J.R. Moehringer - Knapp am Herz vorbei/ Sutton

  • Inhalt (Cover):
    New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine Bücher ein und räumt die Zelle. Endlich Freiheit. Nach siebzehn Jahren. Mit einem Fotografen und einem Reporter fährt er durch das verschneite New York auf den Spuren seiner legendären Vergangenheit: seine zahlreichen, gewaltlosen Banküberfälle und immer wieder seine große Liebe Bess. Wie ein Puzzle setzt sich Seite für Seite Suttons Leben zusammen. Was dabei Wirklichkeit und was Erfindung war, werden wir nie erfahren. Aber was macht das schon.


    Autor:
    J.R.Moehringer führte mit seinem Buch "Tender Bar" weltweit monatelang die Bestsellerlisten an. Er wurde 1964 in New York geboren, studierte in Yale und war Reporter bei der "Los Angeles Times". 2000 gewann er den Pulitzer-Preis. Derzeit lebt er in Scottsdale, Arizona.


    Meine Meinung u. Bewertung:
    William Frances Sutton - in Amerika so etwas in der Art eines Volkshelden oder auch ein Robin Hood.
    Er schrieb zwei Biografien, die sich widersprachen - die Wahrheit kannte nur er.
    Er wurde als Sohn irischer Einwanderer geboren, hatte es nie leicht und kaum eine Chance. Warum er Banken ausraubte? Weil da das Geld lag. :lol:
    Verrat war für ihn die größte Sünde und selbst im Angesicht des Todes unvorstellbar. Wegen seiner Verkleidungskunst und seiner gekonnten Lügengeschichten wurde er auch "Willie the Actor" genannt. Er war der literarischste Kriminelle der amerikanischen Geschichte. Ein Tag ohne Buch war für ihn die Hölle, er liebte Klassiker. Damit verbrachte er den Großteil seiner Zeit, ging alle zwei Wochen ins Kino, alle sechs Wochen ins Theater, besuchte Fußballspiele, machte lange Ausflüge mit dem Auto und rauchte mit Genuß. Er soll über 200 Banken ausgeraubt haben, verbuddelte sein Geld in Gläsern und half manchem in Not.
    Er saß in den bekanntesten Gefängnissen der USA, unternahm spektakuläre Ausbrüche um dann endlich 1969 in die Freiheit entlassen zu werden. Bevor er die jedoch genießen konnte, hatte er versprochen mit einem Reporter und einem Fotografen die wichtigsten Stationen seines Lebens abzufahren. Vieles hatte sich verändern, einiges war nicht mehr vorhanden, aber in seinen Gedanken war alles wie früher. Gedanken, die er nur teilweise den beiden Mitfahrern mitteilte. Und immer bei ihm seine große Liebe Bess.
    Ein wunderbares Buch über einen interessanten Menschen. Ich kann die Faszination von Moehringer spüren, denn sie schwappt schnell zu mir rüber. Mitreißend, klug, fesselnd und auch romantisch bis zum verblüffendem Schluß. "Tender Bar" hat mir gefallen, die Sutton-Story hat mich elektrisiert. Wahrheit oder Fiktion, wen kümmert es - genial erzählt! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::thumleft::thumleft::thumleft:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • In Knapp am Herz vorbei geht es um Willie Sutton, einen amerikanischen Serienbankräuber, den es wirklich gab. Als er nach siebzehn Jahren als alter Mann aus dem Gefängnis entlassen
    wurde, gewährte er einem Reporter ein Interview. Der Artikel, der daraufhin erschien, war grottenschlecht.
    Da Sutton, der Reporter und der Fotograf nicht mehr unter uns weilen, hat Moehringer mit seinem Buch eine Vermutung geschrieben, was sich an jenem Tag abgespielt hat und wie Suttons vorangegangenes Leben aussah.
    Der Originaltitel ist übrigens Sutton. Warum man den wieder verhunzen muss.


    Tender Bar und Knapp am Herz vorbei sind bisher die einzigen Romane von Moehringer.


