einem verheissungsvollen Ausgangsthema das Ganze nicht begeistern. Eher im Gegenteil.


    Ich bleibe bei Stamm wohl eher bei seinen Erzählungen ! Denn die mag ich.

  • Der Rückzug in die Einsamkeit nach einer persönlichen Katastrophe – ein Klassiker für Romanschriftsteller. Da kann er alles hineinpacken, was er an Widerstand und Ergeben, an Auflehnung und Akzeptanz, an Abwehr und Demut in seinem Zettelkasten hat.


    Warum widmen sich Autoren immer wieder diesem anscheinend dankbaren Stoff? Der eine, der Mitfühlende, um seine Leser zum Weinen zu bringen. Der andere, der Realtäter, um seine Leser mit einem „Wenn mir dasselbe …“ zu erschrecken. Und der dritte, der Geschichten-Erzählen, um seiner Passion zu frönen.
    Mir ist übrigens der Geschichtenerzähler der liebste. Zu denen gehört Peter Stamm mit diesem Buch. Trotzdem: So richtig begeistern kann er mich nicht, im Gegenteil.


    Was passiert mit Gillian, nachdem ihr Mann tödlich verunglückt und sie selbst entstellt wurde? Sie wechselt die Schreibweise ihres Vornamens, den Wohnsitz und den Beruf. Das wars. So einfach kanns gehen, mit einem fürchterlichen Schicksalsschlag fertig zu werden.


    Das Feuilleton überschlägt sich vielfach. Begriffe wie „distanziert“, „spröde“ und „kühl“ werden als Lobeshymnen zweckentfremdet.
    Und der Leser? Findet keinen Zugang zu den Figuren. Weder zu Gillian noch zum armen Maler Heinrich, der seine Schaffenskrise zum Lebensprinzip aufbläht.



    @tom leo, verfolgen wir uns? :wink:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)




  • @tom leo, verfolgen wir uns? :wink:

    Öh, erstaunt Dich das??? Mich nicht so sehr... (aber Dich wohl auch nicht!). Die Suche kennt eben oft in eine ähnliche Richtung, und oft haben wir ähnliche Geschmäcker. Nicht immer.

  • Peter Stamm zur Entstehung des Buches


    Inhalt

    Matthias hatte Alkohol getrunken, bevor er den Unfall verursachte, der ihn das Leben kosten sollte. Seine Frau Gillian überlebt und erwacht schwer verletzt in einer fremden Umgebung, die durch den Rufknopf für die Krankenschwester begrenzt ist. Gillian muss aus den Satz- und Informationsfetzen um sie herum erst wieder eine Wirklichkeit zusammensetzen. Sie hat Schmerzen und als Folge ihrer Bewusstlosigkeit verwirrende Gedanken. Das Ausmaß ihrer Verletzungen und Matthias Tod erfasst sie zunächst noch nicht. Am Krankenbett wird deutlich, dass Gillian ein sehr schwieriges, kühles Verhältnis zu ihrer Mutter hat und dass im Leben beider Frauen die nach außen gezeigte Fassade zentrale Bedeutung hatte. Gillians Mutter war Stewardess, Gillian arbeitete zuletzt als Moderatorin einer Talkshow. Übergangslos wechselt die Geschichte in die Vergangenheit, als Gillian Kontakt zu einem Künstler suchte, der Frauen nackt malte und fotografierte. Die Beziehung zu Hubert könnte man als Auslöser der Ehekrise zwischen Gillian und Matthias sehen und damit als ursächlich für den tödlichen Unfall. Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren treffen wir Hubert wieder, inzwischen Ehemann, Vater und mitten in einer Schaffenskrise. Weil Hubert als Referent eines Sommerkurses und Artist in Residence in einen Ferienort im Gebirge eingeladen wird, kommt es zu einem Wiedersehen mit Gillian, die dort inzwischen arbeitet und im Ferienhaus ihrer Eltern lebt. Vermutlich als einziger Kontakt in Gillians Leben sah Hubert seit ihrer ersten Begegnung in einer Talkshow hinter Gillians Fassade. Nun ist es an Gillian, in Huberts Krise aufrichtig ihm gegenüber zu sein. Ob Gillian selbst eine vergleichbare Unterstützung erfahren hat, bleibt ungeklärt.


    Fazit

    Peter Stamms Hauptfiguren haben mich zunächst wenig interessiert, solange ihre Zugehörigkeit zum Kultur-Establishment im Mittelpunkt stand. Stamms Technik des nüchternen Reduzierens auf das unbedingt Nötige überspringt Gillians Entwicklung aus der persönlichen und beruflichen Krise und lässt nach dem entschiedenen Schnitt den Maler und sein Modell in einem völlig anderen Licht erscheinen. Der entscheidende Abschnitt des Buches fand in meinem Kopf statt. Als Fan von Peter Stamms Kurzgeschichten finde ich seinen kargen Stil in der Wirkung immer wieder verblüffend, wenn seine "schlanken" Texte lange nachklingen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow