Eugen Ruge - In Zeiten des abnehmenden Lichts

  • Alexander Umnitzer hat eine niederschmetternde Diagnose bekommen. Krebs. Inoperabel. Wie soll er sich da noch um seinen demenzkranken Vater kümmern. Wie auf der Flucht reist er überstürzt nach Mexiko, in das Land, in das seine Großmutter Charlotte und ihr Mann Wilhelm Powileit, beides Kommunisten und mit Machtübernahme der Nazis in die Sowjetunion geflüchtet, auf Anordnung der KPdSU im Zweiten Weltkrieg emigrierten. Ihre Söhne Kurt und Werner blieben in der UdSSR zurück. Diese wurden wegen Kritik am Hitler-Stalin-Pakt im Jahr 1941 zu langjähriger Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Werner verschwindet dort von der Bildfläche und gilt als verschollen, Kurt heiratet, das Urteil wurde zwischenzeitlich in Verbannung gemildert, die Sanitäterin Irina. Mit ihr und dem gemeinsamen Sohn Alexander kommt er 1956 nach Neuendorf bei Berlin zu Charlotte und Wilhelm, die im Jahr 1952 in die DDR kamen, um dort ihren Beitrag zum sozialistischen Aufbau zu leisten.


    Mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erzählt Eugen Ruge eine sich an den Geschehnissen in seiner eigenen Familie orientierte Familiengeschichte in zwanzig Kapitel. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern berichtet episodenhaft, sich in der Geschichte hin und her bewegend. Trotz größerer Zeitsprünge war es nicht problematisch sich zu orientieren, über welche Mitglieder der vier Generationen umfassenden Familie berichtet wird. Dank der mit den Jahreszahlen überschriebenen Kapitel konnte man sich als Leser die Zeitfolge problemlos selbst erlesen. Dreh- und Angelpunkt der Handlung bilden der 1. Oktober 1989 und das Jahr 2001. Zu diesen Daten kehrt Ruge immer wieder zurück, um die Ereignisse an Wilhelm Powileits 90. Geburtstag (1989) und Alexanders Mexiko-Reise (2001) aus verschieden Blickwinkeln zu betrachten.
    Mehrfach spiegelt sich der Titel im Roman wieder. Viele der Episoden sind im Herbst angesiedelt. Der Kommunismus, der von Charlotte und Wilhelm als höchstes Ziel angesehen wird, verliert von Generation zu Generation an Bedeutung, bis er für Alexanders Sohn, der in seiner eigenen Computerwelt lebt, nicht mehr existent ist. Auch die Gesundheit der Protagonisten ist ähnlich einer herunterbrennenden Kerze. Alexander ist an Krebs erkrankt, sein Vater Kurt hat die Demenz fest im Griff. Irina war Alkoholikerin und Wilhelm und Charlotte – weil ich zu viel verraten würde, schweige ich dazu an dieser Stelle.
    Eugen Ruge erzählt diese Geschichte über die mit der Gesellschaftsordnung untergehenden Familie sehr ruhig und sachlich, aber nicht ohne Wortwitz. Dabei ließ er historische Ereignisse eher am Rande einfließen und achtete mehr auf deren Auswirkungen auf die Familie, deren Mitglieder sehr überzeugend charakterisiert wurden. Das Buch lies sich sehr flüssig lesen, die Sprache Eugen Ruges empfinde ich als ausgesprochen angenehm. Als besonders positiv möchte ich hervorheben, dass der Roman weit ab von jeglicher Ostalgie und der Verklärung alter Zeiten geschrieben wurde. Damit hebt er sich wohltuend von anderen ähnlich gelagerten Romanen ab. Eugen Ruge ist mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ein wirklich großer Familienroman gelungen, dem ich noch viele interessierte und begeisterte Leser wünsche.


    Über den Autor (Quelle: amazon.de)
    Eugen Ruge, 1954 in Soswa (Ural) geboren, studierte Mathematik an der Humboldt-Universität und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Er war beim DEFA-Studio für Dokumentarfilm tätig, bevor er 1988 aus der DDR in den Westen ging. Seit 1989 arbeitet er hauptberuflich fürs Theater und für den Rundfunk als Autor und Übersetzer. 2009 wurde Eugen Ruge für sein erstes Prosamanuskript «In Zeiten des abnehmenden Lichts» mit dem Alfred-Döblin-Preis, 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

  • Danke Karthause für die schöne Rezi! Nachdem wir das Buch in unserer Mini-Leserunde zusammen entdecken konnten, bin ich total begeistert. Eugen Ruge schreibt natürlich und ungekünstelt, verzichtet auf den bei solchen Büchern üblichen erhobenen Zeigefinger. Besonders liebenswert sind die vielen kleinen Anekdoten. Wer bei Büchern, die den Deutschen Buchpreis erhalten, zurückschreckt, sollte sich ruhig mal trauen. Eugen Ruge versteht es Literatur und Unterhaltung in ausgeglichenem Verhältnis zu präsentieren! Sehr zu empfehlen!


    Liebe Grüsse


    Wirbelwind


    :study: William Nicholson, Der verborgene Zauber des ganz normalen Lebens

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

    Einmal editiert, zuletzt von Wirbelwind ()

  • Ich habe eure Leserunde sehr aufmerksam verfolgt. Ich dachte ja erst, dass das Buch meinem "Beuteschema" nicht entsprechen würde, aber was ihr geschrieben habt, hatte mich vom Gegenteil überzeugt. Das Buch ist auf meine Wunschliste gelandet. Danke! :winken:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Auf deine Meinung bin ich natürlich gespannt, Farast. :D
    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Dieser Roman war einmal wieder ein Glücksgriff. Ich bin froh, ihn in der Bücherei ausgeliehen zu haben und kann das Buch nur weiterempfehlen. :thumleft: . Teilweise hat es mich ein wenig an "Der Turm" von Uwe Tellkamp erinnert. Allerdings schreibt Eugen Ruge um Längen besser. Denn "Der Turm" hat mir gar nicht gut gefallen.


    Mit "In Zeiten des abnehmenden Lichts" gelingt es dem Autor fabelhaft aus verschiedenen Perspektiven und Zeitabschnitten zu erzählen. Die einzelnen Familienmitglieder kommen alle zu Wort. Besonders am Dreh- und Angelpunkt des Romans, dem 1.Oktober 1989. An diesem Tag feiert das Familienoberhaupt Wilhelm seinen 90. Geburtstag und dieser Tag wird immer wieder in die Handlung eingeschoben. Immer aus Sicht einzelner Familienmitglieder und das ergibt dann auch viele verschiedene Gedankengänge, die den Leser in unnachahmlicher Art Einblick in den "Kopf" des gerade agierenden Protagonisten gewähren. Das ist dem Autor unter anderem auch durch jeweils etwas veränderten Schreibstil hervorragend gelungen.


    Jedes Kapitel der anderen, in einem herausgehobenen Jahr spielenden Ereignisse, widmet sich dann ebenfalls wieder einer speziellen Person aus dem Familienkreis. Diese unterschiedlichen Ansichten und Denkweisen der Familienmitglieder haben einen unglaublichen Charme und sind mit viel Wortwitz geschrieben. Die politischen Ereignisse stehen eher im Hintergrund, wichtig ist einzig die Familiengeschichte.


    Fazit: Dieser Roman entspricht meinen bevorzugten Kriterien: Perspektivwechsel und Wortwitz. Sehr ironisch und flüssig geschrieben, einfach super. Bewertung: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: Jeder Tag, an dem ich nicht lesen kann, ist für mich ein verlorener Tag!

  • Ich habe eure Leserunde sehr aufmerksam verfolgt. Ich dachte ja erst, dass das Buch meinem "Beuteschema" nicht entsprechen würde, aber was ihr geschrieben habt, hatte mich vom Gegenteil überzeugt. Das Buch ist auf meine Wunschliste gelandet. Danke! :winken:


    Das kann ich so unterschreiben!

  • Eine nachdenklich stimmende Familien-Chronik.