    Willie Sutton wird aus dem Knast entlassen. Ausgerüstet mit einem neuen Anzug und der Auflage, seinen ersten Tag einer Zeitung für ein Exklusivinterview zu widmen. Er ist über siebzig, hat ein krankes Bein und die Befürchtung, den ersten Tag in Freiheit nicht zu überleben. Er verbringt die erste freie Nacht im Plaza und macht sich dann mit Schreiber (der Reporter) und Knipser (der Fotograf) auf den Weg in seine Vergangenheit. Sie kutschieren ihn durch Brooklyn, der Stätte seiner Kindheit, seiner Jugend, seiner ersten und einzigen Liebe.
    Willies Eltern kamen vor vielen Jahren von Irland hierher. Der Vater ist Hufschmied. Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Aber er versäuft es wenigstens nicht. Seine Mutter wäscht und putzt den ganzen Tag, obwohl das sinnlos ist in dieser dreckigen Gegend. Seine Schwester ist jung gestorben. Gehirnhautentzündung? Sie wissen es nicht. Die Brüder verprügeln ihn in aller Regelmäßigkeit. Das geht solange, bis diese endlich einen Job bekommen bzw. eingezogen werden.


    Wir springen hin und her in der Zeit. Die drei Freunde - zu dem Trio gehören noch Happy und Eddie - merken schon früh, dass den Banken das Geld geört. Mit etwas Glück erhalten Eddie und Willie dort sogar einen Job. Doch nach gut einem halben Jahr ist es schon wieder vorbei. "Glück" haben die Jungens wieder während des Ersten Weltkriegs. Da macht Eddie auch seine ersten sexuellen Erfahrungen; mit einer Prostituierten.


    Und dann lernt er Bess kennen. Tochter aus reichem Hause. Sie verlieben sich, wollen heiraten. Aber da macht der Papa nicht mit. Und so büxen sie aus. Klauen die Lohngelder aus der väterlichen Werft und verschwinden. Aber Glück brachte es ihnen nicht. Bess wurde außer Landes gebracht und Willie bleibt unglücklich zurück. Ihn erwartet die Depression. Doch dann lernt er durch Eddie Doc kennen und sein Leben wandelt sich.


    Willie Sutton wurde nicht Bankräuber, weil es ihm Spaß machte oder weil er zu faul zum Arbeiten war. Ganz im Gegenteil: Er war permanent auf Jobsuche. Aber:


    Zitat von Moehringer

    Amerika ist ein großartiges Land für Gewinner, aber ein Höllenkeller für Verlierer.

    Mit Doc knackt er eine Bank nach der anderen. Doch nie wandte er Gewalt an. Seinen Anteil vergrub er in Gläsern in der ganzen Stadt. Eine halbe Million hat er wohl zusammen, als sie geschnappt werden. Während Doc singt wie eine Drossel, gibt Willie nichts zu. Und so wird er von den Cops halbtot geprügelt.
    Willie wird zu 50 Jahren Sing Sing verknackt, die er erst mal mit einem Ausbruch unterbricht. Doch draußen erwartet ihn das alte Problem. 13 Millionen Arbeitslose, jede Woche gehen zig Banken pleite. Aber es sind noch genug da, um sich mit Jugendfreund Eddie zusammenzutun, und sie auszurauben. Nach einem Jahr haben sie ihn wieder. Im Gefängnis kommt er in die Dunkelzelle.
    Verboten sind Besuche, Briefe, Radio. Und Bücher. Für ein Buch würde er alles tun, obwohl es in der Dunkelheit nutzlos wäre. Einfach ein Buch in der Hand zu halten, sich vorzustellen, was darin steht, wäre schon ein Trost. Er schwört, wenn er jemals aus dieser Dunkelzelle herauskommt, lernt er Bücher und Gedichte auswendig, um sie für immer im Kopf zu haben. Nur für den Fall.


    Arrangiert er sich nun mit seinem Schicksal? Lest selbst.


    Das war Moehringers Sicht der Geschehnisse, wie er sich vorstellt, dass sie hätten so geschehen können. Sutton selbst hat zwei sich unterscheidende Biografien geschrieben.


    Eine Kurzbiografie über ihn gibt es auf der Seite des FBI.
    Der SPIEGEL berichtet über Willie Sutton, als er 1952 vor Gericht stand.


    Lieber Mister Moehringer, ich flehe Sie an, schreiben Sie noch ein Buch.


    An dieser meiner Bitte könnt ihr ermessen, wie sehr mir diese Geschichte gefallen hat. Was für ein Buch. Ich bin total begeistert. Fühle mich zurückversetzt nach Amerika in die Zeit der Prohibition. Denke an Filme wie Es war einmal in Amerika und Good Fellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia; obwohl diese Geschichte ein paar zig Jahre später spielt. Was liebe ich
    diese Filme. J.R. Moehringer erzählt, als ob er dabei gewesen wäre.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)

  • Ach, wie gerne hätte ich das Buch gut gefunden.
    Das Thema spricht mich total an: ein Bankräuber, jahrelang im Gefängnis gesessen, wird als alter Mann begnadigt und fährt nun mit Reportern die Stationen seines Lebens ab. Das Ganze mit historischen Details versehen, aus dem Leben des echten Willie Sutton, und von einem Pulitzer-Preisträger formuliert – und lauter positive Bewertungen im Internet zu finden.


    Was kann da schon schief gehen?
    Zunächst einmal der Schreibstil. Ich weiß nicht, wie man den literarischen Kunstgriff nennt, wenn ständig auf etwas Geheimnisvolles in der Zukunft hingewiesen wird, im Sinne von «...aber da wusste er noch nicht, dass es später für ihn wichtig sein würde...». Ständig baut die Erzählung auf irgendetwas Banalen auf, weil es dann von großer Bedeutung werden kann: ein Schreiben, das der gerade Entlassene noch in der ersten Nacht verfassen muss und irgendwem geben will, eine Route, die abgefahren werden muss, um die Besonderheit der letzten Station auch wirklich zu verstehen, ... Was wäre gewesen, wenn Willie lieber auf Toilette gegangen wäre, als auf Marcus zu hören? (tatsächlich so auf S. 232) Ja, das Buch ist voller Scheidewege und Stationen seines Lebens, aber irgendwann ist es klar, dass, wenn man sich an einem Punkt anders entschieden hätte, oder gewusst hätte, dass – ja, dass dann das Leben anders verlaufen wäre. Wirklich keine große Erkenntnis. Und dass dies ständig wiederholt wurde, hat mich schon sehr genervt.


    Dazu kommt die ständige Wiederholung des Spannungsbogens, wenn man es überhaupt so nennen will. Denn spannend fand ich den Fortschritt der Handlung keineswegs. Jede Episode läuft nach dem gleichen Schema ab: Es herrscht Depression, alle verlieren ihren Job, die Ersparnisse reichen nicht lange, schuld sind die Banken und Rockefellers, also ausrauben und das erbeutete Geld verprassen, bevor die Polizei einen erwischt... Variationen gibt es an Gangstern, auf die man trifft, und regelmäßig werden Stichworte erwähnt, damit der geneigte Leser weiß, in welcher Zeit man sich befindet (Musiker, die auftreten, Filme, die im Kino laufen, Nachrichten werden irgendwie erwähnt – ohne, dass es einen Einfluss auf die Handlung hätte).

    Ja, damit wird man besser in die Atmosphäre zu jener Zeit geworfen, aber irgendwann fand ich die Anmerkungen im Glossar spannender als den Roman selbst, denn die Handlung plätscherte nur so vor sich hin.


    Und zu guter Letzt war ich noch genervt von der allzu seichten Sprache. Die Witze, die «Schreiber» und «Knipser» (=Reporter und Fotograf der Zeitung) wechseln, die angebliche Interesselosigkeit an ihrem Auftrag, konnte ich nicht nachvollziehen. Dazu kommen regelmäßig plumpe Situationen wie folgende:
    Willie erklärt den Reportern, dass Juweliere gerne ihre besten Stücke in der Auslage präsentieren. Die zufällig parat stehende Prostituierte meint darauf hin »Genau wie ich». (S. 180) :roll:
    (Danach verschwindet sie aus der Geschichte; ihre Aufgabe als Stichwortgeberin dieses Witzes ist erledigt)
    Oder: Willie bewirbt sich um einen Job als Gehilfe in einem Gartenbauunternehmen. Gleich im ersten Satz heißt es von seinem Chef Funck «Ich kann alles überall pflanzen, nur kein Baby in Mrs Funck.» (S. 210), zudem könne sein Chef Sätze so verquer drehen, dass oben die Wurzeln herausschauen – und dennoch ginge manchmal eine Stilblüte auf. Uff, da kriegt man Metaphern mit der Keule verabreicht; etwas feinsinniger wäre mir lieber gewesen...

    (Ich bin ja nicht prüde, aber muss man jeden offensichtlichen Kalauer aussprechen oder könnte man die Pointe nicht auch anders transportieren?)
    Nach zwei Dritteln habe ich den Roman dann quergelesen, um zu schauen, wie die Geschichte aus geht. Erwartungsgemäß.