David Mitchell, Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

  • Inhalt (Klappentext):
    Stellen Sie sich ein Reich vor, das sich seit anderthalb Jahrhunderten von der Welt abschottet. Niemand darf hinaus, kein Fremder hinein. Und doch bietet ein schmales Fenster Einblick in diese nationale Festung: eine künstliche, ummauerte Insel in einem Hafen des Landes, bewohnt von einer Handvoll europäischer Händler.
    Das Land heißt Japan, der Hafen Nagasaki und die Insel Dejima, man schreibt das Jahr 1799. Dorthin versetzt David Mitchell seinen Helden, den jungen Handelsangestellten Jacob de Zoet, der hofft, auf der von Geschäftemachern und zwielichtigen Gestalten bewohnten Insel sein Glück zu machen. Stattdessen stößt ihn das Schicksal in ein wildes Abenteuer: Er verliebt sich in die Japanerin Orito, die Tochter eines Samurai und Hebamme, die sich vom Inselarzt Dr. Marinus medizinisch ausbilden lässt. Doch eines Tages stirbt Oritos Vater, und sie verschwindet. Plötzlich geht das Gerücht, sie sei in die Sklaverei verkauft worden, um seine Schulden zu begleichen. Jacob geht dem nach und wird in Falschheit, Verrat und Mord verstrickt........


    Autor:
    David Mitchell wurde 1969 in Southport, Lancaster, geboren, studierte Literatur an der University of Kent, promovierte in Komparatistik, lebte in Sizilien, Japan und Irland.
    Er gehört zu jenen polyglotten jungen britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem Llewellyn Rhys Prize ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker Shortlist. Sein Weltbesteller "Wolkenatlas" wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfimt.


    Allgemeines:
    Insgesamt 719 Seiten
    in drei Teilen von 1799 - 1817
    Ausführliches Personenverzeichnis
    Danksagung


    Meine Meinung u. Bewertung:
    Sobald man sich den historischen Romanen in der Buchhandlung zuwendet, bleibt der Blick auf diesem Buch haften. Das Cover ist so einmalig wie das Buch selber, denn es zeigt nicht nur irgendeine Gestalt vor buntem Hintergrund, sondern bezieht sich unmittelbar auf den Inhalt des Buches. Man sieht die vorgelagerte Insel Dejima, die Eingrenzung der Berge, ein Schiff, das Meer und Möwen. Eine außerordentlich künstlerische, liebevolle Gestaltung. Und es glitzert auch noch geheimnisvoll.
    Die ersten 50 Seiten kämpft man sich dann durch die vielen fremden Namen und Personen bis man einigermaßen den Boden unter den Füßen spürt. Auch David Mitchells Schreibstil ist zunächst ungewohnt, denn er liebt halbe Sätze, Gedankensprünge, lässt einen Geruch nicht unbemerkt verfliegen, beobachtet die Flügelschläge eines Falters. Später wird mir klar nur so kann er die neuen Eindrücke des Ankommenden dem Leser begreiflich machen. Ein Sprachengemisch, denn hier leben nicht nur Holländer, ein Kommen und Gehen stets unter genauester Kontrolle durch japanische Wachposten. Diener, "Ehefrauen auf Zeit", Sklaven, Handwerker, Dolmetscher etc. - viele Menschen auf kleinem Raum. Jeder hat sich für einige Jahre hier verpflichtet, hofft mit gefüllten Taschen heim zu kehren.
    Man taucht ein in den Alltag, verfolgt den Zusammenprall zweier völlig unterschiedlicher Kulturen und deren Denkweisen. Zeitweise öffnet sich ein kleiner Spalt in diese andere Welt, wenn zum Beispiel ein Besuch beim Statthalter von Nagasaki bevorsteht. Das Wissen der Dolmetscher ist mangelhaft, für manche Wörter gibt es keine Übersetzung oder sie kennen zumindest die Bedeutung nicht. Daraus entstehen Situationen, die zu peinlichen Missverständnissen führen zum Teil erheiternd, zum Teil sehr gefährlich. Jede Seite für sich hält sich für überlegen.
    Jacob de Zoet wird bald zu meinem Helden, aber auch die Charaktere weiterer Personen sind faszinierend. So lerne ich den ewig brummelden Dr. Lucas Marinus mit seiner Hinterlist, aber auch seiner Standhaftigkeit zu schätzen. Es zeigt sich, dass Freundschaft und Vertrauen gesetzte Grenzen überwinden kann.
    David Mitchells Buch ist weit mehr als nur ein historischer Roman. Es berichtet von gepressten Seeleuten und Sklaven, erzählt von Macht, Gier, Verrat und Schuld. Der Ausflug im zweiten Teil in ein abgelegenes, gut bewachtes Kloster dient nicht nur zur Spannung, sondern öffnet erneut ein Fenster, das den Dejima-Bewohnern verschlossen bleibt. David Mitchel bedient sich vieler poetischer Beschreibungen und entpuppt sich auch als kleiner Romantiker, aber er verfällt nicht dem üblichen Muster. Eine geniale Symphonie von Abenteuer, Exotik, Ideen und Literatur.
    Fazit: Ein spannender, fesselnder, aber auch kluger Roman, der seine Tiefen oft in den Gedanken des Einzelnen findet, und dem Leser eine fremde, meist unbekannte Welt vermittelt. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::thumleft:


    Dejima ist heute ein restauriertes Museum , das David Mitchell zum Schreiben des Romans inspirierte.
    Weiterhin ist die Seite beim Rowohlt Verlag sehr informativ. Sie bietet Hintergrundmaterial wer als Vorlage der Personen diente, und liefert Antworten zu Fragen, die David Mitchell unmöglich alle im Buch beantworten kann. Ein Buch, das mich noch einige Zeit beschäftigen wird.


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Das Buch liegt auch noch auf meinem SUB. Allerdings irritiert mich gerade, dass die deutsche Ausgabe auf über 700 Seiten kommt, die englische Hardcover-Ausgabe hingegen nicht mal auf 500. :-k


    Außerdem muss ich an dieser Stelle mal festhalten, dass ich, die normalerweise Cover völlig uninteressant findet, das Cover in diesem Fall extrem gelungen finde... was leider nicht für die englische TB-Ausgabe auf meinem SUB gilt. :(

  • Das Buch liegt auch noch auf meinem SUB. Allerdings irritiert mich gerade, dass die deutsche Ausgabe auf über 700 Seiten kommt, die englische Hardcover-Ausgabe hingegen nicht mal auf 500. :-k

    Eigentlich ist es gar nicht irritierend. Man schaue sich z.B. "Ein Lied von Eis und Feuer" an. Die beiden ersten deutschen Teile haben zusammen über 1000 Seiten, die englische Ausgabe, die die beiden deutschen behinhaltet, hat gerade mal 864 Seiten. :-,

  • Nun ich kenne die englische Ausgabe nicht, aber vielleicht ist der Zeilenabstand geringer, es gibt keine Leerseiten zwischen den Teilen etc. Ob das 200 Seiten ausmacht, schon möglich.
    Das englische Cover gefällt mir auch nicht. Um so mehr freue ich mich über dieses doch recht künstlerische Werk.
    Inzwischen habe ich mir weitere Fotos der vorgelagerten Insel angesehen. Da bleibt nicht viel Platz zwischen den Häusern, keine großen Spaziergänge, keine Auslaufmöglichkeit und das über Jahre. Sehr beklemmend.
    Nun und so ganz abschotten ließ sich das Land nicht, obwohl die Japaner alles dafür taten. Doch da wurden verbotene Waren geschmuggelt, und Gedankengut lässt sich ja auch weder verzollen noch aufhalten.
    Den Untergang der holländischen Ostindien Kompanie wundert wohl niemand, denn es wirtschaftete jeder in die eigene Tasche. So waren die Differenzen in den Büchern enorm. Sehr aufregend fand ich die kleine Seeschlacht. Die Briten hatten schon lange mehr als ein Auge auf diese Monopolstellung gerichtet.
    Ich hoffe das Buch findet viele Leser!

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Die ersten 50 Seiten kämpft man sich dann durch die vielen fremden Namen und Personen bis man einigermaßen den Boden unter den Füßen spürt.

    Ja, der Anfang, der macht es einem wirklich nicht ganz leicht. Welche Namen gehören zu welcher Person und welche Funktion hat sie? Wie wirkt sie sich auf die anderen aus und welche Handlungsmöglichkeiten sind ihr offen, welche hingegen nicht? Bis man einigermaßen einen Überblick hat sind in der Tat locker 50 Seiten vergangen.


    Generell tat ich mich anfangs schwer, gerade Jacob de Zoet und seiner Vernarrtheit in die Japanerin Orito zu folgen. So wirklich sympathisch war mir der Kerl zu Anfang nicht, ich gebe es ja zu. Der erste Teil, in dem sich in Dejima alles noch in relativer Ordnung befindet, war für mich daher eher ein "naja passt schon"-Leseerlebnis. Erst mit zunehmender Seitenzahl hat mich das Buch wirklich gepackt. Denn auf einmal entwickelt sich das Buch weg von ein paar korrupten Holländern, die zwischen Menschen, die sie nicht verstehen, eingepfercht sind, hin zu einem multinationalen politischen Machtkampf - persönliche Dimension inklusive.


    Und da muss ich jetzt dann doch ein paar Parallelen zu David Mitchells einzigem von mir noch gelesenen Buch Cloud Atlas ziehen. Nicht, weil "cloud atlas" und "hydra" wohl seine Lieblingswörter sind, sondern weil es mich am Ende mit einem ähnlichen Gefühl zurück lässt: Ein tolles Buch, aber irgendwie auch ziemlich anstrengend.

    Zitat

    Auch David Mitchells Schreibstil ist zunächst ungewohnt, denn er liebt
    halbe Sätze, Gedankensprünge, lässt einen Geruch nicht unbemerkt
    verfliegen, beobachtet die Flügelschläge eines Falters.

    Der Schreibstil mag dazu beitragen, gerade wenn an manchen Stellen Gedanken und Außenhandlung parallel dargestellt werden und im Zeilentakt wechseln. Andererseits gefällt er mir an manchen Stellen extrem gut. Beispielsweise der Blick des Magistraten über Nagasaki kurz vor dem Ende des Buches. Ich will gar nicht wissen, wie man auf so etwas kommt, oder wie viel Zeit ein Autor für diese eine Seite Text benötigt (oder gar, ob man das überhaupt übersetzen konnte, ohne etwas zu verlieren), aber genial bleibt es.


    Letzten Endes sind es dann :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: geworden, auch wenn diese im Vergleich zu meinem letzten gelesenen Buch hart erkämpft waren. "Gut" ist eben nicht gleich "gut" und dies ist ein sehr komplexes, thematisch wie sprachlich faszinierendes, aber auch forderndes "gut", kein "liest sich schnell runter und macht ganz locker Spaß"-gut.


    PS: Wie ich inzwischen festgestellt habe ist meine Ausgabe mit dem nichtssagenden Cover die amerikanische TB-Ausgabe. Die britische soll angeblich das gleiche Cover wie die gebundene Ausgabe haben. Die britische TB-Ausgabe hätte ich mir ja auch gerne gekauft, aber leider war sie vergriffen :wuetend: