Carol Birch - Der Atem der Welt / Jamrach’s Menagerie

  • Inhalt (Klappentext):
    Jaffy Brown wächst in ärmlichen Verhältnissen auf: Londons Docklands im Jahr 1857 stinken nach Moder und Unrat, sind bevölkert von Matrosen und Huren. Eines Tages begegnet Jaffy einem aus einer Menagerie entlaufenem Tiger, einem herrlichen Geschöpf auf geschmeidigen Pfoten. Eine Begegnung, die in ihm Sehnsucht nach fremden, exotischen Welten und nach der Weite des Meeres weckt. Mit seinem besten Freund Tim heuert er auf einem Walfänger an, der sie auf eine abenteuerliche Reise führt, tief hinein in die Stürme des Indischen Ozeans. Und schließlich an die Grenzen der Welt und ihres Menschseins.


    Autorin:
    Carol Birch, geboren 1951, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht und wurde u.a. mit dem David Higham Award ausgezeichnet. "Der Atem der Welt" wurde ein großer Publikumserfolg in England und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize 2011. Birch lebt in Lancaster.


    Allgemeines:
    393 Seiten
    3 Teile
    Danksagung, die noch einiges klärt


    Meine Meinung u. Bewertung:
    Das Cover mit dem herrlichen Tiger und im Hintergrund die alten Schiffe zog mich magisch an. Ich erwartete einen guten historischen Roman, den ich auch vorgefunden habe. Doch da war noch wesentlich mehr, und dieses mehr ist gewaltig.
    Der erste Teil des Romans widmet sich der Kindheit von Jaffe und u.a. der Begegnung mit diesem herrlichen Geschöpf, das er in kindlicher Unschuld einfach nur mal streicheln wollte. Das ungewöhnliche Erlebnis sollte sein Leben für immer prägen.
    London mit seinen dunklen, schmutzigen Strassen, seinen Gerüchen, seinen Menschen, deren Überlebenskampf und die exotische Menagerie sowie das Kennenlernen von Tim, dem späteren Freund - Carol Birch gelingt es alles sehr lebhaft darzustellen und ließ auf weitere Abenteuer mit den zwei Jungs hoffen.
    Der zweite Teil führt nun in die noch unbekannte Welt hinaus. Tim und Jaffe heuern mit dem erfahrenen Dan auf einem Walfänger an. Die erste Berührung mit dem Meer, die Angst, die Einsamkeit, aber auch die Verzückung des Neuen, und das Miteinander mit der Besatzung des Schiffes. Der erste Wal, es kommt ein bisschen Moby Dick Stimmung auf. Und da ist noch der Auftrag, den Dan erhalten hat, für die Menagerie einen Drachen zu finden oder das was Seeleute darunter verstanden. Niemand hatte je zuvor solch ein Wesen gesehen, aber es gab Gerüchte denen man folgen wollte um anschließend reich zurückzukehren. Er wäre die Sensation schlechthin.
    Doch das war das Verhängnis mit dem alles Übel begann, wenn man dem weitsichtigen, verrückten Skip glauben durfte.
    Es kommt zum Verlust des Schiffes und nun erfahren wir was es heißt der Urgewalt des Meeres ausgesetzt zu sein, wie weit Menschen gehen um zu überleben, was sie ertragen können. Und das hatte ich nun nicht erwartet. Abenteuer, Exotik ja, doch diese Abgründe! Was ich vorher schon als lebhaft, realistisch beschrieb machte hiervor keinen Halt. Allzu drastisch werden die Einzelheiten geschildert, aufpeitschend, aufwühlend, schockierend und doch so verständlich, die Ehrfurcht vor dem Leben.
    Das hat eine Frau geschrieben - erstaunlich, hätte ich ohne es zu wissen nie vermutet.
    Der dritte Teil behandelt das Thema Schuld und Freundschaft über den Tod hinaus, sehr einfühlsam, und ich möchte es ohne abzuwerten auch sehr weiblich nennen.
    Carol Birch hat zwei Herzen in der Brust. Ihre Erzählkunst möchte ich dabei nicht unerwähnt lassen.
    Fazit: Ein sehr vielseitiges Buch, das die Liebe zum Reisen und Erforschen genau so befriedigt wie die Sensationsgier, die in jedem von uns steckt, auch wenn manche das nur ungern zugeben. Zart besaitete seien jedoch gewarnt, es gibt brutale Momente, die der Nachtruhe nicht unbedingt förderlich sind.
    Von mir gibt es :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: und ein kleines Plus. :thumleft:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Danke für deine Rezension, Wirbelwind :thumleft: Du hast mich auf das Buch neugierig gemacht.

    Das Cover mit dem herrlichen Tiger und im Hintergrund die alten Schiffe zog mich magisch an.

    Das Cover ist wirklich toll!

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Farast
    Ja regt doch gleich die Phantasie an, und endlich mal ein Cover, das auch im Bezug zum Buch steht. Heutzutage ja nicht unbedingt die Regel. :wink:


    jessy
    dann wünsche ich dir in deinem Sinne, dass du es bald lesen kannst.


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Danke für die ausführliche Rezension - das Titelbild spricht mich persönlich nicht so wirklich an, aber nach dem Lesen deiner Rezension bin ich neugierig auf das Buch geworden und werde es mir beim nächsten Buchgroßeinkauf wohl zulegen.

  • Die Weite des Meeres – Schönheit und unermessliche Schrecken


    Mit „Der Atem der Welt“ fand ich bei Amazon Vine wieder mal ein Buch, welches mir wahrscheinlich in einer Buchhandlung gar nicht ins Auge gefallen wäre. Auch weil ich von der


    Autorin Carol Birch


    bislang noch nie gehört hatte. Dabei hat die 1951 in Manchester geborene und derzeit in Lancaster lebende Britin, die Anglistik und Amerikanistik studierte, schon 11 Romane veröffentlicht, von denen außer diesem, ihrem aktuellsten Werk, auch schon drei ins Deutsche übersetzt wurden.

    Der Atem der Welt


    In London, Ende des 19. Jahrhunderts, wächst Jaff in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Eines Tages hat der 8-jährige Junge eine schicksalhafte Begegnung mit einem bengalischen Tiger. Charles Jamrach, aus dessen Menagerie das Tier entlaufen war, ist vom Mut des Jungen beeindruckt und gibt ihm Arbeit. Tim, der ebenfalls bei Jamrach arbeitet, wird nach einigen Anlaufschwierigkeiten Jaffys bester Freund. Als Tim auf einem Walfänger anheuert, schließt sich der Freund kurzerhand an und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, die seine Welt für immer verändern wird…

    Die Seefahrt war ein verdammt hartes Brot


    Anfangs ließ sich die aus der Ich-Perspektive des Hauptprotagonisten erzählte Geschichte in einfacher aber sehr ausgeschmückter Sprache wunderbar flüssig lesen. Sehr bildhaft konnte ich mir als Leserin das Leben von Jaff vorstellen. Dabei schaffte es die Autorin hervorragend sowohl das schlimme Elend, in der Umgebung des Jungen, als auch seinen Lebensmut und seine Träume anschaulich darzustellen. Ich freute mich, dass sich aus den Startschwierigkeiten der Jungen miteinander dann doch nach und nach eine Freundschaft entwickelte und fand dabei gelungen herausgearbeitet, dass manche Menschen eben gewisse Charakterzüge an sich haben, die man nicht ändern aber durchaus tolerieren kann.


    Die große Fahrt war trotz all ihrer durchaus bildhaft und nahezu realistisch geschilderten Härten zu Beginn ein einziges Abenteuer. Ich konnte mich in die Geschichte vertiefen und sah nahezu alle Ereignisse bildhaft vor mir. Dabei wurde von der Autorin auch nichts romantisiert oder beschönigt.


    Allerdings ging sie mir persönlich dann im letzten Drittel der Geschichte doch etwas zu sehr ins Detail und ich empfand Längen. Natürlich empfand ich die Erlebnisse der Männer als grauenvoll und um nichts in der Welt hätte ich mit ihnen tauschen wollen. Aber dass jede Wiederholung der Ereignisse auch in allen Details niedergeschrieben wurde, empfand ich als langatmig. Ich bin der Meinung, dass die Autorin dort durchaus hätte straffen können, ohne dass die Geschichte an Authentizität eingebüßt hätte.


    Trotzdem ist die Message, dass Freundschaft und das Leben an sich das Wertvollste in unserem Dasein sind, bei mir angekommen und der Ausklang der Geschichte versöhnte mich dann auch wieder mit dem durchgestandenen Spannungsabfall. Alles in allem empfand ich den teils auf tatsächlichen historischen Ereignissen aufbauenden Roman „Der Atem der Welt“ als sehr lesenswert und werde die Autorin im Auge behalten.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Carol Birch führt ihre Leser nach London in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein wenig lebte in meiner Fantasie die Welt des Charles Dickens auf. Ich lese Romane, die in dieser Zeit angesiedelt sind, an sich sehr gern und selten hat mich einer so zwiegespalten zurückgelassen wie dieser. Den Erzählstil der Autorin mochte ich. Durch die Verwendung vieler Adjektive erscheint die erzählte Geschichte sehr plastisch und man kann sich die Gegebenheiten sehr gut vorstellen. Andererseits hätte ich manches gern noch ausführlicher beschrieben gehabt, so zum Beispiel die Kindheit des Jaffy Brown in den Londoner Docklands. Es fiel mir auch etwas schwer, mich in den Roman einzulesen. So richtig einfangen konnte mich Carol Birch erst zum Zeitpunkt des Schiffbruchs. In diesem Abschnitt waren die Personen besonders gut charakterisiert, so wie im echten Leben in Notsituationen die Charaktereigenschaften besonders gut sichtbar werden, so empfand ich das auch in diesem Fall. Ungeschönt und psychologisch gekonnt wurden die Ängste und Gewissenskonflikte der Protagonisten dargestellt und manch harte Szene musste der Leser verdauen, Szenen, die nahe gingen und in denen auch Abscheu aufkommen konnte. Die Walfangkapitel erinnerten mich sehr an Moby Dick, konnten aber in ihrer Intensität nicht mit dem Klassiker mithalten. Im Nachwort wurde dann auch deutlich, auf welchen wahren Begebenheiten der Roman fundiert und die Parallelen zum Werk von Melville wurden verständlicher.


    So hin- und hergerissen, wie ich beim Lesen des Romans war, bin ich auch bei dessen Bewertung, weil ich nicht an handfesten Fakten festmachen kann, was mich gestört hat. Vielleicht waren die Erwartungen meinerseits zu hoch, vielleicht war es das falsche Buch zur falschen Zeit. In Anbetracht der wirklich schönen Beschreibungen von Menschen, Tieren, Begebenheiten und Umwelt vergebe ich 3,5 von 5 Sternen.

  • Ich habe aus einer Laune heraus dieses Taschenbuch gekauft (das Gelb passte gerade so schön zu meiner Osterlaune), ohne genau zu wissen was mich eigentlich erwartet. Nun habe ich etwas weniger als die Hälfte durchgelesen und musste mich endlich in diesem Thread kundig machen, was andere eigentlich von diesem Buch halten. Mir geht es ganz ähnlich wie Karthause. Romane, die in London spielen, und dann auch noch im 19. Jahrhundert, haben es nicht schwer, von mir gemocht zu werden, wie auch dieses. Der Plot des ersten Teils spielt im Dickens-Universum, und auch wenn ich Birchs Erzählstil sehr ansprechend finde, ist er allerdings nicht mit Dickens vergleichbar. Birchs Stärke liegt darin, menschliche Gefühle und Zustände, später im zweiten Teil aber auch die Atmosphäre an den einzelnen Orten so plastisch und dicht zu beschreiben, als wäre man selbst dabei. Die Angst des achtjährigen Jungen nachts im Importladen, der erste Suff, die ambivalenten Gefühle Jaffs gegenüber Tim- all das fühlte ich beim Lesen fast körperlich, und das macht mir das Lesen gleichzeitig auch sehr schwer. Wer will sich schon seekrank fühlen, panisch werden oder einen Wal schlachten? Und wenn ich mir die Rezensionen so durchlese, wird ja noch alles viel schlimmer- uaahhh....

    Das hat eine Frau geschrieben - erstaunlich, hätte ich ohne es zu wissen nie vermutet.

    Ehrlich gesagt, habe ich das auch an so manch ekliger Stelle gedacht, auch wenn das natürlich irgendwie ein Klischee ist. Andererseits kommen die meisten Figuren gut weg: große menschliche Enttäuschungen und Abgründe blieben bisher aus. Ich fand es fast ein bißchen unwahrscheinlich, wieviel Glück die beiden Protagonisten in ihrer Kindheit hatten. Verschiedene soziale Belastungen blieben natürlich nicht aus, aber Tim und Jaff wurden von den meisten Erwachsenen wohlwollend behandelt, von Mr. Jamrach sogar gefördert. Vielleicht ist dies sogar das weiblichste Merkmal :wink: .
    Die Grundthemen des Buches sind bisher Sehnsucht, Abenteuerlust, die Liebe, Dinge zu erfahren mit allen Sinnen und ganz und gar dabei zu sein. Man könnte auch sagen, es geht um Jugend. Ich bin gespannt, was mich noch alles erwartet...

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Ich habe das Buch inzwischen zu Ende gelesen, was mir nicht sehr leicht viel. Gerade da man sich aufgrund der sehr plastischen Sprache gut in die Figuren hineinfühlen kann, war all das Leid während des Schiffbruches für mich kaum zu ertragen und vorgestern hatte ich fast schon beschlossen, das Buch abzubrechen- was ich mir eigentlich sonst nie vornehme. Mir erschienen viele Szenen nahezu voyeuristisch und ich fragte mich, ob die ekelerregenden Details und das Siechtum so unter die Lupe genommen werden mussten, und warum ich so etwas überhaupt lesen soll.
    Nach und nach fiel mir jedoch auf, das zwischen all dem Schrecken aber was sehr Tröstendes durchschimmerte, nämlich dass es zwar sehr viel Grausiges, aber nichts Grausames gab und das es in dieser Geschichte darum ging, dass die Menschen trotz allem um ihre Würde kämpfen und sie tatsächlich auch irgendwie behalten.
    Ich bin froh, das Buch zu Ende gelesen zu haben, der letzte Teil half zudem, das "Erlebte" zu verstehen und sich mit ihm zu versöhnen. Ich denke der Autorin ist es bewundernswerterweise gelungen, den Leser die Hölle, die Jaff durchlebte, nahezubringen, die oben erwähnten Längen des Buches waren mit großer Sicherheit stilistisch gewollt. Durch Birchs feinfühlige psychologische Darstellung von Jaffs Weiterentwicklung wird klar, dass es sich bei den anscheinend voyeuristischen Szenen nicht um reisserische Elemente handelt, sondern um den Versuch, Jaffs Trauma zu begründen.
    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: - ein Stern Abzug, weil es wirklich stark an der Grenze des Zumutbaren liegt und ich es nie wieder lesen würde :wink: .

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Als Achtjähriger wird Jaffy Brown, der Mitte des 19. Jahrhunderts im übelsten Slum von London aufwächst, zu einer kleinen Berühmtheit, nachdem er ganz ohne Angst auf einen entlaufenen Tiger zugegangen ist, ihm die Nase gestreichelt hat und dafür "belohnt" wurde, indem der Tiger ihn ins Maul nahm.


    Zu Hilfe kam ihm Jamrach, der zeitweilige Besitzer der Raubkatze, ein Importeur exotischer Tiere, der den vorwitzigen, mutigen Knirps spontan ins Herz schließt und ihm eine Arbeitsstelle in "Jamrach's Menagerie" anbietet, was natürlich viel besser ist, als Fäkalien zu schaufeln, womit Jaffy früher zum Lebensunterhalt für sich und seine Mutter beigetragen hat.


    Jaffys ganz großer Traum ist es aber, zur See zu fahren, und als er alt genug ist, heuert er gemeinsam mit seinem Freund Tim auf einem Walfänger an, nicht ohne einen Spezialauftrag von Jamrach: die "Lysander" soll nicht nur Wale jagen, sondern auch einen leibhaftigen (Komodo-)Drachen mit nach England bringen. Keine einfache Mission, die am Ende in die härteste Belastungsprobe mündet, die man sich vorstellen kann.


    Carol Birch ist eine Meisterin der Schilderungen, wobei sie nicht "herumlabert" oder sich seitenweise in überdetaillierten Beschreibungen ergeht. Das Buch ist auch mit knapp 400 Seiten nicht allzu dick. Sie schafft es, mit wenigen Worten schillernde Bilder im Kopf zu erzeugen, ob von den entsetzlichen Hygieneverhältnissen in Londons Armenvierteln, dem bunten Sammelsurium von Tieren in Jamrachs Menagerie oder dem Leben auf dem Schiff. Alltagsszenen sind dabei genauso fesselnd wie dramatische Vorkommnisse, von denen es nicht gerade wenige gibt.


    Jaffys schicksalhafte Seereise nimmt dabei den größten Raum im Buch ein, das Davor und Danach bildet den - nicht minder interessanten - Rahmen. Was routinemäßig mit dem Kennenlernen der Schiffsbesatzung und dem ersten Landgang auf den Azoren beginnt, entwickelt sich zu einem packenden Seefahrerdrama, das nichts für schwache Nerven und schon gar nichts für schwache Mägen ist.


    Wer mit Blut und Gedärmen und Jagdszenen nicht klarkommt, sollte lieber nicht zu dem Buch greifen. Es ist beileibe kein Splattermovie im historischen Gewand, aber einige Passagen haben es schon heftig in sich (dass der Walfang relativ detailliert geschildert und an Bord ziemlich viel gekotzt wird, ist noch quasi harmlos), und das eine oder andere hätte man in dieser Deutlichkeit vielleicht nicht gebraucht. Aber es ist nicht Ekel um des Ekels willen, die Ürgs-Szenen haben im Gesamtkontext durchaus ihre Berechtigung.


    Für seefeste und auch anderweitig belastbare Leser ein fesselndes, sprachgewaltiges Abenteuer mit tollen Charakteren und vielen Überraschungen.


    ... und jetzt weiß ich auch wieder, warum ich mir das Buch seinerzeit gekauft hatte. @Wirbelwind mit ihrer schönen Rezension war schuld daran. Das Cover mit dem hübschen Tiger finde ich immer noch zauberhaft.

  • Inhalt

    Kinder wie Jaffy Brown lernen im London des 19. Jahrhunderts auf der Straße fürs Leben. Der Achtjährige teilt sich mit seiner Mutter ein Zimmer mit zwei Prostituerten, für die er gegen Bezahlung Botengänge übernimmt. Schmutzig, hungrig und barfuß sucht der Junge in den offenen Abwasserkanälen nach Penny-Stücken. Über dem Viertel nördlich der Themse, das später East End genannt wird, hängen die Gerüche der Gerbereien wie eine Glocke. Jaffy wird mitten auf der Straße von einem gewaltigen bengalischen Tiger geschnappt und ein Stück mitgeschleift. Dieses (historisch belegte) Ereignis führt zur Bekanntschaft des Jungen mit dem Tierhändler Mr Jamrach, der Jaffy Arbeit in seiner Menagerie verschafft (die ebenfalls ein historisches Vorbild hat). Das Mistschaufeln übernimmt Jaffy zusätzlich zu seinem Job als Schankjunge im Spoony Sailor. Vom Besitzer des Pubs erhält Jaffy ein Paar Schuhe - vermutlich die ersten seines Lebens. Jaffys Kollege in Jamrachs Menagerie ist Tim Linver. Vom ersten Tag an kann der Junge sich darüber aufregen, dass Tim nur arbeitet, wenn der Chef gerade hersieht und trotzdem von beiden den besseren Job im Büro ergattert. Jaffy hegt erbitterte Eifersucht gegen Tim und ist dennoch fasziniert von dessen Entschluss zur See zu fahren wie seine Brüder.


    Charles Jamrach stattet im Auftrag eines betuchten Kunden die "Lysander" für eine Expedition aus, auf der einer der letzten Wale gefangen und aus Indonesien ein "Drache" nach England gebracht werden soll. Noch niemand hat das Tier, eine Art Waran, gesehen, aber Seeleute berichten, dass sie jemanden getroffen haben, der jemanden kennt, der das unheimliche Wesen gesehen hat. Jaffy heuert als Fünfzehnjähriger auf der Lysander an und entdeckt, dass er sich wohl schon seit der Zeit im Mutterleib nach dem Meer gesehnt haben muss. Voller Bewunderung sieht er zu den wenigen erfahrenen Seeleuten an Bord auf, wie zu Dan, der sich auf den Azoren in einer fremden Sprache verständigen kann. Die Beziehung zu Tim bleibt von Jaffys Eifersucht geprägt, der überzeugt ist, der bessere Seemann zu sein. Die Jagd auf den Waran ist kaum weniger gefährlich und blutrünstig als der Fang des Wals. Auf der Heimreise gerät die Lysander in einen heftigen Sturm, und die Mannschaft erlebt einen Schiffbruch, der den Erlebnissen der Besatzung des Walfängers Essex (1820) nachempfunden ist. In dieser Geschichte gibt es keine Helden, es geht nur darum zu überleben, ohne dabei wahnsinnig zu werden. "Alldies ist schon sehr lange her ...", mehrere kurze Einschübe verdeutlichen, dass der Erzähler Jaffy inzwischen am Ende seines Lebens seine Erinnerungen zum Besten gibt. Nach seiner Rettung hat er schließlich in relativer Sicherheit in London sein Auskommen als Zeichner gefunden.


    Fazit

    Die Welt der Seefahrt und des Walfangs lässt Carol Birch ihren Jaffy sehr nüchtern und in drastischem Jargon schildern. Die Fabulierlust der Autorin hat mich beeindruckt, mit der sie auf nur zwei Seiten die Atmospähre im London des Jahres 1857 hervorzaubert. Jaffys Reise verläuft längst nicht so exotisch wie das Abenteuer mit dem Tiger vermuten lässt, auch die erneute Aufarbeitung des Untergangs der Essex konnte mich nicht besonders fesseln. Dennoch war Jaffys Entwicklung vom barfüssigen Kind, das durch die Fussbodenritzen des Hauses die Themse blitzen sieht, zum weitgereisten Seemann die passende Unterhaltung für ein gemütliches Lesewochenende.


    Textauszug

    "Mittlerweile war es dunkel, und das Feuer unter den Trankesseln brannte schon. Rainey und Comeragh standen auf dem Schneidgerüst, der so genannten Flennstelling, und befestigten einen Haken hinter der Vorderflosse. Die Winde wurde in Gang gesetzt, und er wurde wie ein Apfel geschält, wurde langsam, wie ein Schwein am Spieß, solange gedreht, bis das Decksstück, breit wie ein Doppelbett und so lang, wie ein Haus hoch ist, bluttropfend von der Takelage hing." (S. 134)


    (16.9.2012)


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

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    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das Buch ist nicht schlecht, das muss ich sagen. Von der Thematik her sehr ansprechend und auch durchaus spannend. Aber nicht durchgehend,:!: das ist der Minus Punkt für mich. Für mich gab es zu viele Längen, die Geschichte kommt in ihrer Entwicklung nur schleppend voran. Die Protagonisten sind zwar wunderbar gezeichnet. Alle Charaktere sind lobenswert entwickelt worden und auch spannend für den Leser zu beobachten. Aber die Handlung an sich, die hätte etwas anderes gebraucht. Denn es war stellenweise einfach nur langweilig, weil die Geschichte nicht vom Fleck kam. Es wurde erzählt und erzählt, und die Autorin kam nicht voran. Man konnte noch so lange lesen, es gab nichts Neues zu berichten. Das ist jetzt natürlich überspitzt, aber so empfand ich es.O:-)

    Doch alles in allem, kann man die Geschichte nicht schlecht lesen. :winken: Wenn man denn das unbedingt will. Ich wollte es... :-,

    Großen Eindruck allerdings hat es bei mir nicht hinterlassen. Kann man lesen, muss man nicht. Verpasst man nicht viel.

    2024: Bücher: 97/Seiten: 42 622

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
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    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

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