Alfred Mignon - Was man nicht sieht

  • Sind wir blind, wenn wir nicht sehen?


    Unter dem Titel „Was man nicht sieht“ hat Alfred Mignon eine Sammlung von Kurzgeschichten von 57 Autoren herausgebracht. Meine erster Gedanke war: Wenn nicht jeder über dasselbe geschrieben hat, würde ich nun von 57 Dingen erfahren werde, die ich nicht sehen kann. Mir fiel spontan der Wind ein. Und ja: Auch Gedanken, Musik, Aromen und Duftstoffe kann ich nicht sehen.


    Arthur Winter: Ostersonntag


    Ich war überrascht, dass die erste Kurzgeschichte („Ostersonntag“) dann tatsächlich meine Vermutungen bestätigte: Sie beginnt mit einem sehr romantischen Sonnenaufgang, beschreibt die Streicheleinheiten des Windes, der vom Berg herab gleitet, sanft die Wiese streicht und dabei den Duft der Blumen und Kräuter aufnimmt. Dann aber schließt der Autor seine Augen mit den Worten: „Warum bin ich eigentlich hier?“ Damit beginnt eine sehr intensive Begegnung mit zwei Menschen, denen sich der Autor nur im Traum nähern kann.


    Sabrina Kowsky: Blumenbruder


    Sehr tiefsinnig ist die Kurzgeschichte „Blumenbruder“: sehr guter Erzählstil, die Handlung macht neugierig und schließt mit einer schönen Pointe. Sie handelt von einem kleinen Mädchen, das in der Nähe eines Spielplatzes unermüdlich Blumen pflückt. Ein Priester sitzt auf der Wiese, sieht ihr zu und fragt sie schließlich, warum sie so viele Blumen pflücke. „Ich muss sie sammeln [...] für meinen kleinen Bruder“, bekommt er zur Antwort und nun entsteht ein sehr schöner Dialog über Gott, den Himmel und den kleinen Bruder, der keine Blumen mehr bewundern kann.


    Peter Suska-Zerbes: Zehn Gebote


    Sehr angetan war ich von dem humorvollen, frechen Erzählstil in der Geschichte „Zehn Gebote“. Ich habe mich köstlich amüsiert über den neunjährigen Jungen, der seine Eltern mit seinen kecken Fragen über die zehn Gebote ganz schön auf Trapp hält, ja: beinahe bekommen sich Vater und Mutter sogar in die Wolle.


    Resümee:


    Mir persönlich hätte es noch gut gefallen, wenn die Autoren etwas mehr in den Vordergrund gerückt wären. Vielleicht haben einige Autoren schon andere Werke veröffentlicht oder Preise gewonnen? Peter Suska-Zerbes zum Beispiel ist mit seinen Werken bereits in zahlreichen Anthologie vertreten.


    Die Kurzgeschichten haben ganz unterschiedliche Ausprägungen, sie sind mal futuristisch, mal religiös. Mal handelt es sich um eine scheinbar wahre Begebenheit, mal um eine lehrreiche Fabel. Meist sind es Schicksalsschläge, welche die Autoren zu den zahlreichen Lebensfragen drängen,
    die sie in ihren Geschichten an Gott stellen: Warum glauben wir an Gott? Und was glaubt man, wenn man nichts glaubt? Kann denn ein Gott, der Leid zulässt, gerecht sein? Wieso lässt Gott überhaupt zu, dass sich Menschen einander bekriegen? Wenn wir eine Aufgabe in unserem Leben haben, wie werden wir ihr dann gerecht? Was ist uns zum Beispiel im Leben wichtig? Leben wir nach Werten, die es wert sind, uns zu überleben?
    Und: Warum müssen wir überhaupt sterben?


    Es war der Anspruch dieses Buches, Gott auf verschiedenen Wegen zu begegnen, um ihm diese schwierigen Fragen zu stellen. Es würde im Grunde genügen, nur eine einzige Frage an Gott zu richten: „Warum?“ Gott würde dann vielleicht lächeln und antworten: „Warum nicht?“ - Nun, vielleicht weil wir blind sind, obwohl wir sehen.


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