Stefan aus dem Siepen - Das Seil

  • Kurzmeinung

    javaline
    Eine Erzählung, die wie eine Parabel anmutet. Und jede Menge Interpretationsspielraum bietet. Dunkel. Genial.
  • Kurzmeinung

    Squirrel
    Lesenswerte Geschichte, bei der man ins Grübeln geraten kann
  • Hab ich da was Bedeutendes überlesen? Was ist denn die Erklärung dafür?

    Das verlassene Dorf habe ich mir am Ende so erklärt:

  • @ Strandläuferin:


    Ok, so habe ich das auch verstanden. Deswegen dachte ich irgendwann auch, dass

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Ein Dorf mitten im Wald. Die Bewohner sind fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten, nur der Lehrer kommt ab und zu von außerhalb vorbei. Doch die Menschen sind soweit zufrieden, sie kennen nichts anderes.
    Da findet einer der Dorfbewohner ein Seil. Es ist ein gutes, dickes Seil. Und es lang. Sehr lang.


    Das Seil, das da so plötzlich im Gras liegt, erregt die Neugierde der Dörfler. Sie machen sich auf die Suche um das Ende zu finden, aber vergeblich.
    Deshalb verlassen die Männer das Dorf. Frauen und Kinder bleiben zurück, dazu ein Kranker und ein einzelner Mann, der die Frauen beschützen soll. Auch die Tatsache, das die Ernte bevorsteht, hindert die Männer nicht.


    Zeit und Ort bleiben unbestimmt. Weder wird der genaue Name des Dorfes genannt, noch eine Jahreszahl. Aber für diesen kurze Geschichte ist das auch gar nicht notwendig.
    Die Sprache ist sehr karg. Wörtliche Rede wird nichts besonders gekennzeichnet. Am Anfang fand ich das schon etwas irritierend, aber man gewöhnt sich schnell daran.
    Zwar gibt es mehrere Figuren, aber alle sind eher oberflächlich gezeichnet. Wobei das keine Kritik meinerseits ist, denn zu der Geschichte passte das so perfekt. Es geht mehr um die Menschen als Gruppe, nicht um eine einzelne Person. Und es geht darum, was Menschen in einer Extremsituation unternehmen.


    Überhaupt finde ich es unglaublich, was eine so eigentlich harmlose Sache in den Dorfbewohnern auslöst. Da liegt einfach ein Seil im Gras und langsam aber sicher verändern sich die Männer. Bis sie schließlich Dinge tun, an die sie vorher nie gedacht hätten. Das Seil ist unrealistisch lang und damit irgendwie auch absurd, aber die Männer sind sich durchaus bewusst.


    Das Ende bleibt offen. Eigentlich hatte ich danach noch mehr Fragen als vorher. :wink:
    Aber es hat mich sehr zum Nachdenken angeregt.


    Fazit: Beginnt harmlos, entwickelt aber schnell tiefe Abgründe.
    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Was für eine faszinierende Geschichte :thumleft: Da stößt eine wohlorganisierte, friedliche, mitunter ein wenig schrullige Dorfgemeinschaft auf etwas Ungewöhnliches und plötzlich ändert sich alles. Wichtiges wird unwichtig, alle Pläne werden über den Haufen geworfen und die bestehende Ordnung mal eben auf den Kopf gestellt. Die Männer drehen durch, müssen sich plötzlich beweisen und erliegen einem Anfall von Abenteuerlust. Klar - im gewohnten Alltagstrott, in dem man sich sogar das Nachdenken abgewöhnt hatte, können sie ja nie zeigen, was für ganze Kerle sie sind. Da braucht es nach dem seltsamen Fund, der sowieso alle beschäftigt, nur noch einen kleinen, wohldosierten Schubs in die richtige Richtung und schon wirft Bauchgefühl jede Vernunft über Bord. Und wer muss es am Ende richten? Die Frauen. Während die Männer durch den Wald turnen, müssen sie dafür sorgen, dass das Leben weitergeht. Ist also wie im richtigen Leben :wink:
    Das mag jetzt alles ein bisschen salopp formuliert sein. Aber das ist es, was ich beim Lesen empfunden habe. Abgesehen vom Erstaunen über die menschlichen Abgründen und die Erkenntnis, wie leicht sich viele doch manipulieren lassen.
    Der Schluss war für mich ein wenig unbefriedigend, aber letztendlich doch stimmig. Und bei der Szene mit dem Geisterdorf hatte ich zuerst den gleichen Gedanken wie gaensebluemche

    Genial fand ich hier die wortwörtliche Wiederholung in der Beschreibung - das fand ich schon gruslig...


    Der Stoff wäre eines Stephen King nicht unwürdig, aber der hätte bestimmt viel mehr Seiten damit gefüllt :wink: Und das ist auch ein bisschen mein einziger Kritikpunkt: manche Dinge hätten sich gern etwas ausführlicher entwickeln dürfen. Aber für die wenigen Seiten klingt das Buch erstaunlich lange nach, gibt Stoff zum Nachdenken und wird somit von mir auf jeden Fall weiterempfohlen.

    Gelesen in 2024: 9 - Gehört in 2024: 6 - SUB: 626


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Acht Jahre saß das Buch auf meiner Wunschliste ehe ich es in einem Secondhand-Laden fand und bald gelesen habe.


    Eine abgründige, faszinierende Geschichte erzählt der Autor. Gestandene Männer, Familienväter, Bauern die meisten, wollen nur nachsehen, wo das Seil endet, das eines Tages auf ihrer Dorfwiese liegt. Tage und Wochen gehen sie am Seil entlang ohne hinter dessen Geheimnis zu kommen; Hunger, Durst, Angst vor wilden Tieren, Verletzungen – nichts kann sie bewegen, wieder nach Hause zurückzukehren.

    Was mich dann aber das ganze Buch über richtig gestört hat, war die Message, die es auf mich hatte. Der Aufbruch der Männer wurde als Unglück für das Dorf und ihre Frauen vermittelt. Immer wieder wurde suggeriert – zumindest kam es so bei mir an – das ein Ausbruch aus dem Alltagstrott schlecht ist, man solle mit dem zufrieden sein was man hat und keinesfalls nach mehr, geschweige denn nach Abenteuer streben.

    Auf mich wirkt die Handlung völlig anders. Denn das Seil ist nicht Symbol des Aufbruchs oder Abenteuers, sondern wird zur Obsession. Keiner der Männer möchte aus seinem Leben ausbrechen und sich neuen Welten nähern. Sie sind in erster Linie neugierig, als sie sich gemeinsam auf den Weg machen.

    Als sie eigentlich zugeben müssten, dass die Expedition sinnlos ist und dass sie vermutlich den Anfang des Seils nie finden werden, beginnt das Unternehmen, zu einer fixen Idee zu werden. Bestimmen sie selbst ihren Weg oder lassen sie sich vom Seil (und ihrem Anführer) zu den weiteren Schritten nötigen? Nach ihrer Selbstbestimmung verlieren sie ihre Selbstbeherrschung und dann ihre Menschlichkeit.

    Wenn Du einmal im Leben einen Fehler gemacht hast, ist das nicht korrigierbar?

    Es gibt m.E. Fehler, die man korrigieren kann, die verziehen werden und die man gut machen kann. Aber es gibt auch Fehler, die unumkehrbar sind.


    Den von manchem kritisierten Schluss finde ich angemessen. Auch wenn meine Neugier nicht befriedigt wird.

    Ich empfehle das Buch gerne weiter.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Stefan aus dem Siepen: Das Seil“ zu „Stefan aus dem Siepen - Das Seil“ geändert.
  • Ein faszinierendes Buch, das viele Fragen offen lässt - aber dies ganz bewusst und für mich absolut stimmig. Es sollte viel bekannter sein und noch mehr Menschen sollten es lesen!

    Ich muss über den Inhalt nichts mehr sagen, da wurde genügend gesagt - Gott sei Dank auch manches gespoilert. Deshalb einige Anmerkungen von mir zu Euren Gedanken, von denen ich viele nachvollziehen kann.


    Ganz zu Anfang: für mich war die Essenz nicht der negative Gedanke, dass man nichts wagen sollte, in seinen eingefahrenen Bahnen bleiben sollte. So hab ich die erzählte Geschichte nicht empfunden. Sondern ich finde ich mich in Maries Zusammenfassung wieder:

    Auf mich wirkt die Handlung völlig anders. Denn das Seil ist nicht Symbol des Aufbruchs oder Abenteuers, sondern wird zur Obsession. Keiner der Männer möchte aus seinem Leben ausbrechen und sich neuen Welten nähern. Sie sind in erster Linie neugierig, als sie sich gemeinsam auf den Weg machen.

    Als sie eigentlich zugeben müssten, dass die Expedition sinnlos ist und dass sie vermutlich den Anfang des Seils nie finden werden, beginnt das Unternehmen, zu einer fixen Idee zu werden. Bestimmen sie selbst ihren Weg oder lassen sie sich vom Seil (und ihrem Anführer) zu den weiteren Schritten nötigen? Nach ihrer Selbstbestimmung verlieren sie ihre Selbstbeherrschung und dann ihre Menschlichkeit.

    Vor allem die von mir fett markierte Aussage trifft für mich den Punkt. Wir Menschen sind verführbar - durch Objekte und durch Worte. Wir sollten aber stets unseren Kopf benutzen, unsere Intelligenz bewahren und uns bewusst machen, wem oder was wir folgen. Für mich steht das Seil als Objekt der Verführung im Raum - es ist kostbar, niemand im Dorf hat ein derart gutes Seil und so weckt es Begehrlichkeiten. Selbst nach dem missglückten Beginn bleibt die Verführung - durch das Seil, aber auch durch den sich herauskristallisierenden Anführer und seine Worte. Dem folgt man nun, obwohl er doch eigentlich nur der geduldete der Außenseiter ist. Die Parallelen zu unserer Geschichte sind da für mich eindeutig.


    gaensebluemche Ich glaube, dass es auf die Fragen,

    Ich weiß, das ist für einige Leser ein Kritikpunkt, aber mir hat das gefallen. :wink:

    Mir auch :wink: Es ist für die Geschichte auch völlig irrelevant, denn es wird immer für irgendwen "ein Seil" geben, gleich welcher Gestalt. Für mich sind die endlosen Seile nur die Metapher für Objekte der Begierden. Welche Form sie haben, spielt keine Rolle, denn sie sind für alle normalerweise unterschiedlich. Aber die Endlosigkeit des Seils spiegelt für mich auch den Fakt, dass es immer ein Objekt geben wird. Hat man sich einen Wunsch erfüllt, folgt ja oft der nächste. Es gibt hier meiner Meinung nach kein Ende.


    “Das Seil” ist ein Roman, der auf seinen 176 Seiten mehr erzählt als andere Bücher auf 400 oder mehr. Es ist ein Roman, der nachklingt, über den man sich Gedanken macht, gerade auch wegen seines Endes, das der Autor einerseits schonungslos offen lässt, das andererseits aber auch der einzig passende Schluss ist, wenn man über die Geschichte nachdenkt.

    Ich bin fasziniert, wie gut es manche Autoren schaffen, in eine so kurze Geschichte so viel zu packen. Das liebe ich, ich brauche nicht immer endlose Wälzer. Das ist auch oft nicht nötig. Ich glaube, der Autor hat hier in diese wenigen Seiten viel mehr gepackt, als die meisten Autoren auf 800 Seiten


    Die Figur des Rauk erinnerte mich sowohl an den Rattenfänger von Hameln, als auch an den Mann, der Deutschland im vorigen Jahrhundert in einen tiefen Abgrund gerissen hat. Auch diesen Beiden folgten blinde Massen ohne nachzudenken.

    Genau meine Gedanken zu dieser Figur - der einzigen Figur, die für mich nicht ganz so blass erschien. Wobei ich auch da Absicht unterstelle.


    Der einzige Protagonist in diesem Buch, der einigermaßen verantwortungsbewusst handelte, musste das aber auch bereuen.

    Und auch dieser Punkt ist für mich total schlüssig.


    die Figuren waren mir hier nämlich zu blass und farblos, sodass ich durch sie keinen rechten Draht zu den Geschehnissen und der Handlung fand und sich dadurch eher Distanz aufbaute.

    Das ging mir genauso, aber ich weiß nicht, ob das nicht sogar vom Autor so gewollt ist. Vielleicht sollen wir aus der Distanz heraus die Männer - und auch die zurückgebliebenen Frauen - genau beobachten und dadurch einfach genauer hinschauen. Identifizieren wir uns zu sehr mit einem Protagonisten, sind wir auch gleichzeitig mehr in die Handlung verstrickt und die Distanz des Beobachters geht verloren. :-k


    Der Schluss war für mich ein wenig unbefriedigend, aber letztendlich doch stimmig. Und bei der Szene mit dem Geisterdorf hatte ich zuerst den gleichen Gedanken wie gaensebluemche



    Genial fand ich hier die wortwörtliche Wiederholung in der Beschreibung - das fand ich schon gruslig...

    Mir kam der Gedanke auch, aber aus den gleichen Gründen wie Du hatte ich den schnell verworfen. Dafür zeigt es für mich, dass die Dinge eben immer wieder geschehen. Das löst dann bei mir auch den Gedanken aus, ob wir Menschen einfach nicht lernfähig sind 8-[


    Es ist eine gelungene Parabel, die erzählt von menschlichen Obsessionen, und welches Verhängnis es über Menschen bringt, wenn sie mit einer Idee oder einem Vorhaben einfach nicht aufhören können. Und von dem bösen Einfluss, den Menschen mit ihrer Sprache auf andere ausüben können.

    Ich bin selten mit Winfried einer Meinung, aber diesem Fazit kann ich mich anschließen. Und wünsche und hoffe, dass mehr Menschen auf dieses Buch aufmerksam werden und es genau lesen und drüber nachdenken.

  • Und wünsche und hoffe, dass mehr Menschen auf dieses Buch aufmerksam werden und es genau lesen und drüber nachdenken.

    Danke für den Lesetipp!

    Deine Begeisterung hat mich angesteckt.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Und wünsche und hoffe, dass mehr Menschen auf dieses Buch aufmerksam werden und es genau lesen und drüber nachdenken.

    Danke für den Lesetipp!

    Deine Begeisterung hat mich angesteckt.

    Ich leih Dir das Buch gerne aus, wenn Du magst. Und freu mich, dass ich Dich anstecken konnte :lol:

  • Marie und Squirrel

    ganz vielen Dank fürs Leihangebot!


    Wenn ich alle Beiträge richtig verstanden habe, geht es in dem kleinen Roman um das Mitläufertum. Das ist doch ein interessantes Thema!


    Unsere Kreisbücherei hat das Buch nicht :(, unsere Stadtbücherei sowieso nicht :(:(,

    und ich weiß nicht, wen von Euch zwei Lieben ich ums Leihen bitten will - ene mene muh und aus bist du - und drum habe ich es jetzt kurzerhand antiquarisch bestellt, für € 1,--!

    :winken:

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).