    >>Zwei Tage lang hatte er wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausluft von sich abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf.<<


    Der Protagonist dieser Chronik heißt Alexander. Im Jahr 2001 erhält er die Diagnose unheilbaren Lymphknotenkrebs, und dass sein Vater Kurt ihn höchstwahrscheinlich überleben wird. Um mit dieser Situation fertig zu werden, beschließ Alexander nach Mexiko zu reisen. Dort wandelt er auf den Spuren seiner Großmutter, allerdings entpuppt sich diese Spurensuche immer mehr einer Selbsterkenntnis. Und mit dieser Ausgangssituation eröffnet der Autor den Blick auf Alexanders Familie:


    Charlotte, Alexanders Großmutter, mit ihrem zweiten Mann Wilhelm, der nicht der Großvater ist, sind leidenschaftliche Kommunisten, die nach dem II. Weltkrieg freiwillig in die Deutsche Demokratische Republik heimkehren. Zwei Söhne gab es aus erster Ehe, beide verbrachten Jahre in einem Gulag, aus dem nur Kurt zurück kehrte. Da bröckelt also schon der kommunistische Gedanke, und in der nächsten Generation ist er völlig abhanden gekommen, denn Alexander türmt 1989 in den Westen.


    Das ist die schwierige Familiensituation, die der Autor gut gewählt mit „Zeiten des abnehmenden Lichts“ betitelt. Das utopische Licht, das einst so schön von Marx in die Welt gesetzt worden ist, und dennoch nie wirklich gestrahlt hat.


    >>Der Letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können war: Ich habe die Sprache verloren.<<


    Der Roman beginnt mit einer sehr gehetzten und getrieben Sprache, die mit Assoziationsketten/Bewusstseinsstrom arbeitet. Sie ist etwas kompliziert zu lesen, passt aber hervorragend zum Protagonisten. Da aber der Autor auch andere Kapitel und Figuren zu Beginn in diesem Stil beschreibt, ihn nicht ausschließlich auf Alexander verwendet, sondern leider generell nach knapp 100 Seiten in einen weichen, erzählerischen Stil, der sich dann so richtig gut lesen lässt, verfällt, empfand ich als störend. Ausgesprochen gut gefallen hat mir, dass die Kapitel 1. Oktober 1989 immer aus der Blickrichtung eines anderen Familienmitglied neu erzählt wurde. Der Leser bleibt nach der Lektüre mit einem vollen Gefühl und vielen guten Lesestunden zurück, so dass ich das Buch gerne weiter empfehlen kann.

  • Ähnlich wie Farast hatte ich mich zunächst nicht dafür interessiert. Nach der Rezension hier muss ich es leider ins Wunschregal stellen. Gefährliches Forum hier... Wenn das so weiter geht, bin ich bald pleite (wenn auch sehr belesen... :loool: )

  • Ähnlich wie Farast hatte ich mich zunächst nicht dafür interessiert. Nach der Rezension hier muss ich es leider ins Wunschregal stellen. Gefährliches Forum hier... Wenn das so weiter geht, bin ich bald pleite (wenn auch sehr belesen... :loool: )

    Willkommen im Club :D Ich habs ja auch auf meinem Wunschzettel, was aber weniger mit diesem Forum oder der Rezension zu tun hat (nicht persönlich nehmen bitte Karthause, ich hab sie gerade eben erst gesehen und gelesen und für gut befunden :wink: ) sondern mit dem Deutschen Buchpreis. Die durchaus interessante Bücher nominiert hatten, uA "Gegen die Welt" das ebenso in den nächsten Wochen (naja, eher Monaten) gelesen werden wird von mir.


    birgitk... als Du "Der Turm" erwähnt hattest war ich kurz aufgeschreckt, bitte nicht mehr machen. Danke :D

    Gott sieht. Die Zeit flieht. Der Tod jagt. Die Ewigkeit harrt.

  • Für den, der im westlichsten Teil des Westens aufgewachsen ist, waren Länder wie Frankreich, Belgien, Niederlande näher als der Osten des eigenen Landes.


    Nachdem meine Bücherei dieses Buch nun endlich angeschafft hat, habe ich es sofort ausgeliehen, denn mich interessiert die "Innensicht" mehr als das, was man aus den Medien und Sachbüchern erfährt.


    Was mich während des Lesens immer wieder verwunderte: Wie anders wie gleich es in beiden Teilen Deutschlands zuging. Die Mühe, Waren für das tägliche Leben zu bekommen - unbekannt; die ständige Angst, seine wirkliche Meinung zu sagen - unbekannt. Familiengeschichten und -beziehungen und -probleme - anscheinend überall gleich.
    Ob man die Orden und Ehrungen zu den runden Geburtstagen von der Partei oder vom Musikverein oder Sportverein bekommt, unterscheidet sich - in der Rückschau - auch nicht gravierend.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Für den, der im westlichsten Teil des Westens aufgewachsen ist, waren Länder wie Frankreich, Belgien, Niederlande näher als der Osten des eigenen Landes.


    Wenn man die Bücher "In Zeiten des abnehmenden Lichts" und "Gegen die Welt" vergleichen möchte, dann fällt auf, wenn ich das jetzt so salopp sagen darf - und dies meine ich niemals herablassend oder überheblich, dass den Wessis der Brandt näher ist und den Ossis eben Ruge. Von der Sternchenbewertung erging es mir ebenso, obwohl mir der Ruge den Osten des eigenen Landes verständlicher machte.

  • Buchkrümel


    Das würde ich so nicht unterschreiben. Mir hat der Ruge zwar ein wenig besser gefallen als Brandt, aber das lag nicht daran, weil ich Ossi bin. Klar gab gab es diese "Weißt du noch...?"-Momente, aber die gaben bei meiner Bewertung beider Bücher nicht den Ausschlag. Denn die Familie, die Ruge beschrieb, war nicht unbedingt osttypisch. Er bewegte sich in Kreisen, die ja doch bestimmte Privilegien hatte. Aus dem Grunde war mir die Familie die Brandt beschrieb näher. Bei "Gegen die Welt" hatte ich allerdings ein paar Probleme mit der Fantasie von Daniel. Das driftete mit schon ein wenig ins Mysteriöse ab. Für mich stehen beide Bücher vollkommen für sich, jeder Autor hat die Welt beschrieben, die er kannte und die ihn geprägt hat.

  • Ich verfolgte die Leserunde vor geraumer Zeit bis zu einem gewissen Punkt und stellte das Buch dann auf meine Wunschliste. Nun konnte ich es lesen und schätzen lernen ! Es dann selber zu lesen ist doch noch mal was anderes als noch so wunderbare Kommentare dazu gehört zu haben.


    Beeindruckt hat mich nach dem Einlesen die Feststellung, dass sich der Autor in jedem Kapitel jeweils einer der Hauptpersonen mehr annimmt, ihn oder sie in den Mittelpunkt stellt und aus seiner/ihrer Sicht einen Teil der Geschichte, des Empfindens von Geschichte und Umständen, erzählt. Dabei gelingt es Ruge, einen jeweils dieser Person angepassten Sprachstil und eine ihr eigene Atmosphäre zu benutzen. Das hat mir äußerst gut gefallen und entspricht der Unterschiedlichkeit der Charaktere !


    Selbst wenn die Schicksalswege der Hauptpersonen originell und einzig erscheinen, sehe ich in den Beschreibungen doch viel Realitätstreue, so dass ich manches wiederfinde, was ich von meinem Erleben (und dem meiner Familie in der ehemaligen DDR) ungefähr so kenne und einschätze. Ich sehe zwar schon einen über Landesgrenzen hinausgehenden gemeinsamen Anteil an "Familienschicksal". Dennoch würde ich diese Geschichte, trotz aller Privilegiensituation gewisser Beteiligter (oder gerade deswegen?) klar in der DDR ansiedeln.


    Ruge wird meines Erachtens nie trocken. Hinter den Charakterzeichnungen und Situationen steht oft eine eigene Komik, die schmunzeln läßt.


    Für mich eindeutig ein Fünfsternebuch !

  • Dabei gelingt es Ruge, einen jeweils dieser Person angepassten Sprachstil und eine ihr eigene Atmosphäre zu benutzen. Das hat mir äußerst gut gefallen und entspricht der Unterschiedlichkeit der Charaktere !


    Genau das hat mir mit am besten gefallen. Denn wenn in Büchern ein Perspektivwechsel stattfindet, ändern die meisten Autoren nicht den Schreibstil und daher ist dem Autor ein wirklich geschickter Kunstgriff gelungen.


