„er wird es seiner Frau und
seinen Kindern erzählen
sie werden lachen und sagen
dass er langsam alt wird
und komisch und dass so etwas
kaum möglich sei“
(My funny Valentine)
So etwas: Für zehn Minuten schlüpft der Geist Chet Bakers in den Körper eines Straßenmusikers. Nahezu unbemerkt geht diese Veränderung vor sich. Sie ist nicht von Dauer. Was bleibt von dem großen Moment?
„jetzt sitzt er am Küchentisch vor
einer Flasche Bier und
spricht mit seinen Händen“
Max Sessner, geboren 1959, zurzeit Buchhändler in Augsburg, hat seinen zweiten Gedichtband beim Literaturverlag Droschl veröffentlicht: „Warum gerade heute“.
Der Titel - gemeinhin ein Stoßseufzer.
Sessner schildert Veränderungen, ganz alltägliche, oder auch ungewöhnliche, in vielfältiger Weise. Schauplätze seiner Gedichte sind alltägliche Orte, es sind Kneipen, Büros, das eigene Zimmer, der Vorgarten, mehrfach auch Altenheime. „Schauplätze“ ist dabei ganz wörtlich zu nehmen, denn Sessner erzählt Geschichten.
Geschichten? Handelt es sich denn nicht um Lyrik?
Test: Wir schreiben die Zeilen ohne Umbrüche konsequent hintereinander weg.
„siehst du die Frau am Riesenrad und wie sie uns zuwinkt als wären wir alte Freunde leg ihr eine Münze auf den Kopf und sie lässt dich durch ihre Augen blicken nur was du siehst wird dir nicht gefallen“ (Jahrmarkt)
Man lese das laut. Entdecke Rhythmus, Wortwahl, die verwendeten Bilder, entdecke Lyrik pur.
Sessner jedoch belässt selten mehr als fünf Worte in einer Zeile. Auf Satzzeichen verzichtet er ganz, ausgenommen einige wenige Fragezeichen.
Was geschieht dadurch? Die verwendeten Worte führen ganz plötzlich ein Eigenleben. Sie können sich auf die vorhergehende, oder auf die nachfolgende Zeile beziehen - oder durch die gewaltsame Trennung von denselben eine neue, überraschende Bedeutung erhalten.
So sind Sessners Gedichte ständig in Bewegung. Resultat: Gedichte wie Kurzfilme.
Das muss man erst einmal schaffen.
Und wie schafft das Max Sessner? Er bedient sich einer unaufdringlichen Sprache. Alltägliche Wörter. Adjektivarm, viele Verben, welche die Gedichte ebenfalls in Bewegung halten. Überwiegend Gegenwart, weniger häufig ein Mix aus Gegenwart und Vergangenheit. Dennoch bildhaft! Und was für Bilder!
„So blitzblank der See
heute morgen als sei in
der Nacht ein Schwarm
wilder Putzfrauen über
ihn hingezogen“ (Am Ufer)
„In Kirchen rinnen uns die
Tränen aus den Augen und
ruinieren uns den Schuh“ (Manchmal)
„Traurigkeit steigt aus
seiner Kaffeetasse und
schüttelt ihm aufgeregt die
Hände“ (Hüte)
Die Kunst besteht bei Sessner aber nicht nur darin, diese Bilder zu schaffen. Er beherrscht auch die weitaus schwierigere Kunst, sich zu beschränken. Die Bilder sorgfältig auszuwählen, sparsam einzusetzen. Und zwar so, dass ihnen der Raum bleibt, den sie brauchen, um sich zu entfalten.
„Warum gerade heute“ ist übrigens (wieder einmal) der Anfang von etwas. Es handelt sich hier um den Beginn des Gedichts „Tage“:
„Warum gerade heute ich
schippte Schnee und dachte
nur Gutes“
Was dann geschah? Selber lesen.
Verraten wird vorerst nur, was geschieht, wenn einem Künstler etwas ganz Großes gelingt.
„für zehn
Minuten ist diese Stadt
unsterblich dann ist alles wieder vorbei“
Max Sessner
„Warum gerade heute: Gedichte“
Mit einem Nachwort von Markus Orths
Literaturverlag Droschl 2012