John Irving: In einer Person / In One Person

  • Der Autor:
    John Irving, 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren, lebt im südlichen Vermont. Seine bisher zwölf Romane wurden alle Weltbestseller und in 35 Sprachen übersetzt, vier davon wurden verfilmt. 1992 wurde Irving in die National Wrestling Hall of Fame in Stillwater, Oklahoma, aufgenommen, 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für seinen von Lasse Hallström verfilmten Roman ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹. (Quelle: Verlagswebsite)


    Kurzbeschreibung:
    Auf der Laienbühne seines Großvaters in Vermont lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist. (kopiert von amazon.de)


    Inhalt:
    “Thus play I in one person many people, and none contented.” – Dieses Zitat aus William Shakespeares “Richard II” hat Irving seinem Roman vorangestellt, und es passt gut zu Billy, dem Ich-Erzähler dieser Geschichte, der auf sein Leben zurückblickt und erzählt, wie er von einem Jungen, der sich scheinbar immer in die falschen Leute verliebt, zu einem Erwachsenen wird, der sich keinen Stempel aufdrücken lassen will.
    Im kleinen Ort First Sister in Vermont wächst Billy recht behütet bei seiner Mutter und deren Familie auf. Um seinen Vater wird ein großes Geheimnis gemacht, das der Junge nicht lüften kann, doch zum Glück hat er Richard Abbott, den neuen Freund seiner Mutter, der ihm ein Vater ist. Richard, der die Theatergruppe des Ortes und der hiesigen Jungenschule leitet, bringt Billy Einiges über Literatur bei und über die großen Dramen und Romane vergangener Zeiten. Billy, der schon als Teenager merkt, dass er anders ist als die anderen Jungen an seiner Schule, weil er sich nicht nur für nicht für Mädchen, sondern eher für ältere Frauen, vor allem aber für einen ganz bestimmten Jungen seiner Schule interessiert, hat es in seiner Familie gerade durch seine Neigungen nicht leicht: zwar ist Billys Großvater Harry dafür bekannt, dass er in jeder Theaterinszenierung Frauenrollen spielt und darin ziemlich brilliert; die Frauen in Billys Familie aber sind entsetzt, als sie zu vermuten beginnen, Billy könnte “sexuell anders” sein als Andere.
    Und so ist es für Billy nicht einfach, seinen Weg und vor allem sich selbst zu finden. Es sind die späten fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und Toleranz gegenüber Homo-, Bi- oder Transsexuellen ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Und doch merkt Billy, dass er gegen seine Gefühle, so beängstigend sie manchmal auch für ihn sein mögen, nicht ankämpfen kann und will, und er begegnet immer wieder Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiten und die ihn so lieben und wertschätzen, wie er ist.
    Billy seinerseits erkennt, dass bei weitem nicht so viele Menschen “normal” sind, wie man denken könnte, und sein Weg führt ihn immer wieder mit Menschen zusammen, die wie er einfach nur sein wollen, wer sie sind, und die sich zum Teil ganz anders als er durchs Leben schlagen und ganz anders mit Vorurteilen umgehen. Wir dürfen Billy bis zu seiner Arbeit mit der Abschlussklasse 2011 begleiten und erleben, wie sich nicht nur er selbst, sondern auch die Welt um ihn herum in den gut fünfzig Jahren verändert hat.


    Meine Meinung:
    Es gibt sie, diese Romane, die etwas mit dir machen, wenn du sie liest, und “In One Person” ist einer davon. Es ist – für mich – der beste Roman, den ich von John Irving gelesen habe – nicht der erste Irving, bei dem ich gelacht habe, aber der erste, der mich zum Weinen gebracht hat.
    Billys Geschichte wird sehr poetisch und einfühlsam, dann wieder schonungslos und lustig, zum Teil auch – wie man es von Irving kennt – etwas skurril erzählt. Für jede Situation scheint Irving genau den richtigen Ton zu treffen, und viele der Kapitel klingen nach dem Lesen noch eine ganze Weile nach. Nicht nur Billy, auch viele andere Charaktere des Romans, die sich in keine Schublade stecken lassen, die einfach nur auf ihre Art und Weise leben möchten, werden von Irving einzigartig und klar herausgestellt, ohne dass das Ganze übertrieben oder pathetisch wirken würde. Dennoch gibt es in diesem Roman auch viele ernste Töne, wenn es um Diskriminierung, Vorurteile, Gewalt und letzten Endes auch um AIDS geht, Themen, mit denen sich Billy und die Menschen in seinem Umfeld täglich beschäftigen müssen.
    Sehr glaubwürdig schildert Irving Billys Lebensgeschichte vom zurückhaltenden, sensiblen Teenager, der nicht weiß, wie er mit seinen “wrong crushes” umgehen soll, zu einem selbstbewussten Mann, der frei zugibt, bisexuell zu sein, Transsexuelle attraktiv zu finden, die noch nicht operiert sind und somit männliche und weibliche Attribute haben. Billy geht seinen Weg auf eine solch natürliche Weise, dass man ihn von Anfang an einfach mögen muss und das Gefühl hat, in eine authentische und sehr schön erzählte Geschichte eintauchen zu können.
    Nicht nur aufgrund von Irvings eigener Erzählweise, die auch in diesem Roman sehr dicht ist, erweist sich Irving hier einfach als ein Autor für Leser. Gut, wer nicht gern liest, wird vermutlich auch eher im Zweifelsfall nicht zu Irving greifen, aber bei “In One Person” verlangt Irving seinen Lesern literarisch schon auch ein bisschen was ab. Ich war beeindruckt von den vielen Anspielungen auf große Romane wie “Great Expectations” und “Madame Bovary” (es gibt noch weitere), und es hat auch Spaß gemacht, sich parallel zu “In One Person” mit Shakespeare, seinen Dramen und auch den gesellschaftlichen Vorstellungen des elisabethanischen und des viktorianischen Zeitalters auseinanderzusetzen, weil man manche Passagen dieses großen Romans dann meiner Meinung nach anders lesen und vielleicht so verstehen wird, wie Irving sie gemeint hat.
    Billy selbst liest als Jugendlicher gern Romane aus dem England des 19. Jahrhunderts, die den Werdegang eines jungen Mannes in der Gesellschaft und aller Widrigkeiten zum Trotz erzählen, bis er sein Glück gefunden hat. An diese Tradition knüpft Irving mit “In One Person” an und macht aus Billy einen “David Copperfield” oder Pip Pirrip (“Great Expectations”), der nunmehr seinen Werdegang erzählt, bis er in unserer Zeit angekommen ist. Ein Roman, der einerseits ganz eigen ist, andererseits in gewisser Hinsicht an die Tradition der Bildungsromane anknüpft – und der hoffentlich eines Tages einer der großen Klassiker der Weltliteratur sein wird.


    Ich würde zehn Sterne geben, wenn ich könnte. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Wow, was für eine schöne, gefühlvolle Rezension. Ich freue mich sehr auf die deutsche Ausgabe! Danke!

    Da es der Gesundheit förderlich ist, habe ich beschlossen, ab heute glücklich zu sein (Voltaire)

  • Danke, liebe Strandläuferin, für diese wirklich sehr schöne Rezi. :thumleft: Das Buch ist schon lange vorbestellt. Aber wenn du schreibst, dies war für dich der beste Inving, sollte ich vorher wohl noch meinen Irving SuB abbauen, damit die Altbestände nicht unter diesem neuen Roman zu leiden haben, der ja dann doch als Maßstab herhalten müsste.

  • Aber wenn du schreibst, dies war für dich der beste Inving, sollte ich vorher wohl noch meinen Irving SuB abbauen, damit die Altbestände nicht unter diesem neuen Roman zu leiden haben, der ja dann doch als Maßstab herhalten müsste.

    Ich habe auch noch nicht alles von Irving gelesen, vielleicht kommt noch irgendwas ähnlich Tolles, aber da mir hier Irvings Erzählstil einerseits so vertraut und andererseits irgendwie neu vorkam und ich seine Arbeit mit vielen Klassikern aus den Bereichen Roman und Drama so unglaublich beeindruckend fand, denke ich, das kann man nicht toppen.
    (Jetzt schon hoffe ich, dass dieser Roman Chancen beim Bookie des nächsten Jahres hat und nicht gegen irgendein anderes Buch verliert... es wäre ungerecht!) :wink:

  • Wow! Vielen Dank für diese wunderschöne Rezi! Aus meiner Liebe zu Irving-Romanen mache ich ja nun wirklich kein Geheimnis und ich warte schon wirklich ungeduldig auf die deutsche Ausgabe seines neuesten Werkes; nun hast du mir die Wartezeit aber noch härter gemacht, Strandläuferin. Soll das wirklich noch bis September dauern?!?!


    Ich habe ja schon überlegt, ihn auf englisch zu probieren, mich vielleicht auch an der Leserunde zu beteiligen, aber irgendwie habe ich Angst, dass ich zu wenig richtig verstehen würde und das wäre dann ja wirklich schade drum.

  • Ich habe ja schon überlegt, ihn auf englisch zu probieren, mich vielleicht auch an der Leserunde zu beteiligen, aber irgendwie habe ich Angst, dass ich zu wenig richtig verstehen würde und das wäre dann ja wirklich schade drum.

    Lies doch einfach mal über "Blick ins Buch" bei Amazon rein... ich fand ihn nicht so schwierig zu lesen, musst du mal schauen. :friends: Ich überlege ehrlich gesagt auch, mir die deutsche Ausgabe auch zu kaufen, weil ich bei manchen Passagen extrem gespannt sind, was der Übersetzer daraus gemacht hat. :wink:

  • William, Bill(y) genannt, wächst in den 40er und 50er Jahren in einer Kleinstadt in Vermont auf. Seine Eltern sind geschieden, seinen Vater hat er nie gesehen, doch an Familienanschluss mangelt es trotzdem nicht - da ist sein Großvater, ein schauspielernder Sägewerksbesitzer, der am liebsten in Frauenkleidern auf der Bühne steht, die herrische Großmutter, die Tante, die nicht viel besser ist als die Oma, der gutmütige Onkel mit Alkoholproblem und die aufsässige Cousine. Und eines Tages ein junger, belesener Stiefvater, der Bill in die Literatur einführt, indem er ihm einen Ausweis für die Stadtbibliothek besorgt.


    Damit tun sich aber nicht nur die Tore zur wunderbaren Welt der Bücher auf, sondern auch zu seinem ersten Schwarm: die Bibliothekarin, Miss Frost, hat es ihm angetan, und zwischen den beiden entwickelt sich ein besonderes Vertrauensverhältnis, das schließlich in einer Art Beziehung gipfelt.


    Und während Bill erwachsen wird, wird ihm immer klarer, dass er anders ist. Er liebt Männer, und er liebt Frauen ...


    Wie Bill seine (Bi)Sexualität entdeckt und einen Weg sucht, sie auszuleben, ist ein perfektes Thema für einen Irving-Roman. Natürlich haben wir auch hier wieder die deutlich ältere Frau, die den Teenager in die Geheimnisse der Liebe einweiht, die skurrile Familie und den abwesenden Vater, der dem Protagonisten immer wieder Rätsel aufgibt. Es wird Theater gespielt und gerungen (und das nicht zu knapp), und einen Abstecher nach Wien gibt's auch.


    Aus diesen Versatzstücken, die er immer wieder gerne verwendet, schafft Irving aber auch diesmal wieder etwas Neues. Stets eng verflochten mit den zeitgeschichtlichen Hintergründen erzählt er Bills Lebensweg nach, von seiner Jugend in den prüden 50ern über seine ersten Beziehungen, Abstecher in die Schwulenszene in New York und die AIDS-Epidemie in den 80er Jahren bis heute.


    Ein wenig störend fand ich die starke Häufung schwuler, lesbischer und transsexueller Menschen in Bills ursprünglichem Umfeld - das kam mir zunächst eher unglaubwürdig vor, fügte sich aber letztendlich doch gut ins Gesamtbild. Irving nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund, weder in den Sexszenen noch sonstwo. Sehr unter die Haut gegangen ist mir die AIDS-Thematik. Quasi mit anzusehen, wie Bill einen alten Freund oder Bekannten nach dem anderen dahinsiechen sieht, war harter Tobak.


    Alles in allem nicht mein Lieblings-Irving, aber wieder ein sehr guter.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Strandläuferin: sehr schön, Deine Rezi!

  • Yup, schöne Rezis bisher, denen ich nicht zustimmen kann. Ich habe auch schon sehr viele Irvings gelesen und abgesehen davon, dass die üblichen Versatzstücke vorkommen (Bären, Ringen, lange unglücklich verlaufende Paarbeziehungen, Wienaufenthalt und Arbeiten in der Gastronomie, Transsexualität), die man von Irving ja zu Genüge kennt und im Zweifel auch liebt, gibt es ständig paraphrasierende und direkt zitierende Wiederholungen von Inhalten, es geht eigentlich fast nur um Sex bzw. sexuelles Verlangen und das in einer Art und Weise, dass man schon auf Seite 30 die Wendung "kleine Brüste" nicht mehr hören kann. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Bisexualität ist interessant, wird aber vom Autoren durch die Darstellungsart totgeschrieben und dass nicht einie einzige Person im Umfeld des Ich-Erzählers eine normale und erfüllte Sexualität erlebt ist traurig - und entspricht nach meinen Beobachtungen nicht wirklich der Realität.
    Es wurde bei einem Interview im TIME-Magazin gesagt, dass das Buch eine Auseinandersetzung Irvings mit der Homosexualität/Bisexualität seines Sohnes ist und mit den Ängsten, die diese für den Autoren mit sich brachten. Ich empfand diese sprachlich repititive Auseinandersetzung mit einer durchaus wichtigen Thematik und ihrer Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zäh und überaus unerfreulich. So gibt es eineinhalb Sterne für die Auswahl der Thematik und das weite Spektrum darum - und das war's von mir.

  • Ich bin gut bei der Hälfte des Buches angelangt. Mit meiner Liebe zu John Irving halte ich ja wirklich nicht hinterm Zaun, aber mit diesem Buch stellt er sie auf eine harte Probe!


    Auch ich finde diese Sexlastigkeit in dem Buch stark übertrieben und nervig, die ewigen Wiederholungen ("kleine Brüste" - wie hier schon erwähnt), die durchwegs schrägen Figuren. In dieser Geschichte übertreibt er einfach alles. Im übrigen kommt mir der Titel "In einer Person" schon passend vor, weil ich das Gefühl habe, er hat all seine bisherigen Geschichten, Charaktere und Geschehnisse "In eine Geschichte" verpackt.


    Es gibt die (zuerst) alleinerziehende Mutter; die dominante Großmutter; den Stiefvater; die starke und wilde Cousine; die Tätigkeit als Kellner; die nette Freundin fürs Leben; den angehenden Schriftsteller; den verschwundenen, geheimnisvollen Vater... alles schon mal dagewesen. Aber das wäre es nicht, was mich stört. Was wirklich nervt, ist, dass jede Handlung, jede Person, jede Szene mit homo- oder bisexuellen Handlungen zu tun hat. Und wie K.-G. Beck-Ewe schon geschrieben hat: Niemand scheint eine "normale", ausgefüllte Beziehung zu führen. Romane müssen nicht immer realistisch sein; diesen Anspruch stelle ich nicht, aber diese Anhäufung von verkorksten Menschen scheint mir doch ein bisschen weit hergeholt.

  • Nur kurz:

    Zitat

    von Magdalena:
    Ein wenig störend fand ich die starke Häufung schwuler, lesbischer und transsexueller Menschen in Bills ursprünglichem Umfeld - das kam mir zunächst eher unglaubwürdig vor,


    Zitat

    von K.-G. BeckEwe:
    ..und dass nicht einie einzige Person im Umfeld des Ich-Erzählers eine normale und erfüllte Sexualität erlebt ist traurig - und entspricht nach meinen Beobachtungen nicht wirklich der Realität.


    Genau das sind auch meine Kritikpunkte, diese allzu große Häufung nervte mich ein wenig. Zudem empfand ich den Roman als zu lang, eine Straffung hätte sicher gut getan.
    Ansonsten habe ich den Roman recht gerne gelesen, wenn es für mich auch nicht der beste Roman von John Irving ist.


    Liebe Grüße

  • Nun habe ich das Buch beendet und muss sagen, die zweite Hälfte ist weit angenehmer zu lesen als die erste. Zwar steht Homo- und Bisexualität noch immer stark im Vordergrund, aber nicht mehr so aufdringlich wie in der ersten Hälfte. (Oder hab ich mich einfach daran gewöhnt...?) Die Geschichten über die sterbenden Freunde/Geliebten waren erschütternd und auch lehrreich. Aber man könnte meinen, Aids bekommen nur homosexuelle Männer - was ja eigentlich ein ziemlich schlimmes Vorurteil ist.


    Dann jedoch die Geschichte mit dem Vater...

    Und zum Schluss noch das Treffen mit dem jungen Mann im Theater. Sollte das versöhnlich wirken? Gerecht ausgleichend? Ich weiß es nicht und hätte gut und gerne darauf verzichten können.


    Was sich jedenfalls bis zum Schluss durchzieht, ist, dass offenbar alle Männer und sogar kleine Jungs Frauen bzw. Mädchen sein wollen. Ich kann das zwar einerseits verstehen ( :P ), glaube aber nicht wirklich daran, dass der Prozentsatz tatsächlich so hoch ist.


    Alles in allem kann er nicht an Vorgänger wie "Owen Meany" oder "Bis ich dich finde" oder "Garp" anschließen. Spannend und leicht zu lesen, aber (auch wenn ich es fast nicht übers Herz bringe), mehr als :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: gibts von mir nicht.

  • Die Geschichten über die sterbenden Freunde/Geliebten waren erschütternd und auch lehrreich. Aber man könnte meinen, Aids bekommen nur homosexuelle Männer - was ja eigentlich ein ziemlich schlimmes Vorurteil ist.


    Die ersten bekannten AIDS-Fälle traten, soweit ich weiß, größtenteils bei homosexuellen Männern als regelrechte "Epidemie" auf. Von daher passt das in diesem Kontext schon.

  • So, jetzt ist es höchste Zeit für einen Begeisterungssturm:
    Also, ich reihe mich ein in die Runde der ersten Kritiker u DANKE Strandläuferin für deine wunderbare u ausführliche Rezi!
    Ich bekam das Buch von einer lieben Freundin geschenkt, sie ebenso Irving-Fan wie ich, mit der Warnung: "Es geht eigentlich ausschließlich um Sex!"
    Es geht tatsächlich um das Ringen nach sexueller Identität u ich finde das hat Irving brilliant gemacht. Eingebettet in die Welt des Theaters, der Literatur mit der Stimmung einer neuenglischen Jungenschule hat er die Charaktere seiner Haupt- und Nebenfiguren derart fein u facettenreich herausgearbeitet, dass man beim Zuschlagen des Buches das Gefühl hat, Leute zu verlassen, die man sehr gut kennt. Es gibt sehr liebenswerte Menschen, eher verabscheuenswerte Geschöpfe u es gibt wunderbare Freundschaften, die von Elaine u William überstrahlt alles.
    Zudem ist dieses Buch ein Plädoyer für Toleranz! An einer Stelle geht es sogar (fast) so weit, Toleranz für die Intoleranten zu fordern.
    Diese Thematik dann noch über einen Zeitbogen von den 50er Jahren bis heute zu transportieren, das ist schon eine große Aufgabe u die ist Irving gelungen. In manchen seiner anderen Bücher hatte ich mit Längen zu kämpfen, dieses Buch ist meiner Ansicht nach in einem einzigen Guss geschrieben.
    Meiner Meinung hat eine glückliche Normalo-Ehe in dieser Geschichte nichts verloren, darüber gibt es genug andere Bücher, hier wäre es für meinen Geschmack "Thema verfehlt".
    Kurz gesprochen: Ich liebe dieses Buch u es müsste auch in den Koffer "Bücher, die mit auf die Insel müssten", der allerdings immer schwerer wird....
    Ich freue mich auf noch mehr Meinungen, wie auch immer sie ausfallen u sende euch liebe Grüße
    Cheriechen :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Zudem ist dieses Buch ein Plädoyer für Toleranz! An einer Stelle geht es sogar (fast) so weit, Toleranz für die Intoleranten zu fordern.

    :applause: Du hast in Deinem Beitrag ziemlich genau ausgedrückt, wie ich selbst das Buch empfunden habe - also Danke, cheriechen!


    Vielleicht eines noch: die gewaltige Masse an intertextuellen Bezügen zu den Stücken Shakespeares, bei denen natürlich mitschwingt, dass die sexuelle Identifizierung/sexuelle Identität für den großen Shakespeare scheinbar keine große Rolle gespielt hat, ist für mich einfach überwältigend im Buch. Dabei muss ich zugeben, dass Strandläuferin und auch taliesin mir praktisch all diese Erklärungen geliefert haben, weil ich viel zu faul war, mich damit selbst auseinanderzusetzen. Aber nicht nur Intertextualität zu Shakespeares Stücken gibt es zuhauf: in der Leserunde zu Irvings In One Person habe ich stellenweise Tränen gelacht über die intertextuellen Bezüge zu Charles Dickens' Great Expectations, denn wie Irving z.B. die "Estella" umgesetzt hat, ist einfach eine Wucht.


    An diesem Buch kann man Kapitel für Kapitel wunderbar sehen, wieviel Wert Irving auf die Ausschmückung der Handlung mit kleinsten Details Wert legt, und wieviel mehr Inhalt und Sinn bei diesem Autor hinter der vordergründigen Handlung eingeflochten ist - damit mir jetzt niemand vorwirft, dass ich diese Idee an den Haaren herbeiziehen würde, der kann John Irvings eigene Aussage bezüglich detailreicher Ausarbeitung im "Innerviews"-Interview mit Ernie Manouse (Minute 21: 58 bis 22:30) auf Youtube anhören

    Zitat

    "novels to me are in the details ... the detail in my novels ... it's baroque, it's embellished, it's ornate, ...It stands in total contrast to the minimum that "less is more" school of fiction ... more is more ...".


    Die geniale Einflechtung dieser hintergründigen Details in das jeweilige Plot seiner Bücher macht John Irving zu einem Meister seines Handwerks, wenn man kreatives Schreiben als Handwerkskunst betrachtet. :pray:

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • So, ich habe "In einer Person" gestern beendet und (leider) kann ich mich in die Begeisterungsstürme nicht einreihen... dabei zählt Irving zu meinen Lieblingsschriftstellern und ich liebe seine skurrilen Ideen und Figuren :wink:


    Zum Inhalt und Autor möchte ich nicht noch etwas hinzufügen, das ist beides hinlänglich beschrieben worden. Was mich an diesem Buch hauptsächlich störte, war die Überladung an "nicht-normalen" Personen, sexuellen Identitäten, Neigungen, Leben.... ich möchte das nicht-normal jetzt nicht als Wertung verstanden wissen, denn für mich persönlich ist z.B. jede sexuelle Orientierung (außer Pädophilie) normal und jeder darf von mir aus Spaß haben mit wem er möchte, aber...

    Die Auseinandersetzung mit dem Thema Bisexualität ist interessant, wird aber vom Autoren durch die Darstellungsart totgeschrieben und dass nicht einie einzige Person im Umfeld des Ich-Erzählers eine normale und erfüllte Sexualität erlebt ist traurig - und entspricht nach meinen Beobachtungen nicht wirklich der Realität.

    diesem Satz kann ich mich nur vorbehaltlos anschließen. Hilfe, selbst die normalen "Spießer" waren insoweit unnormal, dass sie alle entweder durch Unfall ums Leben kamen oder knapp hundert Jahre alt wurden wenn sie sich nicht kurz davor selbst umbrachten.... das war für mich und meinen Geschmack einfach zu viel des Guten. :(

    Zudem empfand ich den Roman als zu lang, eine Straffung hätte sicher gut getan.

    Auch diesem Kommentar kann ich mich nur anschließen, denn ich empfand auch, dass es zu viele Wiederholungen gab und etwas weniger wohl mehr gewesen wäre. Dazu störten mich grade am Anfang auch die immer wiederkehrenden, sehr plötzlichen Zeitsprünge nach vorn und hinten in Billys Biographie. Das fand ich verwirrend und störend, allerdings wurde es ja weniger. Von biografischer Sicht her empfand ich das Buch wie ein M: die Jugend wird extrem breit getreten (sicher zum Teil zu Recht, denn es waren die prägenden Jahre für Billy) und dann gab es den großen Bereich der 80er Jahre und der AIDS-Epidemie, die anfangs hauptsächlich unter Homosexuellen wütete ehe sie übergriff auf alle anderen. Der Lebensabschnitt dazwischen war für meinen Geschmack ein wenig zu sehr in Vergessenheit geraten.....


    Wegen Irvings wie immer sehr gut lesbaren Schreibstil, seiner Fähigkeit, mich gleich in die Geschichte zu ziehen, bleibt es bei mir bei 3 Sternen - Er hat es immerhin geschafft, mich in den Bann der Geschichte zu ziehen und diesen lang geratenen Romanen trotzdem kurzweilig zu erzählen. Ich persönlich empfand ihn nicht als zäh. Aber ich empfinde dieses Buch leider auch als eines seiner schlechteren. Irritiert hat mich dann noch ein inhaltlicher Fehler am Ende (Seite 709/710: Mercutio ist erst Zehnt-, dann Elfklässler) - das bin ich von Irving nicht gewohnt und lässt mich überlegen, ob er dieses Buch vielleicht doch zu schnell geschrieben und veröffentlicht hat?


    Trotzdem wird Irving einer meiner Lieblingsautoren bleiben und ich werde auch noch etliche Bücher von ihm lesen - und ihn immer wieder gerne weiter empfehlen. :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • In One Person war mein erster Irving - und jetzt werden alle anderen seiner Romane (ich will auf jeden Fall noch welche lesen) es wohl schwer haben, da ich sie immer wieder an In One Person messen werde - und ich fand das Buch grandios.


    Da das mein erster Irving war, kann ich nicht wirklich etwas zum Thema "sich ständig wiederholende Versatzstücke" in den Irving-Büchern sagen. Aber während andere hier die "unrealistische" Häufung der sexually different Charaktere bemängeln, ist das für mich einer der Aspekte, der das Buch so großartig macht. Ich finde meist, in vielen Büchern gibt es eine unrealistische Häufung von heterosexuellen Charakteren :D Da ist dieses Buch mal eine angenehme Abwechslung. Und meiner Meinung nach beschreibt Irving am Ende selbst (mit den Worten von Kittredge Junior), wie das Buch funktionieren kann (und sollte?) (ich hab nur die englische Version, deshalb sorry für das englischsprachige Zitat):
    Kittredge Junior: '[...]You make all these sexual extremes seem normal - that's what you do [...] You create these characters who are so sexually 'different' as you might call them -or 'fucked up', which is what I would call them - and then you expect us to sympathize with them, or feel sorry for them, or something.'
    'Yes, that's more or less what I do,' I told him.
    Zumindest ist das mein Eindruck von dem, was hier versucht wurde. Leider bin ich glaube ich die falsche Person, um zu beurteilen, ob das tatsächlich funktioniert hat, aber ich könnte es mir vorstellen, weil Irving selbst - so mein Eindruck - ziemlich wohlwollend an die ganze Thematik rangeht und sie gut trifft (eine Szene, die mir zum Beispiel sehr positiv diesbezüglich in Erinnerung geblieben ist, ist die Episode mit Donna und Bill in Hamburg, in der sie in eine Travestie-Show auf der Reeperbahn eingeladen werden).


    Sehr (emotional) schwierig zu lesen fand ich die Kapitel über die AIDS-Epidemie in den 80er Jahren. Auch wenn man den geschichtlichen Hintergrund kennt - zum Beispiel, dass AIDS früher auch als GRID bezeichnet wurde (=Gay Related Immune Deficiency) und die Regierung sich nicht um Aufklärungsprojekte kümmerte, da die Krankheit u.a. als "eine Strafe Gottes für die Perversen" angesehen wurde (Bill erwähnt ja auch irgendwo, dass Reagan die Krankheit in sieben seiner acht Amtsjahre nicht einmal genannt hat - vielleicht etwas provokativ) - macht es für mich sehr emotional und schwierig zu lesen.


    Besonders positiv fand ich aber die ganzen intertextuellen Bezüge, die mich jetzt dazu motivieren, die in dem Buch erwähnten Bücher zu lesen und dann vielleicht mit dem neuen Wissen In One Person erneut zu lesen, da ich dabei wohl auch einiges verpasst habe ;)


    Alles in allem kann ich sagen, dass meiner Meinung nach die Charaktere alle sehr liebevoll gezeichnet wurden, ich mich gut in sie reinversetzen konnte und ich das Buch für einen schönen Appell gegen Vorurteile und Kategorisierungen halte.

    "You may, however, rest assured there are no ghosts in this world. Save those we make for ourselves."
    Sherlock (BBC) - The Abominable Bride


    "Please don't put a label on me - don't make me a category before you get to know me!"
    John Irving - In One Person