Gaito Gasdanow - Das Phantom des Alexander Wolf

  • "Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe“, so beginnt der exilrussische Autor Gaito Gasdanow seinen schon 1948 veröffentlichten, aber erst jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“.


    Schauplatz ist ein Wäldchen im südlichen Kaukasus zur Zeit des russischen Bürgerkrieges. Der 16-jährige Erzähler irrt umher, hungrig, durstig und unendlich müde nach drei durchwachten Nächten, es ist der heißeste Tag des Jahres, als ihm plötzlich das Pferd unter dem Sattel weggeschossen wird. Er stürzt, rappelt sich auf und noch ehe der näherreitende Schütze auf ihn anlegen kann, gelingt es ihm geistesgegenwärtig, diesen mit zwei gezielten Schüssen aus seiner Pistole niederzustrecken. Nur einer von beiden kann diese zufällige Begegnung im Wald überleben - zum Schluß beugt sich der erfolgreiche Schütze noch einmal über den Sterbenden, blickt in dessen brechende Augen, und reitet schließlich auf seinem Pferd davon.


    Kein Gericht der Welt würde den 16-jährigen Schützen verurteilen können und wollen, schließlich gibt es keine Zeugen, es ist Bürgerkrieg und der Davongekommene handelte in Notwehr. Doch der innere Friede ist fortan dahin, denn der Erzähler weiß nun, daß er die Fähigkeit zu morden in sich trägt und sie im Falle des Falles abrufen kann – ohne zu zögern und ohne mit der Hand zu zittern. Dieses Wissen und die Erinnerung an die schicksalhafte Begegnung im Wald bestimmen für viele Jahre die Existenz unseres Erzählers, den wir nach dem Kriege im Exil in Paris wiederfinden und dem eine tief empfundene Reue es unmöglich macht, sich beruflich und im Privaten fest einzurichten und seinen Lebensentwurf selbstbestimmt zu verfolgen.


    Eines Tages jedoch fällt ihm ein schmales Büchlein mit Erzählungen eines Autors mit dem Namen „Alexander Wolf“ in die Hand und in einer der Erzählungen findet er die lange zurückliegende Episode im Kaukasus in allen Details noch einmal geschildert – diesmal jedoch aus der Sicht des vermeintlichen Opfers. So muß unser Erzähler feststellen, daß die vergangenen Jahre der Selbstbezichtigung auf einem Trugschluß, einem Mißverständnis beruhten und macht sich, zur Aussprache bereit, auf die Suche nach Alexander Wolf. Im Milieu der Exilrussen in Paris begegnet er dabei einem Vaterfreund Alexander Wolfs, demjenigen Weggefährten, der ihn einst angeschossen und halbtot im Wald auflas, wegbrachte und gesundpflegte; und er trifft auf Jelena, ebenfalls eine Exilrussin und ebenfalls einst mit Alexander Wolf über eine Liebesbeziehung verbunden, aus der sie jedoch versehrt und im letzten Moment entkommen konnte. Eng sind die Lebensgeschichten und Schicksale der beiden Schützen aus dem russischen Bürgerkrieg miteinander verwoben, ohne daß sich beide zunächst begegnen.


    Als der Erzähler seinem Phantom dann schließlich doch leibhaftig gegenübersteht, wird klar, daß die lang zurückliegende Begegnung im Wald auch das Leben des Alexander Wolf in eine andere Bahn gelenkt hat, denn dieser, dem Tode nur knapp entkommen, fürchtet fortan weder Schicksalsschläge noch Konsequenzen, geht als Zyniker durchs Leben und hinterläßt versehrte Biographien und menschliche Tragödien.


    Gasdanows Thema ist die schicksalhafte Wendung, die eine Tat, welche das Leben aller Beteiligten ändert und in neue Richtungen lenkt, ohne daß die Betroffenen Einfluß nehmen oder ihr Leben selbstbestimmt ändern können. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie das Leben der Personen wohl verlaufen wäre, hätte die Begegnung im südkaukasischen Wald damals einen anderen Ausgang genommen, letztlich sind jedoch alle Beteiligten so tief in Schuld, Reue, Trotz und Versehrtheit verstrickt, daß sie ihren vorgezeichneten Weg nicht mehr verlassen können.


    Es ist wohl das Verdienst des Hanser Verlages und der Übersetzerin Rosemarie Tietze, das dieser großartige Autor nun auch in der deutschen Übersetzung dem Leser zugänglich gemacht wird. 9 Romane und über 50 Erzählungen soll das Werk des Gaito Gasdanow beinhalten und wir dürfen uns hoffentlich auf weitere Übersetzungen freuen.


    Mein Fazit: Trotz einiger doch sehr gewollter und konstruierter Zufälle und Begegnungen der Personen untereinander eine beeindruckende Lektüre, welche noch einige Tage nachwirkt und den Leser nachdenklich über die Grundbedingungen seiner Existenz zurückläßt.

  • Jemand hatte mir vor Kurzem schon diesen Roman empfohlen, und Deine ausgezeichnete Rezi läßt das Buch nun wirklich ohne Reue auf meinen Wunschzettel landen. Danke für Deine Eindrücke! :thumleft:

  • Gasdanow? fragte die Kollegin, kannte ich auch nicht, jetzt schon, danke für die Rezension. Taucht der Autor tatsächlich erst jetzt in unserem Sprachraum auf?

  • Vielen Dank für die schöne Rezension, tsaueressig.
    Auch mich hat der Roman beeindruckt.


    hans.wolf:


    Lt. dem Nachwort von Rosemarie Tietze sind nur zwei Erzählungen auf Deutsch erschienen, "Der nächtliche Reisegefährte" in der Anthologie Russische Erzähler des XX. Jahrhunderts (1948 ) und "Der Irrtum" in der gleichnamigen Sammlung russischer Kurzprosa, übersetzt von Christiane Körner (2005)
    "Das Phantom des Alexander Wolf" : eine seinerzeit angekündigte Übersetzung wurde aus unbekannten Gründen nie veröffentlicht.
    (Zitat Ende)
    Hier ein link zu Gasdanow.

  • Auch ich habe gestern das Buch beendet und im Rahmen des "Monats-Challenge"-Threads wurde ich um meine Meinung gebeten. Da tsaueressig eine hervorragende, detaillierte und sachkundige Rezension geschrieben hat, möchte ich nur noch meinen ganz persönlichen Eindruck schildern: der Reiz dieses Buches lag, außer dass es in der Tradition russischer Literatur natürlich hervorragend geschrieben ist, in der Konfrontation des Leser auf dichtesten Raum mit wesentlichen Themen des Menschen wie Leben, Tod und Schicksal. Dabei entfaltet sich eine Gedankenwelt, die wiederum an die existenzialistische Literatur v.a. von Camus erinnert. Ich lese wirklich nicht andauernd hoch anspruchsvolle Literatur, hatte aber Phasen, in denen mich Camus und Sartre sehr ansprachen und später entdeckte ich russische Schriftsteller und jetzt fand ich es sehr spannend, plötzlich seit langem wieder ein Buch in der Hand zu halten, das beides verbindet- ich wußte das vorher nicht. Und mir wurde wieder bewußt wie sehr diese Bücher berühren und einen nachhaltig zum Nachdenken bringen können. Und wenn jetzt einer fragt "was heißt denn "diese Bücher"?"-ich weiss es selbst nicht so genau. Dieses eben ist eines davon.
    Im Übrigen fand ich noch einen Effekt sehr interessant: Ich wurde nicht nur durch die Erzählung in eine fiktive Vergangenheit geschickt, sondern durch das Nachwort der Übersetzerin in die reale europäische Vergangenheit und zusätzlich durch meine Assoziationen in meine eigene :geek: .Aber nun ist genug... :uups: .

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Das hört sich nach einem ganz tollen Buch an! Danke für deinen Eindruck, cyphella!

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  • Ich glaube, das wäre gut geeignet für unseren Literaturkreis! (notier.....)
    die wollten sowieso was Russisches lesen, und das kann ich doch guten Gewissens als
    Klassiker verkaufen, oder?
    Wie viele Seiten hat das Buch?
    Lg Frühlingsfee

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • Ich bin sehr dankbar, auf dieses Buch aufmerksam gemacht worden zu sein und habe es am Wochenende sehr genossen ! Besonders danke ich in diesem Fred für die beiden Beiträge von Tsaueressig und cyphella, die einander in wesentlicher und wichtiger Weise ergänzen.


    Man könnte das Buch sicherlich unter dem Gesichtspunkt des Handlungsstranges zusammenfassen, mit dem mehr oder weniger linearen Aufbau von den Zeiten des Bürgerkrieges im Süden Russlands und dem zentralen Ereignis, das auf den allerersten Seiten erzählt wird, bis hin zum zweiten Hauptschauplatz des Romans, das Paris in der Mitte der 30iger Jahre, wo der Ich-Erzähler auf die geheimnisvolle Exilrussin trifft und sich in sie verliebt. Aber auch, wo er nicht nur Kontakte findet, die ihn mehr oder weniger indirekt mit seinem « Mörder » UND seinem Opfer in Verbindung bringen, sondern wo er diesen selbst auch schließlich kennenlernen wird.


    Allein dieser Erzählstrang ist schon lesenswert und wäre reich. Doch letztlich scheint es mir – und im Nachwort von Tietze behauptet sie es ebenso – nicht um den puren Handlungsstrang zu gehen, sondern um das innere Seelenleben, die inneren Qualen, die das Leben begleitenden Fragen, die an jenem schicksalsträchtigen Tag Ausgang genommen haben (und in diesem Belang erinnert er tatsächlich an den psychologischen Scharfsinn eines Dostojewski!). Denn er hat sich nie innerlich erholen können von den damit verbundenen Fragen und Implikationen : es ist als ob das Leben auf seltsame Weise vergiftet wäre.


    Und entdeckt er nicht durch den Verleger und Wossnessenski, dass Wolf eine ebensolche Vergiftung erfahren haben mag ? Dies führt ihn zu Gedanken zum Thema der Zwiegesichtigkeit, der Gespaltenheit, die einfach sehr beeindruckend sind ! Die Erzählung seiner Geliebten von ihrem früheren Angebeten bestätigt diesen Eindruck des Grundthemas einer « Vergiftung » und die Existenz einer Parallelität zwischen Wolf und Ich-Erzähler. Als dann die Liebesgeschichte mit seiner neuen Geliebten beginnt, scheint uns und ihm, dass er nun Abstand gewinnen könne, ja, für eine Zeit verschwindet sogar das Bewußtsein an das damalige Geschehen. Bestände – so fragte ich mich zunächst bei dieser langen Einführung ins neue Thema (?) - der Sinn dieser Liebesgeschichte darin, ihn von den Wunden zu heilen ?


    Ich sehe hinter den Handlungen vor allem die stets vorangetriebene Selbst- und Fremdanalyse der Seele. Die dort geäußerten Vermutungen und Gedanken sind beeindruckend. Und es ist, wie cyphella dann anschneidet, das Grundthema des Menschen vor dem Tode, die Vorläufigkeit, scheinbare Absurdität seines Lebens.


    Es handelt sich trotz der circa 10 durch Pünktchen abgesetzten Abschnitte in gewissem Sine um einen durchlaufenden Text. Geschmeidigkeit UND Bruch kommen zusammen. Die Übergänge zwischen circa 4 Hauptthemeneinheiten sind seltsam unvorbereitet und abrupt, unerwartet, fast von einem Satz zum nächsten. Dann wiederum findet man ebenso eine seltsame Satzkonstruktion, die mich einige Male stutzen ließ, ob falsch Korrektur gelesen worden ist oder der Übersetzerin ein Fehler unterlaufen war. Dann lese ich den Satz erneut und ich sehe den « Sinn » und rechten Aufbau. Das wiederum läßt mich an eine im Russischen ziemlich tolle Sprache denken und eine großartige Übersetzungs- und Spracharbeit von Frau Tietze. Das ist schon ein Genuß !


    Ich verweise auch noch gerne auf einen sehr interessanten Artikel bei dradio, durch den ich ebenfalls von diesem Buch hörte: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1928140/


    Eine wunderbare Entdeckung und somit auch eine ausdrückliche Leseeempfehlung an die nun neugierig Gewordenen !

  • Über den Autor:
    Gaito Gasdanow (*6.12.1903 Sankt Petersburg; †5.12.71 München) war ein russischer Schriftsteller und Journalist. Mit knapp 16 Jahren trat er 1919 im Russischen Bürgerkrieg einem Verband der Weißen Armee bei. Als einfacher Soldat tat er Dienst auf einem Panzerzug. Nach der Niederlage der Weißen gehörte er zu den Truppenteilen, die von der Halbinsel Krim in die Türkei übersetzten und zunächst unweit von Istanbul interniert wurden. 1923 gelangte er im Strom der russischen Emigranten nach Paris. Dort arbeitete er zunächst als Lastenträger und Lokomotivenwäscher, dann als Mechaniker bei Citroën, schließlich viele Jahre als Fahrer eines Nachttaxis. Außerdem hörte er an der Sorbonne Vorlesungen in Literaturgeschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften.
    Ab Ende der zwanziger Jahre publizierte er regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften der russischen Emigration, seine Prosatexte bekamen teilweise sehr positive Kritiken, u.a. lobte ihn der Nobelpreisträger Iwan Bunin, doch waren die Honorare sehr gering. Angesichts seiner großen materiellen Not, aber auch wegen der Nachrichten von einer schweren Erkrankung seiner in der Heimat zurückgebliebenen Mutter bemühte er sich Mitte der dreißiger Jahre um die Rückkehr in die Sowjetunion. Er schrieb deshalb sogar einen Bittbrief an den Vorsitzenden des sowjetischen Schriftstellerverbandes Maxim Gorki, doch erhielt er keine Antwort.
    Gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Russland stammenden Frau schloss er sich im Zweiten Weltkrieg der Résistance an. Auch half das Ehepaar, jüdische Kinder zu verstecken. Nach dem Krieg schrieb er auf Französisch ein Buch darüber, mit dem er erstmals ein größeres Echo als Autor fand. Auch nahm er seine Arbeit als Nachttaxifahrer wieder auf, nebenbei publizierte er weiter literarische und journalistische Texte. 1952 erhielt er das Angebot, als freier Mitarbeiter des russischen Programms des vom US-Kongress finanzierten Senders Radio Liberation (später "Radio Liberty") über das Pariser Kulturleben zu berichten. Für seine journalistische Arbeit nahm er das Pseudonym „Georgij Tscherkassow“ an. 1954 erhielt er eine feste Anstellung in der Sendezentrale in München. Nach fünf Jahren in der bayerischen Hauptstadt kehrte er 1959 als Korrespondent des Senders nach Paris zurück. Nach weiteren sieben Jahren an der Seine übernahm er 1966 die Leitung des russischen Programms in der Zentrale, die sich in Schwabing am Rande des Englischen Gartens befand. Bis zu seinem Tod an Lungenkrebs lebte er in einer Dienstwohnung in der Osterwaldstraße 55.
    Begraben wurde er auf dem Russischen Friedhof bei Paris
    Zwischen 1922 und 1968 publizierte Gasdanow neben zahlreichen journalistischen Texten insgesamt neun Romane und 37 Erzählungen, sie erschienen in kleinen Auflagen in russischen Emigrantenverlagen zunächst in Paris, später in New York. Er wird dem Russkij Montparnasse zugeordnet, einer Gruppe junger russischer Emigranten im Paris der dreißiger Jahre, die sich bewusst von der russischen Prosatradition des 19. Jahrhunderts abwenden wollten, sich stattdessen an Marcel Proust, Franz Kafka, André Gide und James Joyce orientierten sowie Sigmund Freud verehrten.
    In Gasdanows Prosa vermischen sich Reflexionen und Assoziationen eines Ich-Erzählers und seiner Figuren mit der Schilderung von Situationen und Ereignissen. Die Fabel lässt sich nur aus vielen Fragmenten erschließen. Da seine Prosa immer wieder an die Fragen nach dem Sinn der menschlichen Existenz rührt, nannten ihn manche Kritiker den „russischen Camus“.


    Meine Meinung:
    Ich muss zugeben, dass ich zunächst mit völlig falschen Erwartungen an dieses Buch heranging. Zum einen war ich natürlich einfach neugierig, welche Neuentdeckung da auf dem deutschen Buchmarkt gelandet ist und zum anderen ließ ich mich ein wenig vom Klappentext in die Irre führen ..... mein Fehler :wink: Allein die Tatsache eines russischen Autoren hätte mich auf etwas anderes vorbereiten müssen, hätte ich ein wenig mehr darüber nachgedacht.


    Der hervorragenden Rezension von tsaueressig ist prinzipiell nichts hinzuzufügen, das Buch ist phantastisch, wenn man sich auf seine Themen eingestellt hat und sich darauf einlässt. Das Thema, wie sehr die Entscheidung/momentane Handlung eines Einzelnen das Leben vieler beeinflussen kann, wird mehrfach aufgegriffen. Ebenso wie die Idee, dass man sein Leben lang eben auf seinen Tod zugeht und nichts dagegen tun kann. Der Tod ist da und wartet..... Der Protagonist und sein Phantom erfahren das mehrfach bis zu einem absolut schlüssigen Ende. Eigentlich kann dieses Buch nicht anders enden, denke ich.
    Die Sprache Gasdanows ist wundervoll und seine Übersetzerin offensichtlich ebenso. Allerdings kämpfte ich doch manchmal mit den sehr langen verschachtelten Sätzen, die durchaus mal eine halbe Seite einnehmen können. Da setzte ich dann manches Mal mehrfach an, bis ich sie im Detail und in allen Bedeutungen und Aussagen begriffen hatte. Es ist anspruchsvolle Literatur, wir Leser werden durchaus gefordert, aber belohnt mit einer eindrucksvollen Geschichte und Thematik und einer wundervollen Sprachgewalt.
    Ein großer Dank hier auch an den Nachtrag der Übersetzerin, die durch ihre Informationen über Gaito Gasdanow das Buch und seine Ideen sowie den Autor verständlicher machen. Vielleicht hätte sie das als Epilog voranstellen sollen?


    Noch eine Anmerkung: ich kann absolut nicht verstehen, warum die geplante Veröffentlichung damals zurückgezogen wurde (Kalter Krieg?) und wie es passieren kann, dass ein derart phantastischer Autor sogar Jahre hier in Deutschland lebte, ohne dass sich ein Verlag seiner Werke annahm. Jetzt bleibt nur zu hoffen, das weitere Übersetzungen seiner Werke folgen werden.
    Ich habe dem Buch :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: gegeben :D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn



  • Noch eine Anmerkung: ich kann absolut nicht verstehen, warum die geplante Veröffentlichung damals zurückgezogen wurde (Kalter Krieg?) und wie es passieren kann, dass ein derart phantastischer Autor sogar Jahre hier in Deutschland lebte, ohne dass sich ein Verlag seiner Werke annahm. Jetzt bleibt nur zu hoffen, das weitere Übersetzungen seiner Werke folgen werden.


    Wenn Du mit der ersten Anfrage die Nichtveröffentlichung in Russland meinst, so vereinte Gasdanow in sich "zwei Übel" (mindestens): er gehörte zur Weißen Armee UND er flüchtete in den kapitalistischen Westen, lebte in Frankreich und Deutschland. Bis in die 90iger Jahre wurde er nicht gedruckt in der ehemaligen UdSSR.


    In Deutschland? Tja, eine traurige Frage. Hatman sein Talent nicht gekannt? Hat man keine Übersetzungen vorliegen gehabt? Er schrieb ja auf Russisch und wurde auch in New York in einer Exilzeitschrift veröffentlicht. Allerdings gab es einige Länder, in denen einige Sachen schon erschienen sind, so auf Französisch. In diesem Jahr - merkwürdiger Zufall - werden auch hier zwei seiner Romane in neuer Übersetzung herausgegeben!


    Und - ja! Nun warten wir gespannt, dass andere deutsche Übersetzungen folgen!

  • Wir können dem Schicksal nicht entkommen!

    Es ist schon eine außergewöhnliche Situation, in der unser Erzähler gerät. Im russischen Bürgerkrieg erschießt er, der noch 16 Jährige, einen Soldat, der auf einem edlen weißen Ross daher schnellt. Der Weißgardist schaut sich das Gesicht des Strebenden noch einmal an und nimmt dann den Schimmel zur Flucht. Jahre später in Paris erfährt er nun, dass wohl dieser Mann, dieser Tote, noch lebt. Der Erzähler hat ein Buch gelesen, in dem diese Begegnung in allen Einzelheiten beschrieben wird, und so keinen Zweifel offen lässt, dass es sich beim Autor um den Erschossenen handeln muss.


    >>Uns wurde das Leben unter der unabdingbaren Voraussetzung geschenkt, dass wir es tapfer verteidigen bis zum letzten Atemzug.<<


    Beide Männer kämpfen seither mit ihrem Leben. Der eine kann ohne den Gedanken an den Tod nicht mehr existieren; wird gefühlslos, unnahbar und ohne jegliche Intonation.


    >>Wenn wir nichts vom Tod wüssten, wüssten wir auch nichts vom Glück, denn wüssten wir nichts vom Tod, hätten wir keine Vorstellung vom Wert unserer besten Gefühle, wir wüssten nicht, dass einige niemals wiederkehren und dass wir sie nur jetzt in ihrer ganzen Fülle begreifen können.<<


    Der andere lebt mit der ewigen Schuld ein Mörder zu sein!


    >>Dein Denkvermögen behindert dich sehr, denn ohne es wärst du natürlich glücklich.<<


    Doch der Leser muss sich noch auf eine entscheidende Liebesgeschichte einlassen, ohne diese gäb es die Geschichte nicht.


    >>Überhaupt existiert die Ethik nur in dem Maße, wie wir sie zu akzeptieren bereit sind.<<


    Auch wenn widrige Umstände manchmal am Rad des Schicksals drehen, man entkommt seiner Bahn nicht, man durchläuft nur einen Umweg. Nein ich finde die Handlung nicht gestelzt oder zu sehr konstruiert, sondern sie spiegelt einfach die Wirklichkeit wieder, in der manchmal wiederkehrende Ereignisse oder Endlosschleifen vorkommen, und somit ist das Buch philosophisch tief und eine Leseempfehlung.


    >>Selbst die Sprache ist geprägt von der Disharmonie dieser Welt.<< Rosemarie Tietze aus dem Nachwort


    Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren und 1971 in München gestorben, gilt als einer der wichtigsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1923 lebte er im Exil in Paris, wo er begann, regelmäßig literarische und journalistische Texte zu veröffentlichen. Wegen der existentialistischen Prägung seines Werks wurde Gasdanow wiederholt als der „russische Camus“ bezeichnet. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen. Bei Hanser erscheint im Herbst 2012 erstmals in deutscher Übersetzung Das Phantom des Alexander Wolf.


    1950 wurde der Roman veröffentlicht und auch in viele Sprachen übersetzt, nur in Deutschland kam er nicht auf den Markt. Bisher gab es lediglich „Der natürliche Reisegefährte“ und „Der Irrtum“ von Gadanow.


    http://www.3sat.de/mediathek/i…lay=1&mode=play&obj=32825


    Carl Hanser Verlag 2012, Übersetzung: Rosemarie Tietze, Hardcover 17,90 €, 192 Seiten, ISBN 9783446238534

  • Mittlerweile habe ich das Buch auch gelesen. Als ich noch einmal eure wunderbaren und zutreffenden Rezensionen und Beiträge zu dem Buch durchgesehen habe, bin ich über das Wort Genuß gestolpert. Ja, es ist wirklich ein Genuß dieses Buch zu lesen. Die Übersetzerin hat eine phantastische Arbeit geliefert! Über den Inhalt und die Wirkung wurde schon so viel geschrieben und ich finde mich einfach in all euren Beiträgen wieder.
    Das ist wieder so ein Buch, das lange in einem widerhallt. Und ja, ich weiß, dass ich jetzt ziemlich übertrieben klinge, aber ich bin einfach nur begeistert von diesem Gesamtwerk. Es passt einfach alles für mich zusammen. Mal scheint die Sprache fast zu fließen und dann kommt es wieder zu Brüchen und man meint fast, dass das da ein Fehler sein müsste, aber bei genauerem Hinsehen und nochmaligem lesen merkt man wie bewusst diese "Disharmonien" (das Wort habe ich aus Buchkrümels Rezension übernommen) gesetzt wurden und wie toll das ganze auch zur Geschichte passt. Mir kommt das Wort Komposition in diesem Zusammenhang in den Sinn. Ich denke hier passt es.

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  • ... und entdeckte gestern, dass ein neues Werk von Gasdanow in Deutsch vorliegt (gerade Anfang Februar erschienen)! Die Kritiken hören sich gut an. Zum Inhalt:


    Die Geschichte einer großen Liebe und eine unvergessliche Schilderung Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1917 begegnet der verträumte Kolja im vorrevolutionären St. Petersburg der bezaubernden Claire und verliebt sich in sie. Aber das Phantasiebild dieser Frau ist für ihn so viel wirklicher als die Realität, dass er ihr nicht zu folgen wagt, als die verheiratete Claire ihn eines Abends zu sich lädt. Nach der langen, sinnlosen Grausamkeit des Bürgerkriegs will er nun, Jahre später, Claire im Pariser Exil wiederfinden. Mit den Mitteln des modernen Erzählens erweckt Gaito Gasdanow die vergangene Welt seiner Jugend wieder zum Leben. Ein Abgesang auf die romantische Liebe, der bis heute ergreift und berührt.


    (Kurzbeschreibung bei amazon.de)

  • ließ ich mich ein wenig vom Klappentext in die Irre führen ..... mein Fehler :wink: Allein die Tatsache eines russischen Autoren hätte mich auf etwas anderes vorbereiten müssen, hätte ich ein wenig mehr darüber nachgedacht.

    So in etwa ging es mir auch. Wie du schon richtig sagst: grober Denkfehler, da Russe. Das macht aber gar nichts aus, denn das Buch hat mir dennoch sehr gut gefallen.


    Viel muss man dazu wohl nicht mehr sagen, da wart ihr ja alle schon sehr fleißig. Beachtlich finde ich vor allem, dass das Buch erst in den Vierziger Jahren geschrieben wurde, denn es passt für mich thematisch sehr stark in die Zeit zwischen den Kriegen (in der es ja auch spielt) und von der Erzählweise her ausgehend, hätte ich fast erwartet, dass es näher an der Handlungszeit geschrieben worden wäre. Beim Lesen dachte ich mir bisweilen, es sei ein recht typisches Kind seiner Zeit... nur, dass es eben gar nicht aus dieser Zeit stammt, sondern sie nur wieder aufnimmt.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

  • Das Buch stand sehr lange auf meiner Wunschliste. Die Woche habe ich es mir endlich von einer Kollegin geliehen und wurde nicht enttäuscht. Ich kann mich allen Meinungen anschließen.
    Ich bin sehr beeindruckt von dem Schreibstil. An die langen verschachtelten Sätze, die von einer nüchternen Melancholie umgeben sind, habe ich mich schnell gewöhnt (Sogwirkung :drunken: )
    Die Brüche innerhalb der Erzählung sind sehr passend eingesetzt:
    Der Protagonist gibt seine Gedanken und Gefühle preis und hält einen dennoch auf Distanz, man kann ihn nicht wirklich greifen. Das fand ich faszinierend und musste des Öfteren an Stoner denken.
    Die Einblicke in das Seelenleben kamen mir vor wie Slow-Motion-Momente, wenn dann wieder der Übergang zur Handlung kam, war der Lesefluss ein ganz anderer.


    Fazit:
    Kein Buch für zwischendurch, ein besonderes Leseerlebnis! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: