Seite 301-414 ab 26.09.05

  • Ich habe gerade bemerkt, dass ich völlig auf meine Schlußbemerkung vergessen habe :oops: . Ich habe natürlich auch diesen Teil, wie alle anderen auch, verschlungen. Im Prinzip bleibt nicht mehr viel zu sagen, da mein Eindruck vom Buch sich nicht verändert hat: beklemmen, unglaublich geschrieben und sehr flüssig zu lesen, nie kitschig (auch wenn man das dem Klappentext nach vermuten könnte), es bringt den Alltag in Kriegszeiten nicht nur gut auf den Punkt, sondern zeigt die erschütternden Erlebnisse anhand viele alltäglicher Begebenheiten gut auf.
    Ich würde es auf alle Fälle weiterempfehlen!

    Liebe Grüße,
    Azrael


    Aktuelles Buch: "Schwarz zur Erinnerung" von Charlene Thompson

  • Hallo,


    ja, das kann man sagen, kitschig ist es wirklich nicht.


    Ich muss auch dazusagen, dass ich, hätte ich dieses Buch in der Bibliothek im Regal gesehen, nie und nimmer mitgenommen hätte. Allein aufgrund von Titel und Klappentext hätte ich es als eines der unzähligen Kitsch-Lliebesromane mit ernstem Hintergrund gehalten (und die sind ansonsten nicht so mein Ding).


    Deshalb danke, für diesen Buchvorschlag, das Buch ist durchaus eine Bereicherung!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich bin noch nicht ganz fertig, möchte aber zu dem Abschnitt trotzdem schon mal was sagen.
    Kitsch ist da wirklich kein kleines bißchen dabei.


    Die Situation ist schon so schlimm, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie man so bloß überleben kann. Zu schwach um etwas die Treppen raufzutragen, die letzten Bücher verbrennen... Oje, ich hab teilweise vor jeder neuen Seite Hemmungen weiterzulesen, was wird da jetzt wieder Schlimmes kommen... :roll:
    Das tote Baby, der "Überfall", der letzte Honig - der pure Wahnsinn!!!

    Liebe Lesegrüße
    Eure Süße
    :study::)


    Erinnerungen, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren.

  • Was ich vergessen habe:
    Das ist mal wieder ein Buch, das ich dann erst mal verdauen muss und so schnell nichts anderes lesen kann...
    Lesen schon, aber da finde ich so schnell keinen Zugang zum nächsten Buch...

    Liebe Lesegrüße
    Eure Süße
    :study::)


    Erinnerungen, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren.

  • Bin ja auch schon länger fertig. Kann mich der Meinung von Azrael nur anschließen, ein wirklich toller Roman.
    @Bonprix danke für den Tipp.
    Das ist keines der Bücher die man liest, beiseite legt und im nächsten Moment wieder vergessen hat.
    Wisst ihr eigentlich wie es weiterging für die Bevölkerung von Leningrad ?
    Es muss ja noch mindestens einen weiteren Hungerwinter gegeben haben oder ?

    Liebe Grüsse
    Wonneproppen
    ;-)


    Ich lese gerade "Im Dunkel der Wälder" von Brigitte Aubert
    Es gibt nur ein Leben für jeden von uns: unser eigenes. Euripides

  • Zitat

    Original von Wonneproppen


    Wisst ihr eigentlich wie es weiterging für die Bevölkerung von Leningrad ?


    Die Belagerung von Leningrad dauerte insgesamt 900 Tage (872, um genauer zu sein). Es war während fast der gesamten Zeit praktisch unmöglich, Nachschub in die Stadt zu bringen - bis auf einige kurze Wochen, als Laster über den zugefrorenen Ladogasee fahren konnten. Im Januar 1943 gelangen der Roten Armee schließlich erste Befreiungssiege in der Gegend um Leningrad und es wurde möglich, über einen schmalen Korridor Lebensmittel und andere Nachschubgüter nach Leningrad zu bringen. Die Belagerung dauerte allerdings noch ein weiteres Jahr an, bis die Stadt 1944 endgültig befreit wurde. Es wird geschätzt, daß innerhalb der 900 Tage rund eine Million Menschen (ein Drittel der Eingeschlossenen) umgekommen sind, sowie weitere dreihunderttausend Soldaten, die bei der Verteidigung der Stadt gefallen sind.


    Das Schicksal Leningrads und der Eingeschlossenen wurde zum Ansporn für die ganze Bevölkerung und die Toten wie die Überlebenden von Leningrad wurden in der Sowjetunion zu Märtyrern für das Vaterland erhoben - ein Status, den sie auch heute noch inne haben. Es wurde ihnen zu Ehren ein Mahnmal errichtet. Tagebücher und andere Schriften aus der Zeit der Belagerung werden wie Nationalschätze gehütet. Allerdings wurde Zugang zu diesen Texten, wie auch allen anderen Schilderungen jener Zeit, lange streng kontrolliert, damit nichts an dem offiziellen Bild der heroischen Taten der Eingeschlossenen und der Roten Armee kratzen konnte. In der offiziellen Schilderung hat die Sowjetunion immer für Leningrad gesorgt, auch wenn der Nachschub gelegentlich knapp wurde; in solchen Situationen hätte sich dann die wahre Einsatzbereitschaft und der Gemeinschaftssinn der Leningrader bewiesen, und alle haben sich gegenseitig geholfen. Nach Ende der Belagerung wurden sofort an jeden Bürger warme Kleidung, Fellstiefel und Nahrung verteilt und die Leningrader bedankten sich im Gegenzug bei der siegreichen Roten Armee und natürlich bei Stalin für die Befreiung.


    Inzwischen, besonders nachdem der Zugang zu Dokumenten und Zeitzeugen der Belagerung leichter geworden ist, wird das volle Ausmaß der menschlichen Katastrophe während jener 900 Tage erfaßbar. Es kam praktisch nichts von außen herein - selbst wenn der Transport möglich war, gab es so gut wie keine Lebensmittel und kein Öl etc., um es den Eingeschlossenen zu bringen. Kannibalismus war fast unverzichtbar, um zu überleben. Auch nach dem Ende der Belagerung ging es den Leningradern nur marginal besser, denn es tobte noch immer ein verheerender Krieg, Nahrung und Kleidung waren noch immer knapp und etliche der Überlebenden wurden an die Front geschickt.


    Gruß
    Ute


    P.S.: Es ist schade, daß es in der Leserunde keine Diskussion über (Dunmores Darstellung der) Belagerung oder auch Stalins Regime gegeben hat, die ja nicht nur schmückendes Beiwerk des Buches sind.

  • Vielen Dank, Ute, für diese ausführlichen Erläuterungen!


    Unter diesem Aspekt muss man natürlich der Schriftstellerin die historische Genauigkeit hoch anrechnen.


    Ich bin zwar mit dem Buch noch nicht fertig, aber wie sie die "Einkesselung" Leningrads beschreibt, das ist sehr beeindruckend. Wie schön langsam jeder Zugang zur Stadt verloren geht, die totale Abhängigkeit der Stadtbevölkerung von der Landbevölkerung. Die Stadtbevölkerung, die zwar noch Geld hat, es aber absolut nirgends etwas zu kaufen gibt, und die trotzdem glauben, dass sie solange sie Geld haben, nicht verhungern können. Der beängstigende Vormarsch der Deutschen und die Manipulation durch den Rundfunk. -- Ich kann mir vorstellen, dass Helen Dunmore hier ein sehr authentisches Bild schafft.


    Liebe Grüße!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Den Schwerpunkt legt Helen Dunmore nicht auf das Kriegsgeschehen, wie die Deutschen sie einkesseln oder andere Erläuterungen, das wird immer nur am Rande mitgeteilt. Auch über das Regime Stalins erfährt der Leser kaum etwas, weil es der Autorin offenbar rein um die Bewohner von Leningrad geht. Was diese Menschen denken, wie sie überlebten oder auch nicht, die Kälte , den Hunger; und wie sich angesichts der Tatsache, dass sie sterben könnten, alle mit großer Vorsicht begegnen. Ich bin froh darüber, dass Dunmore diesen Schwerpunkt gesetzt hat, denn auch mir sind diese Wahrnehmungen wichtiger.
    Vielleicht kommt aus diesem Grund eine solche Diskussion nicht auf …

  • Heidi Hof


    Stalins Regime ist im Buch allgegenwärtig - es ist einer der Hauptgründe, weshalb sich alle mit Vorsicht begegnen (bedeutend mehr als "die Tatsache, daß sie sterben könnten"). Ebenso ist natürlich das Kriegsgeschehen allgegenwärtig. Rosalita hat ja zum Beispiel bereits angeführt, wie Dunmore die langsame Einkesselung beschreibt und wie sich das Leben und Verhalten der Menschen dementsprechend ändert. Die "Wahrnehmungen", die Dir so wichtig sind, entstehen nicht in einem luftleeren Raum. Dunmore läßt ihre Figuren vor einem bewußt gewählten Hintergrund agieren; sie sagt etwas über die Menschen in dieser konkreten historischen Situation (und davon ausgehend natürlich über menschliche Interaktion im allgemeinen) aus. Insofern halte ich es für praktisch unmöglich, sich darüber zu unterhalten, was sie sagen wollte, ohne gleichzeitig zu betrachten, wie sie es gesagt hat.


    Eine solche Diskussion ist natürlich weniger wichtig, wenn es einzig darum geht, über eigene Befindlichkeiten und Gefühle beim Lesen zu sprechen, ohne wirkliches Augenmerk auf das Buch. Ein derartiger Austausch mag dem einen genügen, dem anderen nicht - es hängt immer davon ab, was man von Literatur erwartet.

  • @ Ute


    Sie legt nicht den Schwerpunkt auf Unmittelbarkeit des Krieges sondern eher in den Hintergrund, so dass der Leser zwar die Allgegenwärtigkeit spürt, es allerdings aus der Perspektive der Personen wahrnimmt. Sie stellt die Gefühle der Menschen in den Vordergrund, das ist ihr Schwerpunkt, und so erreicht sie m. E. den Leser. Oder ich schreibe es mal so, damit du mich richtig verstehst: Der Roman ist keine Kriegsberichtserstattung, sondern der Leser erfährt alles über Personen, Gefühle und Wahrnehmungen. Und das fand ich sehr gut.


    PS Es kann schon sein, dass ich manchmal Probleme damit habe meine Gedanken so auszudrücken, dass mich jeder versteht; aber verdrehe meine Worte nicht ständig ...

  • Hallo @all!


    Ich sehe den Roman auch nicht als "Kriegsroman". Ich würde es als eine Erzählung eines Einzelschicksals (bzw. Schicksal einiger weniger) mit dem Hintergrund der Einkesselung Leningrads mit authentischen historischen Fakten bezeichnen. Es werden weder Kämpfe noch das Leben der Soldaten an der Front geschildert. Die direkten Auswirkungen des Krieges (Verletzungen, Kriegstote, etc) werden nur in der Rahmenhandlung erwähnt, bilden aber natürlich einen ganz wesentlichen Bestandteil. Es geht um die nicht so unmittelbaren Auswirkungen des Krieges (Hunger, Seuchen, Bespitzelung, Manipulation).


    In diesem Sinne....


    Liebe Grüße!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • @ Rosalita, meiner Ansicht nach ist Krieg auch das, was den Menschen passiert, die nicht direkt in die Kampfhandlungen verwickelt sind. Krieg ist nicht nur das gegenseitige Erschießen. Insofern ist dieses Buch für mich ein Kriegsroman.


    @ Heidi, ich halte es gerade in diesem Buch für unmöglich, das politische Geschehen und die Gefühle der Personen zu trennen. Der Krieg ist nicht der Hintergrund. Hunger IST Krieg. Kälte IST Krieg.


    Ich gehe sogar noch weiter und sage, dass die Personen von zwei Kriegen eingekesselt und ausgehungert werden: Vom inner-russischen des Stalinismus und dem mit den Deutschen.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ach, ich tu mich jetzt sehr schwer es zu beschreiben. Natürlich ist es ein "Kriegsbuch", ohne Krieg gäbe es nicht viel zu erzählen. Ich kann es leider sehr schwer ausdrücken, es ist ein "Kriegsbuch der anderen Art", vielleicht trifft es dieser Ausdruck, kein "herkömmliches" Kriegsbuch, keine "Kriegsberichterstattung", wie Heidi es schon erwähnte.


    Es ist aber auch eine Schilderung des nackten Überlebens in einer Ausnahmesitutation. Das Leben am Rande des Abgrundes, an der äußersten Belastbarkeit. Der tägliche Kampf ums Überleben, wo gar nichts mehr wichtig ist, nur mehr das kleine Stück Brot, um wieder ein paar Stunden zu überleben.


    Aber, sei es wie es sei, es ist ein ganz eindrucksvolles Buch und echt gut geschrieben. Für mich eine Bereicherung.




    Das ist sehr treffend ausgedrückt!!


    Liebe Grüße!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Zitat

    @ Heidi, ich halte es gerade in diesem Buch für unmöglich, das politische Geschehen und die Gefühle der Personen zu trennen. Der Krieg ist nicht der Hintergrund. Hunger IST Krieg. Kälte IST Krieg.


    Wenn man ein Bild betrachtet, kann man manchmal feststellen, dass der Maler einen Schwerpunkt auf blau gesetzt hat, und alle anderen Farben vermischen sich im Hintergrund. Doch dieser Hintergrund trägt erst dieses Blau, und nur beides zusammen ergeben das Ganze, das Bild.

  • So, ich muss mich nochmals äußern, weil es mich wurmt und ärgert.


    Zitat

    Es ist schade, daß es in der Leserunde keine Diskussion über (Dunmores Darstellung der) Belagerung oder auch Stalins Regime gegeben hat, die ja nicht nur schmückendes Beiwerk des Buches sind.



    Ich fand die Frage von Ute sehr interessant, und habe mir dazu (ich schlafe ja eh kaum) eine Nacht lang Gedanken gemacht.
    Dann habe ich versucht zu beantworten, warum es wohl nicht zu dieser Diskussion gekommen ist, und meine Vermutung mit >vielleicht< noch betont.


    Zitat

    Vielleicht kommt aus diesem Grund eine solche Diskussion nicht auf …


    Denn es ist doch so (und das stand meinerseits nun zur Diskussion), dass der Leser von diesem Blau erschlagen wird. Er braucht eine gewisse Zeit oder Abstand, er muss sich vom Bild entfernen, um es als Solches, als Ganzes wieder betrachten zu können.