Yann Martel - Ein Hemd des 20. Jahrhunderts

  • Henry T. ist, wie auch Yann Martel, ein kandischer Schriftsteller, der durch ein auf Tierallegorien beruhendes Buch weltweite Anerkennung gefunden hat. Jetzt möchte er ein Buch über den Holocaust schreiben, denn ihm ist aufgefallen, dass es zu diesem Thema kaum Fiktionen gibt, aber "nur Zeugnis ablegen" findet er zu wenig. Er hat sich deshalb eine neue Art der Darstellung überlegt - und wird bei einem Treffen mit seinem Verleger total nieder gemacht. Entmutigt zieht er mit seiner Frau in ein anderes Land und statt zu schreiben nimmt er Musikunterricht, spielt Theater und legt sich Hund und Katze zu. Unter den Leserbriefen, die er weitergeleitet bekommt, ist jedoch eines Tages eine Kopie einer Erzählung von Gustave Flaubert. In "Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien" hat der Absender alle Passagen markiert, in denen Julian Tiere meuchelt. Anbei liegt außerdem ein kurzer Ausschnitt eines selbstgeschriebenen Theaterstücks und die Notiz, dass seine Hilfe gebraucht werde.
    Henry verfasst nach langem Bedenken eine aussaglose Karte und will sie dem Absender, der ebenfalls Henry heißt, in den Briefkasten werfen, da er in der selben Stadt wohnt. Als sich die Adresse jedoch als eine Tierpräparation entpuppt und Henry von dem ausgestopften, lebensechten Okapi im Schaufenster mehr als begeistert ist, treffen sich die beiden doch persönlich. Der Präparator ist ein ungewöhnlicher Mann, ohne jegliche Emotionalität oder Interesse an anderen Menschen. Dennoch weckt er Henrys Interesse und im Laufe der nächsten Treffen taucht er tiefer in das Theaterstück ein, das der andere schon sein ganzes Leben lang schreibt.
    Es heißt "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", weil es auf einem gestreiften Hemd, in der tieferen Rückenregion, spielt. Akteure sind der Esel Beatrice und der Brüllaffe Vergil - Tierallegorien wie in Henrys Roman, so erklärt der Präparateur zunächst, benannt nach den Führern aus Dantes Göttlichen Komödie. Beide Tiere stehen in seiner Werkstatt, Beatrice stammt aus einem Streichelzoo, Vergil wurde in Bolivien eingefangen. In dem Stück gehören sie zu Spezies, die ausgerottet werden sollen; hungernd und ziellos halten sie sich versteckt und diskutieren, wie sie über die "Gräuel", die ihnen widerfahren sind, jemals sprechen können und wie sie gleichzeitig dafür sorgen können, dass sie nie in Vergessenheit geraten, wenn die Schreckensherrschaft vorüber ist...


    In dem Buch herrscht ein steter Wechsel zwischen der Handlung um Henry T., der versucht, sich ein "Leben nach dem Schreiben" aufzubauen und dem Theaterstück, das Henry und dem Leser immer nur ausschnittweise und nicht in korrekter Reihenfolge vorgestellt wird. Darin geschieht Beckett-mäßig wenig, aber es weist effektvolle Dialoge vor. Allein die Szene, die Henry ursprünglich zugeschickt wurde, in der Vergil Beatrice erklärt, was eine Birne ist, lässt selbst mir Birnenhasser das Wasser im Mund zusammen laufen. Handwerklich ist das wirklich astrein und mein Kompliment an die Übersetzer, die perfekte Worte gewählt haben - denn das ist eines der Hauptthemen dieses Buches: Wie kann man etwas in Worte fassen, das völlig unaussprechlich ist? Henry hat bei seiner Recherche festgestellt, dass nur 2% der Holocaust-Überlebenden jemals davon erzählt haben und Möglichkeiten dafür zu finden, ist eine Aufgabe, die sich Beatrice und Vergil stellen.
    Während die Allegorie des Stücks zum Holocaust immer deutlicher und undeutlicher wird, haben die letzten Seiten mich dann absolut sprachlos zurückgelassen, mit einem Todesstoß noch nach dem Ende. Hunger hatte ich keinen mehr, und ich saß bestimmt eine Viertelstunde geschockt da und konnte mir nicht vorstellen, jetzt einfach in den Alltag zurückzukehren. Ein gutes Buch, allemal, grandios geschrieben, aber harte Kost, die einen erstmal nicht mehr loslässt.

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    Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
    (M.Zusak, Die Bücherdiebin)



    „Es kommt auch darauf an, wie wir [die Welt] verstehen, oder nicht? Und wenn wir sie verstehen, fügen wir doch auch etwas hinzu, oder nicht? Und wenn das so ist, ist dann nicht das ganze Leben eine Geschichte?"
    (Y.Martel, Schiffbruch mit Tiger)

  • Vielen Dank für Deine Rezi, Mocca !
    Das Buch hatte ich auch schon mal in der Hand, nun weiss ich, dass es definitiv nichts für mich ist. Um Bücher welche deprimieren mache ich einen grüssen Bogen.

  • Der Originaltitel lautet: A Twentieth Century Shirt
    laut amazon, sonst ist er leider nirgendwo zu finden und ISBN gibt es auch keine dazu.

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Danke Mocca für Deine Rezension - mich hast Du sehr neugierig gemacht, so dass ich mir das Buch gleich auf meine Wunschliste gesetzt habe :wink:

  • Der Originaltitel lautet: A Twentieth Century Shirt
    laut amazon, sonst ist er leider nirgendwo zu finden und ISBN gibt es auch keine dazu.


    Nein, der Originaltitel lautet Beatrice and Virgil.

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    Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
    (M.Zusak, Die Bücherdiebin)



    „Es kommt auch darauf an, wie wir [die Welt] verstehen, oder nicht? Und wenn wir sie verstehen, fügen wir doch auch etwas hinzu, oder nicht? Und wenn das so ist, ist dann nicht das ganze Leben eine Geschichte?"
    (Y.Martel, Schiffbruch mit Tiger)

  • Danke Mocca für Deine Rezension - mich hast Du sehr neugierig gemacht, so dass ich mir das Buch gleich auf meine Wunschliste gesetzt habe :wink:

    Würde dann gerne wissen, was du davon hälst. Es gibt so viel Diskussionsbedarf, aber ich finde niemanden, der es schon gelesen hat.

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    Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
    (M.Zusak, Die Bücherdiebin)



    „Es kommt auch darauf an, wie wir [die Welt] verstehen, oder nicht? Und wenn wir sie verstehen, fügen wir doch auch etwas hinzu, oder nicht? Und wenn das so ist, ist dann nicht das ganze Leben eine Geschichte?"
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  • Warum schreibt amazon und auch die deutsche Nationalbibliothek :scratch: A Twentieth Century Shirt :roll: siehe hier:
    https://portal.dnb.de/opac.htm?method=showFullRecord¤tResultId=Yann+Martel+-+Ein+Hemd+des+20.+Jahrhunderts%26any¤tPosition=0
    Danke für die Richtigstellung.


    Da war wohl der Praktikant dran :lol:

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    Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
    (M.Zusak, Die Bücherdiebin)



    „Es kommt auch darauf an, wie wir [die Welt] verstehen, oder nicht? Und wenn wir sie verstehen, fügen wir doch auch etwas hinzu, oder nicht? Und wenn das so ist, ist dann nicht das ganze Leben eine Geschichte?"
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  • Ich wusste gar nicht, dass es von Martel etwas Neues gibt.


    Ob mich das Buch wirklich reizt, kann ich noch nicht sagen, aber danke für die tolle Rezension.

  • Ich wusste gar nicht, dass es von Martel etwas Neues gibt.


    Ist auch eigentlich gar nicht neu, das Buch (sowohl Original als auch Übersetzung, wenn man Wikipedia trauen darf) ist von 2010. Ich hatte es auch schon länger auf dem Wunschzettel, dann war es Anfang Dezember plötzlich als "verfügbar ab Januar 2013" markiert. Ich weiß nicht, was da passiert ist, aber wirklich neu ist es jedenfalls nicht.

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    Die Worte waren bereits zu ihr unterwegs, und als sie ankamen, hielt Liesel sie wie Wolken in den Händen und wrang sie aus bis auf den letzten Tropfen.
    (M.Zusak, Die Bücherdiebin)



    „Es kommt auch darauf an, wie wir [die Welt] verstehen, oder nicht? Und wenn wir sie verstehen, fügen wir doch auch etwas hinzu, oder nicht? Und wenn das so ist, ist dann nicht das ganze Leben eine Geschichte?"
    (Y.Martel, Schiffbruch mit Tiger)

  • Dann wundert es mich umso mehr, dass das so komplett an mir vorbeigezogen ist. "Schiffbruch mit Tiger" fand ich doch so toll.