Michael Köhlmeier - Die Abenteuer des Joel Spazierer

  • Im Jahr 1953 lernt der Leser den in Budapest bei seinen Großeltern lebenden András Fülüp kennen. Die Großeltern werden von Stalins Schergen abgeholt und der Junge ist 5 Tage und 4 Nächte sich selbst überlassen, ehe seine Mutter ihn eher zufällig findet. Das Leben nimmt seinen Lauf, die Familie flieht aus Ungarn, leider vor dem Arbeiteraufstand, sodass sie sich gezwungen sehen noch einmal zu fliehen. Die Familie fasst in Wien langsam Fuß und András ist ein Einzelgänger, obwohl alle ihm zugeneigt sind, und beginnt, ein böses Spiel zu spielen, er lügt, manipuliert seine Mitmenschen und verkauft sich bereits im zarten Alter von 9 Jahren an andere Männer. Als Leser folgt man seinem Lebensweg, der eng mit den Ereignissen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist, durch halb Europa, nach Dünkirchen, Italien, Liechtenstein, in die Schweiz, die ehemalige DDR und die Sowjetunion, darüber hinaus nach Mexiko und Kuba. Man erlebt ihn, wie er sich der freien Natur durchschlägt und sich durch seinen Gefängnisaufenthalt laviert. Er ist ein Egoist, Manipulierer, Lügner, Betrüger, Fälscher, Philosoph und Mörder. Dabei stellt man sich die Frage, ob er auch einfach nur ein Mensch sein kann.


    Michael Köhlmeier hat mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ einen weiteren großen Roman vorgelegt, in dem auch sein Alter Ego Sebastian Lukasser seinen Platz einnehmen konnte. Dieser lenkt die Gedanken des unterdessen gealterten András Fülip, inzwischen nennt er sich Joel Spazierer, so, dass er diese für ein Buch festhalten kann. Lukasser ist der einzige Freund, den Spazierer je hatte und obwohl er alles über ihn weiß, hält er ihm die Treue. Wie bei allen seinen Romanen bewegt sich der Autor auch bei diesem auf einem sprachlich hohen Niveau. In diesem Roman gab es unglaublich skurrile Passagen und auch die ganz leisen, nachdenklich stimmenden. Gelegentlich ist der Leser von den Erzählungen des Protagonisten genarrt, weil man ihm vertraute und nun feststellen muss, alles ist dann doch anders. Michael Köhlmeier nennt seinen Roman selbst einen Schelmenroman und trifft es damit im Großen und Ganzen ziemlich genau. Der Protagonist erzählt seine Autobiografie, begibt sich auf Reisen, durchläuft verschieden gesellschaftliche Schichten, schafft es jedoch immer sich aus brenzligen Situationen zu retten und wird oft am Ende geläutert. Ob letzteres auch bei Joel Spazierer der Fall ist, lasse ich an dieser Stelle offen.


    Der Roman wird nicht streng chronologisch erzählt. Der Autor springt mit Joel Spazierer durch dessen Leben. Die einzelnen Erlebnisse werden in einen Rahmen aus gegenwärtigen Betrachtungen des in zwischen über 60jährigen Protagonisten in 12 Kapiteln eingeflochten. „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ ist ein Roman, der gute, abwechslungsreiche und kurzweilige Unterhaltung bietet und obendrein zum Nachdenken anregt. Dabei gibt es Anlehnungen an andere literarische Werke. Der Autor selbst nennt Grimmelshausen, ich meine auch noch Günter Grass und John Irving erkannt zu haben. Michael Köhlmeier beweist einmal mehr, welch begnadeter Autor er ist. Bisher wurde ich von seinen Büchern noch nie enttäuscht, obwohl die Erwartung von Mal zu Mal höher ist. Wer gern einem, einen ganzen Roman bestimmenden, Protagonisten durch sein bewegtes Leben folgen möchte, sich auch für die Abgründe menschlicher Charaktere interessiert und dabei das Zeitgeschehen aus dessen Sicht erleben möchte, wird mit diesem Roman gut beraten sein. Ich bewerte den Roman mit :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Über den Autor (Quelle: amazon.de)
    Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren und lebt heute in Hohenems/Vorarlberg. Er studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Michael Köhlmeier schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele und Lieder und trat sehr erfolgreich als Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe und biblischer Geschichten auf. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen, u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis, dem Johann-Peter-Hebel-Preis, dem Manès-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur.

  • Ich habe diesen Roman im März oder April innerhalb von 2 Tagen ausgelesen und möchte gar nichts Spezielles zu diesem erzählerischen Meisterwerk hinzufügen. Da ich ein Vorarlberg- und Schweiz-Fan bin, haben mich natürlich besonders diese Schauplätze gefreut, aber natürlich auch die drei Erzählstränge, wo man den Ich-Erähler als mit 7, 25 und 61 Jahren in Wien antreffen kann.
    Es war für mich beim Lesen wie eine Literaturverfilmung. (Allerdings gab es im Wien-Teil vor Beginn des 3. Teils Passagen, wo ich einfach ungeniert weitergeblättert habe, weil mir dort das Erzähltempo zu langsam war.

  • Nach 225 Seiten habe ich das Buch (als E-book zum Glück nur ausgeliehen) gestern abgebrochen, weil ich mit dieser eigenartigen Figur des Joel Spazierer absolut nichts anzufangen wusste. Am nächsten kommt er noch einer Märchengestalt oder ist aus der Jugendbuchliteratur entnommen, für mich jedenfalls keiner, dessen Spuren man gerne folgt.

    Mir gefiel auch der Stil überhaupt nicht, in meinen Ohren klang das, was Michael Köhlmeier zu erzählen hatte, eher wie ein weitläufiges und nichtssagendes Geschwafel, das hauptsächlich mit uninteressanten Details zu punkten wusste.

  • Eine ziemlich abstruse Lebensgeschichte, die Köhlmeier hier in einer Stofffülle erzählt, die sich an seinen dicken Nacherzählungen von Bibel- und Sagengeschichten anzulehnen scheint.
    Ein Protagonist, der stiehlt, dealt, betrügt, fälscht, erpresst und mordet (habe ich noch ein Verbrechen vergessen?). Wahrheit und Lüge scheinen für ihn synonym zu sein, sein Gottesglaube (oder doch Unglaube? so ganz weiß man das nicht) beruht auf einer merkwürdigen Begegnung mit seinem Herrn.


    Sicher ist nur eins: Spazierer – oder wie immer er sich gerade nennt – ist das Paradebeispiel eines unzuverlässigen Erzählers. Der Leser erfährt es von ihm selbst: Während einer Gerichtsverhandlung gegen ihn, von der er berichtet, werden Sachverhalte von Seiten der Staatsanwaltschaft auf den Tisch gebracht, die sich vorher aus dem Mund des Erzählers völlig anders darstellten.


    Danach ist man natürlich auf der Hut und möchte ihm nicht mehr alles glauben. Aber leider hat man als Leser kein Werkzeug an der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Und so kann Joel Spazierer weiter ungeniert aus seinem mehr als chaotischen, von Wohnort-, Frauen- und Freundeswechsel geprägtem Leben erzählen. Oder es sich zurechtphantasieren.


    Dass Köhlmeier zu meinen Lieblingsautoren gehört, ist bekannt. Aber auch Lieblingsautoren muss ich nicht zu jedem Buch applaudieren. Dieses Buch ist mir einfach „zu voll“. Zu voll mit Personen, die mal hier, mal dort auftauchen. Zu voll mit Ortswechseln, die oft ohne Begründung vollzogen werden – oder hat irgendjemand mitbekommen, warum es Joel in die DDR zieht? Oder warum er später den sinn- und handlungslosen Trip in die USA macht? Zu voll mit philosophischen Gedanken und Theorien bekannter Philosophen und Theologen.
    Der Schluss fehlt; man kann ihn nicht einmal ein offenes Ende nennen, nein, das Buch bricht einfach ab.


    Dass Köhlmeier auch hier wieder prächtig erzählt, einen Protagonisten in die Handlung schickt, wie man ihn in der deutschsprachigen Literatur seit Oskar Matzerath nicht mehr gesehen hat, dass er eine verschlungene Geschichte auf den Punkt zu erzählen weiß, rettet das Buch. Aber in meinen Augen nicht ganz.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Zu voll mit Ortswechseln, die oft ohne Begründung vollzogen werden – oder hat irgendjemand mitbekommen, warum es Joel in die DDR zieht? Oder warum er später den sinn- und handlungslosen Trip in die USA macht? Zu voll mit philosophischen Gedanken und Theorien bekannter Philosophen und Theologen.

    So, liebe Marie, geht es uns nun laufend mit unserem "Ulysses". Da hat man meist auch keine Ahnung, wer was gerade tut, sagt oder denkt, und vor allem WARUM.
    Aber ich habe "Die Abenteuer des Joel Spazierer" nach einem Fehlstart dann doch gelesen. Gefallen haben sie mir nicht, außerdem fand ich den Protagonisten höchst unsympathisch im Gegensatz zu Oskar Matzerath. Alle Deine Einwände bezüglich dieses Buches kann ich völlig nachvollziehen, bis auf einen, dass er prächtig erzählt hat, der Herr Köhlmeier. Das hat er vielleicht mal vor vielen Jahren. In letzter Zeit habe ich nichts gelesen, wo mir das aufgefallen wäre.