    Und dazu noch der Humor und der gute Plot, hier wurde der Buchpreis zu Recht vergeben. :thumleft:

    :study: Jeder Tag, an dem ich nicht lesen kann, ist für mich ein verlorener Tag!

  • Die Handlung des Romans ist in den vorangegangenen Beiträgen sehr gut beschrieben worden, insbesondere von „Karthause“ zu Beginn dieses Threads. Trotzdem möchte ich, da ich erst gestern den Buchdeckel zugeklappt und das Ganze noch frisch im Gedächtnis habe, auf einen Aspekt hinweisen, der meines Erachtens ganz wichtig und durch Eugen Ruge sehr gut herarausgearbeitet worden ist, nämlich die Identifikation der Generationen mit der Idee des Sozialismus.


  • Handlung
    Für Alexander Umnitzer gibt es nur noch ein Ziel: Mexiko. Das Land, in das seine Großeltern, beide bekennende Kommunisten, während des Nationalsozialismus flüchten mussten und lange Jahre im Exil gelebt haben. Seit Alexander weiß, dass sein Tumor inoperabel ist und sein Leben nicht mehr lange dauert, beginnt er darüber nachzudenken, wie das eigentlich war, sein Leben. Ruhelos wie er ist, lässt er seinen demenzkranken Vater Kurt genauso zurück wie seinen Sohn Markus - zu dem er sowieso keinen Kontakt mehr hat - und spürt seinen Wurzeln nach.
    Die Geschichte auf diesen Grundstein aufgebaut und erzählt dann durch verschiedene Zeitsprünge und Perspektivwechsel die Lebensumstände von Charlotte und Wilhelm, Charlottes Sohn Kurt und dessen Frau Irina, beider Sohn Alexander und schließlich ausblickhaft wiederum von dessen Sohn Markus.
    Parallel dazu läuft stetig die politische Ebene: während Charlotte und Wilhelm noch begeisterte Anhänger der kommunistischen Ideologie waren und die Idee eines solchen Staates tatkräftig unterstützten, ist Kurt schon von der diktatorisch erbauten DDR nicht mehr überzeugt und in Alexander manifestiert sich dann die radikale Ablehnung dieses Systems und der verlorene Glaube an einen realisierbaren Sozialismus. Für Markus dann, dessen Jugend schon in der Zeit nach dem Mauerfall stattfindet, ist die DDR nur noch eine blasse Erinnerung.


    Meine Meinung
    Wo liegen die Gründe dafür, dass in der Gegenwart alles so ist, wie es eben ist? Diese Frage stellt der Text am Beispiel der wachsenden Entfremdung einer Familie und dem gegenübergestellten Zerfall eines Staatssystems. 4 Generationen sind von den Gedanken des Kommunismus' und der DDR geprägt und entwickeln den veränderten Umständen entsprechend teilweise so extreme Positionen, dass eine Entfremdung unausweichlich wird.


    Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sondern springt immer zwischen den einzelnen Generationen hin und her. Dabei ist der 90. Geburtstag von Wilhelm, der von jeder der agierenden Figuren besucht wird, Dreh- und Angelpunkt. Diese Szene wird deshalb wiederholt immer wieder aus der Sicht der einzelnen Charaktere geschildert. Dabei kommt trotz dieser Wiederholung in keiner Weise Langeweile auf - im Gegenteil hat jede Episode eine ganz eigene Note, weil zu jeder Person ein ausreflektierter Charakter und ein individuelles Bewusstsein entworfen wird und man sich in den einzelnen Momenten deshalb immer mit ihnen identifizieren kann. Selbst, wenn im vorhergehenden Kapitel die Sympathien nicht bei dieser Figur lagen. Vor allem wird jedes Mal deutlicher, wie tragisch banal manche Missverständnisse zwischen den einzelnen Figuren sind und wie dadurch trotzdem die Entfremdung der Familie weiter vorangetrieben wird.


    Es finden sich viele Bezüge zur Realgeschichte; nicht nur politische Ereignisse spielen eine Rolle, sondern auch literarische Referenzen (zum Beispiel auf George Orwells Roman 1984 - und dieser Vergleich liegt bei der Staatsform der DDR ja auch nahe) liegen vor. Der Lebensalltag wird in jeder Zeit authentisch dargestellt und kritisch reflektiert.


    Mit am meisten beeindruckt hat mich die Sprache, die Ruge verwendet hat. Sie ist zum einen in jedem Kapitel auf die handelnde Figur abgestimmt, behält aber den charakteristischen sachlichen und trotzdem erzählerischen Stil und vor allem einen angenehmen Wortwitz bei.
    Eine Verbindung zum Titel lässt sich auf verschiedenen Ebenen herstellen: zum einen spielen die meisten Szenen im Herbst, wenn die Tage kürzer werden und der Sommer endet. Und auch auf das Ende der DDR läuft alles hinaus, ebenso wie auf das Ende der Familienverbundenheit. Auch wenn die Familie meiner Meinung nach nicht wirklich "verfällt" - also von einem eng verbunden Kollektiv her aufgelöst wird - sondern aus einer ohnehin schon lose angelegten Gemeinschaft endgültig getrennte Wege gehen.


    Ein wirklich sehr sehr lesenswertes Buch, das mir nicht nur schöne Lesestunden beschert, sondern mich auch wirklich nachdenklich und vor allem beeindruckt zurückgelassen hat. :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

  • Nachdem ich das Buch "Follower" (chronologisch spielt es nach diesem hier, und der Protagonist ist, so weit ich weiß, der Enkel Alexanders) im "Ich lese gerade" - Thread negativ beurteilt habe, muss ich nun doch noch meinen Hut vor Eugen Ruge ziehen.


    Diese Buch hier sprüht vor Sprachwitz. Ruges Empathie mit seinen Charakteren erkennt man daran, dass die Kapitel wirklich so wirken, als würden die handelnden Personen selbst erzählen und nicht ein allwissender Erzähler. Der Autor gibt die Gefühls- und Gedankenwelt des kleinen Alexander ebenso authentisch wieder wie die seiner Großmutter Nadeshda, die im Zimmer des Hauses ihrer Tochter wie in einer anderen Welt "gefangen" ist.
    Dies waren auch die beiden Kapitel, die mir am besten gefallen haben.
    Diese Authentizität ist mir persönlich sehr wichtig. Ich habe eine Abneigung gegen Bücher, in denen Kinder daher reden wie kleine Erwachsene.


    Erstaunlich ist, dass dies für mich das erste Buch war, das ich über die früheren DDR-Zeiten gelesen habe, obwohl es vor einigen Jahren eine regelrechte Flut solcher Romane gab. Mir hat Ruge diese Atmosphäre nahe bringen können, verbunden mit der Erkenntnis (was andere hier schon bemerkten), dass hüben wie drüben auch jeder seine ähnlichen Alltagsgeschichten erlebt hat.
    4,5 Sterne von mir.

  • Was mich an dem Buch beeindruckt, ist die Tatsache, dass Eugen Ruge niemals urteilt. Die Episode des 90. Geburtstages seines Stief-Großvaters wird mehrmals geschildert, jeweils aus einer anderen Perspektive. Und jedesmal gesteht er dem jeweiligen "Erzähler" zu, dass seine Wahrheit möglicherweise die richtige ist. Aber Ruge weiß, dass es weniger die Wahrheit ist, die Menschen schildern, sondern immer nur Wahrnehmungen. Wahrnehmungen, die sich noch dazu über die Jahre oder Jahrzehnte hinweg verändern, bis der Kern des Erlebten oder Wahrgenommenen nur noch ein Trugbild zu sein scheint. Dadurch kann etwas Neues, Vages entstehen, das z. B. aus einem feigen Beobachter einen wichtigen Handelnden werden lässt, der mit einer zentralen historischen Lichtgestalt wie Liebknecht im Beiwagen Motorrad gefahren ist und die DDR mitbegründet hat.

    Durch einen derart souverän erzählten Roman lerne ich mehr über die frühere DDR als durch jedes der vielen Sachbücher, die ich zu dem Thema gelesen habe. Was diese Wirkung betrifft, erinnert er mich an "Der Turm" von Uwe Tellkamp, dem Wenderoman schlechthin - wie ich finde. Nur dass der sperriger zu lesen ist, aber nicht weniger brillant.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous