Jesper Juul - Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist

  • Es ist eine wohl von allen Fachleuten unbestrittene Tatsache, dass die Zahl der verhaltensauffälligen bis aggressiven Kinder in den Kindertagesstätten und Schulen des Landes zugenommen hat. Weitaus weniger Einigkeit herrscht in der Fachwelt über die Ursachen dieser signifikanten Zunahme. Das Fernsehen, Gewaltspiele am PC, die mangelnde frühkindliche Bindung – man mag all die Erklärungen gar nicht aufzählen, weil man spürt, dass sie die betroffenen Erzieher, Eltern und Lehrer nicht weiterbringen werden, weil es hier um gesellschaftliche Phänomene geht, auf die der Einzelne wenig Einfluss hat. Dennoch müssen sowohl Eltern als auch Erzieherinnen und Lehrer mit Kindern und deren Aggression umgehen, sie müssen lernen, sie zu verstehen ohne zu urteilen und ihre positiven Seiten für die Entwicklung der Kindern achten und sie nutzen.


    Darum geht es dem bekannten Pädagogen Jesper Juul in seinem neuen Buch, in dem er deutlich macht, dass Aggression bei Kindern und Erwachsenen ein „notwendiges Verhalten“ ist. Obwohl er an manchen Stellen den Umgang mit aggressiven Kindern in unseren Schulen und Kitas in negativer Form sehr überzeichnet, lohnt es, sich auch mit seinem neuen Buch auseinanderzusetzen.


    Aggressives Verhalten, so Juul, darf nicht länger tabuisiert und diskriminiert werden. Er zeigt, was passiert, wenn diese Gefühle unterdrückt oder sanktioniert werden. Er betont, wie wichtig es sei, in der Erziehung von Kindern im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule zu lernen, mit diesen Gefühlen konkret umzugehen und so die Fähigkeit zu entwickeln, Stück für Stück besser mit ihnen umgehen zu können. Die Fähigkeit, Aggressionen als für die Entwicklung von Kindern wichtige Gefühle entschlüsseln zu können, versetzt Erwachsene in die Lage, das Selbstwertgefühl der Kinder und ihr Selbstvertrauen nicht nur zu schätzen, sondern zu stärken.


    Juul zeigt an vielen Beispielen, wie es gelingen kann, Aggressionen zu integrieren und beschreibt die Empathie als das „Gegengift zur Gewalt“. Er plädiert für die Entwicklung einer Kultur, die auf die Resilienz des Menschen baut und zitiert dazu eine Studie der Vereinten Nationen. Resilienz sei die Fähigkeit, „erfolgreich mit den alltäglichen Herausforderungen einschließlich der Lebensübergänge der Zeiten mit sich anhäufendem Stress und mit einschlägigen Nöten und Risiken zurechtzukommen. Gewöhnlich erkennt man resiliente Kinder an ihrem hohen Selbstwertgefühl, ihrer inneren Überzeugungskontrolle, ihrem Optimismus und ihrer klaren Ambition, Leistung und Zielorientierung, an ihrer Reflexion und Fähigkeit, Probleme zu lösen, an ihren gesunden Kommunikationstrukturen und an ihrer Fähigkeit, vorbildliche Beziehungen zu Erwachsenen zu suchen.“


    Zwei kritische Bemerkungen zu diesem Buch am Ende. Juul sieht die bisherigen Leistungen von Kitas und Schulen auf diesem Gebiet zu negativ. Und er geht fraglos davon aus, dass Erwachsene, die doch unsere Kitas und Schulen prägen und sie entwickeln, diese oben beschriebene Fähigkeiten schon selbst vollständig besitzen. Meine Erfahrung lehrt mich da etwas anderes. Immer mehr Erwachsene, die Eltern werden, sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Kindern so etwas wie Bindung, Empathie und Resilienz zu vermitteln, weil sie, oft am sozialen Rand der Gesellschaft lebend, überhaupt nicht die biographischen und emotionalen Kompetenzen dazu haben. Erzieherinnen und Lehrer-innen müssen dann, oft mit viel Engagement, versuchen, diese Lücken zu schließen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, ein schwieriges und oft nervenaufreibendes Unterfangen.


    Dennoch: Juul hat mit seinem Buch dazu beigetragen, die Aggression aus der pädagogischen Schmuddelecke zu holen und ihr ihren wichtigen Stellenwert für die Entwicklung von Kindern zuzuweisen.

  • Als Schulsozialarbeiter bin ich natürlich täglich innerhalb des Systems Schule mit aggressivem Verhalten von Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Da ich außerdem die Sichtweisen des Familientherapeuten Jesper Juul in vielen Fällen teile und schätze, habe ich mich auch mit diesem Buch beschäftigt. Und vorweg gesagt: Er hat erneut in vielen Dingen Recht und erläutert den Zweck und den Sinn von Aggression sehr anschaulich und einleuchtend.
    Auch die Herangehensweise, den Kindern und Jugendlichen den konstruktiven Umgang mit ihrer Aggression nahezubringen und sie dabei zu unterstützen, anstatt sie dafür zu bestrafen und dieses Gefühl in den Bereich des schlechten Gewissens und der Tabuisierung einzuordnen.


    Es gibt zwei entscheidende Punkte, die mich ansatzweise stören. Punkt eins fasst mein Vorrezensent hier schon ganz treffend zusammen:

    Immer mehr Erwachsene, die Eltern werden, sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Kindern so etwas wie Bindung, Empathie und Resilienz zu vermitteln, weil sie, oft am sozialen Rand der Gesellschaft lebend, überhaupt nicht die biographischen und emotionalen Kompetenzen dazu haben. Erzieherinnen und Lehrer-innen müssen dann, oft mit viel Engagement, versuchen, diese Lücken zu schließen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, ein schwieriges und oft nervenaufreibendes Unterfangen.

    Ergänzend bliebe hier nur noch die Feststellung, das es nicht nur schwierig und nervenaufreibend ist, sondern es wirklich bis hin zu unmöglich geht. Außerdem wird das "auffällige Kind" ja in der Schule nicht 24 Stunden anzutreffen sein und sämtliche Bemühung in der immer länger ausfallenden Schulzeit werden natürlich in dem geschilderten Zusammenhang im beschriebenen Elternhaus wieder negiert bzw. torpediert. Dabei wird jegliche Intervention, und wir sprechen hier von erlerntem Verhalten von noch so engagierten Erziehern und Pädagogen in den Institutionen zur Farce, weil sie von den Eltern ausgehebelt werden und schlimmer noch, auch hier erlernt wird, dass das Verhalten gar nicht zielführend ist.


    Und der zweite Punkt sind die oft zitierten Rahmenbedingungen in Kitas und Schulen: Es findet ein gefährlicher Spagat statt zwischen dem adäquaten Umgang mit aggressiven Gefühlen und Verhalten und dem Schutzauftrag, der anderen Kindern gegenüber einzuhalten ist. Hier fehlt es oftmals an der nötigen Zeit, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, mit ihren Gefühlen umzugehen, ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist, erst Recht nicht, wenn wenig Kooperation mit dem Elternhaus stattfindet, es fehlt an den nötigen personellen Ressourcen, um sich so ausgiebig wie nötig mit den Kindern zu beschäftigen.
    Es ist einfach so: Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken - solange das Thema Inklusion nur dazu misbraucht wird, um sich mit hohlen Federn zu schmücken oder Forderungen der UN zu erfüllen, ohne die notwendigen brauchbaren und praxistauglichen Konzepte und die personellen Ausbildungen und Ressourcen zu schaffen, solange Inklusion nur im Wahlkampf ein Thema ist, mit dem die ausführenden Personen dann allein gelassen werden, solange Inklusion nur von allen Ecken gefordert und nicht gelebt wird, solange ist sie zum Scheitern verurteilt.


    Hier steht Herr Juul noch ein wenig in der Erklärungsnot, hier hatte er zu wenig Antworten parat. Aber sicherlich ist dieses Buch immernoch eine gute Leseempfehlung, wenn man Erklärungen sucht. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Verlagstext

    Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert. Was wir mit der Unterdrückung dieser legitimen Gefühle anrichten, wie wichtig es ist, diese zuzulassen und wie wir mit ihnen konkret umgehen können, zeigt der bekannte und erfolgreiche Familientherapeut Jesper Juul eindrucksvoll in seinem neuen Buch. Er plädiert für ein radikales Umdenken: Aggressionen sind wichtige Emotionen, die wir entschlüsseln müssen, sonst setzen wir die geistige Gesundheit, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen unserer Kinder aufs Spiel. Ein wichtiger Aufruf, für einen konstruktiven und positiven Umgang mit einem wichtigen Gefühl.


    Der Autor

    Jesper Juul, geb. 1948 in Dänemark, Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor; bis 2004 Leiter des Kempler Institute of Scandinavia in Odder, das er 1979 gründete. 1972 schloss er sein Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte ab. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und bildete sich in Holland und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Jesper Juul ist Autor von mehr als einem Dutzend Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden.


    Die Herausgeberin

    Ingeborg Szöllösi, Dr. phil., geb. 1968, Studium der Philosophie, Theater- und Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, freie Journalistin und Publizistin.


    Inhalt

    Jesper Juul ist als Therapeut und Buchautor u. a. so erfolgreich, weil er Konflikte zwischen Kindern und Erwachsenen für jedermann verständlich beschreiben kann. Seine Fähigkeit, ein Problem klar zu benennen, ist bereits der erste Schritt zu dessen Lösung. Wer hat das Problem, wenn ein Kind sich aggressiv verhält?, fragt Juul und antwortet lapidar: Die Erwachsenen und das Kind. Den Umgang Erwachsener mit kindlicher Aggression sieht der Familientherapeut als Tabu moderner Gesellschaften. Fragen wir Kinder doch einfach, warum sie so wütend oder frustriert sind, dass der Topf ihrer Emotionen überkocht, regt Juul an. Die Wut von Kindern moralisch zu bewerten oder sie zur Strafe aus einer Gruppe auszuschließen, betrachtet er dagegen als unprofessionell, gar als Vernachlässigung der Kinder in Betreuungs-Institutionen. Moralische Urteile über kindliche Wutausbrüche sind laut Juul unzulässig, da der Mensch weder gut noch böse sei. Eine konstruktive Reaktion auf kindliche Aggression erfordere kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Juuls kurzer Text ermutigt aufgeschlossene Leser, nicht das wütende Kind per psychiatrischer Diagnose zum therapiebedürftigen Probemfall zu erklären, sondern sich zunächst mit der eigenen latenten Aggression auseinanderzusetzen.


    Kinder rasten häufig aus, weil sie an ihre Grenzen gestoßen sind oder zwischen Wut und Traurigkeit noch nicht zu unterscheiden gelernt haben. Ihr aggressives Verhalten ist eine Aufforderung zum Gespräch, die Botschaft lautet: Ich fühle mich nicht gut. Ein wütendes Kind ist laut Juul kein Fall für den Psychiater. "Antisoziales Verhalten drückt Hoffnung eines deprivierten Kindes aus," zitiert Juul Donald Winnicott (1988). Als Familientherapeut hat der Autor in verschiedenen Ländern beobachtet, wie Erwachsene Aggressionen unterdrücken oder tabuisieren, die ihnen selbst Angst machen. Häufig wird geschlussfolgert, Aggression führe zu Gewalt, Gewalt führe zu Krieg und deshalb seien Aggressionen unter Kindern unbedingt zu verhindern. Solange Aggression tabuisiert wird, kann Selbsterkenntnis und Empathie sich nicht entwickeln, warnt Juul.


    Jesper Juul beurteilt Betreuungseinrichtungen für Kinder äußerst kritisch. Er sieht sie als Kunstwelten, die Risiken und Kritik möglichst ausschließen und Kinder unter dem geltenden Konformitätsdruck an wichtigen sozialen Erfahrungen hindern. Grund für diesen Zustand sei eine Politik, die allein die Zeitspanne bis zur nächsten Wahl im Blick habe. Eltern und Pädagogen sieht Juul gefangen in überholten Rollen, so dass sie Kindern kaum Vorbilder sein könnten. Auch das in die Kritik geratene "Grenzen setzen" sieht Juul kritisch, es maskiere die Aggression Erwachsener als Sorge oder sei eine bemäntelte Bestrafung.


    Besonders zwei Überlegungen aus Juuls Buch haben mich zum Umdenken beim Thema kindliche Agression angeregt. Ein herausragender Gedanke ist das Kindern und Erwachsenen gemeinsame starke Motiv, das Leben anderer bereichern zu wollen. Es ist häufig der Anstoß einen sozialen Beruf zu wählen. Die Botschaft "nicht wertvoll" zu sein - die wir aussenden, wenn wir Aggressionen bei Kindern sanktionieren - frustriert und zerstört das Selbstbewusstsein. Nachdenklich hat mich Juuls Definition von Strukturen gemacht, die Mobbing dulden. Mobbing-Prozesse an Schulen und Kitas sind laut Juul nicht zu lösen, indem Kinder als verhaltensauffällig diagnostiziert werden. Mobbing sieht er als Zeichen von Führungsschwäche einer Schulleitung, die den bequemeren Weg suche.


    Fazit

    Gerade Eltern, die in der Erziehung für ihr Kind das Beste wollen, kann das schmale Buch anregen, über ihre persönliche Wertung von Aggression nachzudenken.


    (15.5.2013)

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Jesper Juul, Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist“ zu „Jesper Juul - Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist“ geändert.